In "Herrn Arnes Schatz" entführt Selma Lagerlöf die Leser in das Schweden des 16. Jahrhunderts, wo eine fesselnde Geschichte von Gier, Verrat und Rache entfaltet wird. Der historische Kriminalroman basiert auf wahren Begebenheiten und steckt voller lebendiger Beschreibungen der schwedischen Landschaft sowie tiefer Einblicke in die damalige Gesellschaftsstruktur. Lagerlöfs feinsinniger literarischer Stil kombiniert mit einer packenden Erzählweise schafft eine Atmosphäre, die sowohl Spannung als auch historische Authentizität vermittelt. Die Kombination aus persönlichen Schicksalen und historischen Gegebenheiten verleiht dem Werk eine besondere Tiefe und lässt die Leser in die komplexe Moralität der Charaktere eintauchen. Selma Lagerlöf, die erste Frau, die den Literaturnobelpreis erhielt, war nicht nur eine bedeutende Schriftstellerin, sondern auch eine engagierte Sozialreformerin. Ihre eigene Biografie, geprägt von tiefen persönlichen Erfahrungen und einem starken Bezug zur schwedischen Kultur, spiegelt sich in ihren Werken wider. "Herrn Arnes Schatz" entstand in einer Zeit, als Lagerlöf das Ziel verfolgte, das reiche Erbe ihrer Heimat durch spannende Geschichten lebendig zu halten. Ihr einzigartiger Blick auf die menschliche Psyche und historische Kontexte ist zentral für dieses Werk. Dieses Buch ist nicht nur für Liebhaber historischer Kriminalromane von Bedeutung, sondern bietet auch ein vielschichtiges Porträt einer Ära, die von Konflikten und Geheimnissen geprägt ist. Leser, die sich für spannende Erzählungen mit einer starken Verbindung zur Geschichte interessieren, werden von Lagerlöfs meisterhaftem Geschichtenerzählen begeistert sein. "Herrn Arnes Schatz" ist ein unverzichtbarer Klassiker, der sowohl unterhält als auch zum Nachdenken anregt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2019Und wenn er sich nun bessern will?
Verbrechen und Strafe: "Herrn Arnes Schatz" von Selma Lagerlöf stellt die Frage, was die Toten von uns Lebenden erwarten. Roberta Bergmann illustriert die Erzählung mit Einfühlung und Mut zu einer eigenen Antwort.
Der Hund hat es gewusst, sein Jaulen war eigentlich unabweisbar, und dass sein Herr, der arme Fischhändler Torarin, trotz der offensichtlichen Warnung seines Begleiters der nächtlichen Einladung des Pferdeknechts Olof Folge leistet, ist erstaunlich mutig. "Komm doch in die Stube", sagt Olof, "Herr Arne erwartet dich." Nur dass Torarin sehr gut weiß, dass alle tot sind, die noch vor einer Woche hier gelebt haben, Herr Arne, dessen Frau und alle Diener, natürlich auch Olof, der damals "mit einer klaffenden Wunde am Hals neben den anderen Leichen im Schnee gelegen" hatte.
Torarin also tritt ein in die Stube von Herrn Arnes Pfarrhof Solberga, wo es kürzlich noch gebrannt hatte und drei Raubmörder alles niedergemetzelt hatten, was ihnen vor die Messer kam. Er steht vor der großen Tafel, genau wie damals, als er kurz vor dem Überfall bei Herrn Arne zu Besuch gewesen war. Er sieht den alten, reichen Mann, neben ihm seine Frau und der Hilfspfarrer, die Knechte und Mägde und schließlich Herrn Arnes vierzehnjährige Enkelin. Ob denn die Mörder nun bestraft würden, will der Pfarrer von Torarin wissen. Nein, antwortet der, schließlich seien die drei Männer doch ausweislich der Spuren ihres Schlittens auf das gefrorene Meer hinaus gefahren, eingebrochen und ertrunken. Herr Arne lässt das nicht gelten und fragt noch zweimal, ob die Lebenden ihn und die Seinen rächen würden. Als Torarin dies zum dritten Mal verneint hat, beginnt Herr Arne unter den Toten ein grausiges Abzählen zum lateinischen Vaterunser. Am Ende zeigt sein Finger auf die Enkelin. "Du weißt, was du zu tun hast", sagt er.
Die Erzählung "Herrn Arnes Schatz", erschienen 1904, gehört zu den reifsten und abgründigsten Werken Selma Lagerlöfs. Die Autorin, geboren 1858 im schwedischen Marbacka, starb 1940 ebendort, und den zweiten Lebensabschnitt auf dem Gut am Rande des Frykensees hat sie sich hart erkämpft. Ihr Vater, ein Alkoholiker, hatte das Gut heruntergebracht, es musste verkauft werden, und Selma Lagerlöf, die eigentlich als Lehrerin ausgebildet worden war, konnte es sich erst durch ihre Erfolge als Schriftstellerin - 1909 bekam sie als erste Frau den Literaturnobelpreis - leisten, das Gut zurückzukaufen, zu betreiben und auszubauen. Mit Dämonen kannte sie sich also aus, und wer ihr Jugendwerk "Gösta Berling" von 1891 liest, neben "Nils Holgersson" ihr bekanntestes Buch, der trifft sie an allen Ecken an, und dass am Ende die dämonisch schillernde Teufelsgestalt die eingangs abgeschlossene Wette verliert und seine Macht einzubüßen scheint, ist allenfalls ein vorübergehender Sieg. Als Autorin von psychologischen Gruselgeschichten, etwa der prächtigen "Geisterhand", wäre Lagerlöf zumindest in Deutschland noch zu entdecken.
"Herrn Arnes Schatz" setzt mit dem von allerlei Vorahnungen begleiteten Verbrechen ein, konzentriert sich aber schon bald auf die Strafe für die Mörder. Dass man als Leser sehr rasch versteht, dass die drei vornehm gewandeten schottischen Soldaten, die im Küstenort auf das Aufbrechen des Eises und die Gelegenheit zur Rückfahrt in die Heimat warten, die Raubmörder sind, die also mitnichten im Eis eingebrochen waren und nun den titelgebenden Silberschatz aus Herrn Arnes Truhe ausgeben, ist durchaus beabsichtigt - der Schrecken dieses Buches speist sich ja gerade aus dem Offensichtlichen und dem Mahlwerk der Sühne, das sich rumpelnd in Bewegung setzt.
Mittendrin aber steckt die junge Elsabill, ein Waisenmädchen, einst die beste Freundin der ermordeten Enkelin des Pfarrers und nur durch einen glücklichen Zufall dem Morden entkommen. Versteckt hinter dem Ofen, erlebte sie, wie die Männer ihre Freundin trotz deren Flehens umbrachten, um keine Zeugen zu hinterlassen. Niemand also kann die Grausamkeit der Männer so genau einschätzen wie Elsabill. Nur dass sie sich in einen der Schotten, genannt Sir Archie, verliebt, noch bevor sie ihn als einen der Mörder wiedererkennt. Dann gibt sie sich dem Traum hin, Sir Archie werde sie mit sich nach Schottland nehmen und seine Taten bereuen.
"Beim Erwachen am Morgen dachte Elsabill, dass es in jedem Fall besser wäre, wenn ein Verbrecher sich zum Besseren bekehrte und nach Gotte Gebot lebte, als dass er bestraft und getötet wurde" - wer würde da widersprechen? Niemand außer denjenigen, die zuvor ums Leben gebracht worden sind, allen voran Elsabills Spielgefährtin, und deren Widerspruch ist meist wortlos, aber darin umso beredter - ihre blutigen Fußspuren im Schnee, ihr Weinen in der Kirchenbank, das nur Elsabill hört, und die Frage, wessen Interessen nun eigentlich mehr wiegen, die der Lebenden oder die der Toten, durchzieht den gesamten Text.
Roberta Bergmann hat sich seiner angenommen und ihn mit zahlreichen ganz- oder gar doppelseitigen Bildern versehen. Mit ihren starken Konturen und den durchscheinenden Flächen betont sie die Auftritte der Geister, ihre Hintergründe sind schlicht, aber wirkungsvoll, besonders die Winterlandschaften gewinnen eine Wucht, der die Handelnden nicht viel entgegenzusetzen haben. Die von Bild zu Bild, selten aber innerhalb der einzelnen Bilder variierten Farben verstärken das noch, so dass die Frage, welche Möglichkeit dem Einzelnen bleibt, sich gegen das Schicksal zu stemmen, auch auf der Ebene der Illustrationen gestellt wird.
Aber was bleibt Elsabill für eine Wahl? Hin- und hergerissen zwischen dem Mitgefühl für ihre ermordete Freundin und deren Leid einerseits und ihrer Liebe zu Sir Archie andererseits versucht sie schließlich, beidem gerecht zu werden: Sie verrät ihn, hofft aber zugleich, dass man sie dabei nicht ernst nimmt, und sie warnt ihn, er möge doch im letzten Moment fliehen. Dass das nicht gutgehen kann, ist wiederum keine Überraschung, wobei es Lagerlöf auf Überraschungen aber auch gar nicht anlegt.
So entwirft sie die Geschichte eines unausweichlichen Ablaufs, in dem es dem Einzelnen nur bleibt, sich zu fügen. Roberta Bergmann aber fügt mit ihrem Schlusstableau eine eigene Deutung hinzu. Die Toten haben erreicht, was sie wollten, die Mörder sind gestellt und werden ihrer Strafe nicht entgehen. Sie aber haben sich um das Werkzeug dieses Rachefeldzugs versammelt, auf ihren Gesichtern steht kein Triumph, nicht einmal Zufriedenheit. Was geschehen musste, ist geschehen, aber die moralischen Kosten waren hoch, und die Illustratorin scheint die Frage, die Lagerlöf stellt, ob es die Sache nämlich wert war, mit ihrem Bild zu beantworten. Und bringt so das von der Autorin in Gang gesetzte Räderwerk zum Stehen.
TILMAN SPRECKELSEN.
Selma Lagerlöf: "Herrn Arnes Schatz".
Illustriert von Roberta Bergmann. Aus dem Schwedischen von Maike Dörries. Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2019. 132 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verbrechen und Strafe: "Herrn Arnes Schatz" von Selma Lagerlöf stellt die Frage, was die Toten von uns Lebenden erwarten. Roberta Bergmann illustriert die Erzählung mit Einfühlung und Mut zu einer eigenen Antwort.
Der Hund hat es gewusst, sein Jaulen war eigentlich unabweisbar, und dass sein Herr, der arme Fischhändler Torarin, trotz der offensichtlichen Warnung seines Begleiters der nächtlichen Einladung des Pferdeknechts Olof Folge leistet, ist erstaunlich mutig. "Komm doch in die Stube", sagt Olof, "Herr Arne erwartet dich." Nur dass Torarin sehr gut weiß, dass alle tot sind, die noch vor einer Woche hier gelebt haben, Herr Arne, dessen Frau und alle Diener, natürlich auch Olof, der damals "mit einer klaffenden Wunde am Hals neben den anderen Leichen im Schnee gelegen" hatte.
Torarin also tritt ein in die Stube von Herrn Arnes Pfarrhof Solberga, wo es kürzlich noch gebrannt hatte und drei Raubmörder alles niedergemetzelt hatten, was ihnen vor die Messer kam. Er steht vor der großen Tafel, genau wie damals, als er kurz vor dem Überfall bei Herrn Arne zu Besuch gewesen war. Er sieht den alten, reichen Mann, neben ihm seine Frau und der Hilfspfarrer, die Knechte und Mägde und schließlich Herrn Arnes vierzehnjährige Enkelin. Ob denn die Mörder nun bestraft würden, will der Pfarrer von Torarin wissen. Nein, antwortet der, schließlich seien die drei Männer doch ausweislich der Spuren ihres Schlittens auf das gefrorene Meer hinaus gefahren, eingebrochen und ertrunken. Herr Arne lässt das nicht gelten und fragt noch zweimal, ob die Lebenden ihn und die Seinen rächen würden. Als Torarin dies zum dritten Mal verneint hat, beginnt Herr Arne unter den Toten ein grausiges Abzählen zum lateinischen Vaterunser. Am Ende zeigt sein Finger auf die Enkelin. "Du weißt, was du zu tun hast", sagt er.
Die Erzählung "Herrn Arnes Schatz", erschienen 1904, gehört zu den reifsten und abgründigsten Werken Selma Lagerlöfs. Die Autorin, geboren 1858 im schwedischen Marbacka, starb 1940 ebendort, und den zweiten Lebensabschnitt auf dem Gut am Rande des Frykensees hat sie sich hart erkämpft. Ihr Vater, ein Alkoholiker, hatte das Gut heruntergebracht, es musste verkauft werden, und Selma Lagerlöf, die eigentlich als Lehrerin ausgebildet worden war, konnte es sich erst durch ihre Erfolge als Schriftstellerin - 1909 bekam sie als erste Frau den Literaturnobelpreis - leisten, das Gut zurückzukaufen, zu betreiben und auszubauen. Mit Dämonen kannte sie sich also aus, und wer ihr Jugendwerk "Gösta Berling" von 1891 liest, neben "Nils Holgersson" ihr bekanntestes Buch, der trifft sie an allen Ecken an, und dass am Ende die dämonisch schillernde Teufelsgestalt die eingangs abgeschlossene Wette verliert und seine Macht einzubüßen scheint, ist allenfalls ein vorübergehender Sieg. Als Autorin von psychologischen Gruselgeschichten, etwa der prächtigen "Geisterhand", wäre Lagerlöf zumindest in Deutschland noch zu entdecken.
"Herrn Arnes Schatz" setzt mit dem von allerlei Vorahnungen begleiteten Verbrechen ein, konzentriert sich aber schon bald auf die Strafe für die Mörder. Dass man als Leser sehr rasch versteht, dass die drei vornehm gewandeten schottischen Soldaten, die im Küstenort auf das Aufbrechen des Eises und die Gelegenheit zur Rückfahrt in die Heimat warten, die Raubmörder sind, die also mitnichten im Eis eingebrochen waren und nun den titelgebenden Silberschatz aus Herrn Arnes Truhe ausgeben, ist durchaus beabsichtigt - der Schrecken dieses Buches speist sich ja gerade aus dem Offensichtlichen und dem Mahlwerk der Sühne, das sich rumpelnd in Bewegung setzt.
Mittendrin aber steckt die junge Elsabill, ein Waisenmädchen, einst die beste Freundin der ermordeten Enkelin des Pfarrers und nur durch einen glücklichen Zufall dem Morden entkommen. Versteckt hinter dem Ofen, erlebte sie, wie die Männer ihre Freundin trotz deren Flehens umbrachten, um keine Zeugen zu hinterlassen. Niemand also kann die Grausamkeit der Männer so genau einschätzen wie Elsabill. Nur dass sie sich in einen der Schotten, genannt Sir Archie, verliebt, noch bevor sie ihn als einen der Mörder wiedererkennt. Dann gibt sie sich dem Traum hin, Sir Archie werde sie mit sich nach Schottland nehmen und seine Taten bereuen.
"Beim Erwachen am Morgen dachte Elsabill, dass es in jedem Fall besser wäre, wenn ein Verbrecher sich zum Besseren bekehrte und nach Gotte Gebot lebte, als dass er bestraft und getötet wurde" - wer würde da widersprechen? Niemand außer denjenigen, die zuvor ums Leben gebracht worden sind, allen voran Elsabills Spielgefährtin, und deren Widerspruch ist meist wortlos, aber darin umso beredter - ihre blutigen Fußspuren im Schnee, ihr Weinen in der Kirchenbank, das nur Elsabill hört, und die Frage, wessen Interessen nun eigentlich mehr wiegen, die der Lebenden oder die der Toten, durchzieht den gesamten Text.
Roberta Bergmann hat sich seiner angenommen und ihn mit zahlreichen ganz- oder gar doppelseitigen Bildern versehen. Mit ihren starken Konturen und den durchscheinenden Flächen betont sie die Auftritte der Geister, ihre Hintergründe sind schlicht, aber wirkungsvoll, besonders die Winterlandschaften gewinnen eine Wucht, der die Handelnden nicht viel entgegenzusetzen haben. Die von Bild zu Bild, selten aber innerhalb der einzelnen Bilder variierten Farben verstärken das noch, so dass die Frage, welche Möglichkeit dem Einzelnen bleibt, sich gegen das Schicksal zu stemmen, auch auf der Ebene der Illustrationen gestellt wird.
Aber was bleibt Elsabill für eine Wahl? Hin- und hergerissen zwischen dem Mitgefühl für ihre ermordete Freundin und deren Leid einerseits und ihrer Liebe zu Sir Archie andererseits versucht sie schließlich, beidem gerecht zu werden: Sie verrät ihn, hofft aber zugleich, dass man sie dabei nicht ernst nimmt, und sie warnt ihn, er möge doch im letzten Moment fliehen. Dass das nicht gutgehen kann, ist wiederum keine Überraschung, wobei es Lagerlöf auf Überraschungen aber auch gar nicht anlegt.
So entwirft sie die Geschichte eines unausweichlichen Ablaufs, in dem es dem Einzelnen nur bleibt, sich zu fügen. Roberta Bergmann aber fügt mit ihrem Schlusstableau eine eigene Deutung hinzu. Die Toten haben erreicht, was sie wollten, die Mörder sind gestellt und werden ihrer Strafe nicht entgehen. Sie aber haben sich um das Werkzeug dieses Rachefeldzugs versammelt, auf ihren Gesichtern steht kein Triumph, nicht einmal Zufriedenheit. Was geschehen musste, ist geschehen, aber die moralischen Kosten waren hoch, und die Illustratorin scheint die Frage, die Lagerlöf stellt, ob es die Sache nämlich wert war, mit ihrem Bild zu beantworten. Und bringt so das von der Autorin in Gang gesetzte Räderwerk zum Stehen.
TILMAN SPRECKELSEN.
Selma Lagerlöf: "Herrn Arnes Schatz".
Illustriert von Roberta Bergmann. Aus dem Schwedischen von Maike Dörries. Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2019. 132 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main