Der Roman erzählt die Geschichte Max Brechers, der in einem Berliner Medienkonzern arbeitet, in einem langsamen, unwiderruflichen Prozess an den Rand gedrängt wird und schließlich sein Fiasko erlebt. Er lebt wie alle anderen im Büro, er trägt "weiße Gamaschen und die Hosen tipp-topp gebügelt", verfertigt Parolen und Prospekte in der Werbeabteilung der UVAG, der "Universalen Vermittlungs-Actien-Gesellschaft".
Das Büro ist das Zentrum des Romans, in dem ein bemerkenswertes Personal aufeinandertrifft: zuerst das dissonante Freundespaar Max Brecher und Dr. Geist, dann die in Menschlichkeit dilettierende Gudula Öften, ihre extreme Schicksalsgefährtin, die verwitwete Frau Geheimrat Schöpps, deren kapriziöse Tochter Mucki, die allzu tüchtige Lisa Frieske, der Bürokavalier Coty oder der Buchhalter Tadewaldt, der imstande ist, im Schlaf zu addieren, die beiden "Windlichter" Perdelwitz und Fräulein Hückstedt sowie der Lehrling Rüland, der sich zum Jünger Max Brechers entwickelt.
Alle erkennen wir wieder: es sind typische Gestalten unserer Bürowelt, der "sitzenden Lebensweise", Angestellte in der Normalität der Arbeitswelt, in der Anonymität des Großstadtlebens.
Der Roman spielt in Berlin, er ist der Roman Berlins, der in einzigartiger Weise die Atmosphäre und Innenansicht der Metropole darstellt.
Martin Kessels Roman besticht durch seine Genauigkeit in der Schilderung wie durch seinen Humor, das Buch ist ein Netzwerk von Geschehnissen, eine Folge von atemlosen Ereignissen, schreiendem Lärm und boshaftem Geflüster der Straßen, dem Hoffnungsgemurmel und den Verzagtheiten der Bewohner, angefüllt mit Lichtern, Lauten, Witzen, trivialem Kram, Monologen und spitzzüngigen Wechselreden.
Das Büro ist das Zentrum des Romans, in dem ein bemerkenswertes Personal aufeinandertrifft: zuerst das dissonante Freundespaar Max Brecher und Dr. Geist, dann die in Menschlichkeit dilettierende Gudula Öften, ihre extreme Schicksalsgefährtin, die verwitwete Frau Geheimrat Schöpps, deren kapriziöse Tochter Mucki, die allzu tüchtige Lisa Frieske, der Bürokavalier Coty oder der Buchhalter Tadewaldt, der imstande ist, im Schlaf zu addieren, die beiden "Windlichter" Perdelwitz und Fräulein Hückstedt sowie der Lehrling Rüland, der sich zum Jünger Max Brechers entwickelt.
Alle erkennen wir wieder: es sind typische Gestalten unserer Bürowelt, der "sitzenden Lebensweise", Angestellte in der Normalität der Arbeitswelt, in der Anonymität des Großstadtlebens.
Der Roman spielt in Berlin, er ist der Roman Berlins, der in einzigartiger Weise die Atmosphäre und Innenansicht der Metropole darstellt.
Martin Kessels Roman besticht durch seine Genauigkeit in der Schilderung wie durch seinen Humor, das Buch ist ein Netzwerk von Geschehnissen, eine Folge von atemlosen Ereignissen, schreiendem Lärm und boshaftem Geflüster der Straßen, dem Hoffnungsgemurmel und den Verzagtheiten der Bewohner, angefüllt mit Lichtern, Lauten, Witzen, trivialem Kram, Monologen und spitzzüngigen Wechselreden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Auch das Sitzfleisch braucht eine Pause
Wieder da: Martin Kessels Berlin-Roman "Herrn Brechers Fiasko" / Von Lothar Müller
Aus dem Vogtland war Martin Kessel in die großen Städte gegangen, nach Berlin, München, Frankfurt. Weiträumig war er im Büchermeer gekreuzt und hatte 1925 über die Novellentechnik Thomas Manns promoviert. Da war er vierundzwanzig. Ein Jahr später erhielt er den Kleist-Preis für seine Gedichtsammlung "Gebändigte Kurven". Er veröffentlichte auch Erzählungen über das Leben in großen Städten. Die beiden anderen ließen den jungen Mann wieder los, die eine nicht: Berlin. Er warf sich der Hauptstadt nicht an den Hals, und er nahm sie nicht auf die leichte Schulter. Er nahm es mit ihr auf. Seit den späten zwanziger Jahren arbeitete er an dem großen Roman, in dem er sich mit ihr messen wollte. Revuen, Bars und kühle Gesten waren große Mode. Man war gerne sachlich, illusionslos, zynisch. Als die große Krise kam, arbeitete Kessel immer noch an seinem Roman. Als er fertig war, sahen die Plakate, auf denen die "Neue Sachlichkeit" Reklame machte, schon etwas abgeblättert aus.
Erich Ohser, in Plauen aufgewachsen wie Martin Kessel, hatte auf den Umschlag einen Männerkopf mit scharfen Zügen und skeptischen Augen hinter einer randlosen Brille gezeichnet. Autorname und Titel waren darüber wie eine verrutschte Schlagzeile gedruckt, abschüssig wie die Karriere des Helden. Als "Herrn Brechers Fiasko" Ende 1932 in der Deutschen Verlagsanstalt erschien, hatte die Krise von der Weimarer Republik nicht mehr viel übrig gelassen. In der Zukunft, die dann anbrach, konnte dieses Buch nur untergehen, wie sein Held.
Martin Kessel hat Nationalsozialismus und Krieg überlebt. Zweimal hat er danach "Herrn Brechers Fiasko" wieder auftauchen und untergehen sehen, 1956 in der Neuauflage bei Suhrkamp, 1978 als Taschenbuch im selben Verlag. Als er im April 1990 im wiedervereinigten Berlin starb, war sein erster Roman längst wieder vergriffen. Jetzt ist er wieder da, in einer Zeit, die wahrlich keinen Mangel leidet an Berlin-Romanen. Dieser hier betrachtet die Selbstinszenierungen der Metropole mit äußerstem Mißtrauen. Mit traurigem Witz zieht er die Summe seiner Zeit.
Zu Beginn treten Max Brecher und sein Freund, Doktor Geist, nach Büroschluß auf die Friedrichstraße. Wie auf einem unsichtbaren Förderband gleiten sie plaudernd dahin und landen in einem Lokal am Potsdamer Platz. Aus Angestellten werden Passanten, aus Passanten Konsumenten, aus den Freunden einige hundert Seiten später Feinde und Konkurrenten. Büro, Straße, Vergnügungsetablissement und Karrieren arbeiten in einem gut geölten Mechanismus einander zu. Die Mythologie des Großstadt-Dschungels und die apokalyptischen Bilder der Hure Babylon sind in diesem Roman ausrangiert. Er wählt sich ein sehr prosaisches Modell für die Darstellung der Großstadt: den Betrieb.
Zentraler Schauplatz ist die imaginäre UVAG, die "Universale Vermittlungs-Aktiengesellschaft". Sie hat ihren Sitz in der Friedrichstadt und ist hochmodern nicht zuletzt darin, daß sie nichts produziert. Wie das Geld selbst ist sie ein Medium der Zirkulationsbeschleunigung, ein Unternehmen unspezialisierter Dienstleistung. Hier arbeiten die Figuren des Romans. Sie gehören nicht zur Verwaltung einer Fabrik, sondern zur Werbeabteilung eines weit gefächerten Medienkonzerns, zur Abteilung "Popaganda". Zu den Aufgaben Max Brechers gehört der Entwurf von Prospekten, die eine Wohnung nicht lediglich als Immobilie, sondern als Lebensstil verkaufen.
Während Martin Kessel an seinem Roman schrieb, las er Siegfried Kracauers Artikelserie "Die Angestellten" (1929). Kracauer hatte einen Personalchef von der "moralisch-rosa Hautfarbe" des idealen Angestellten sprechen lassen und die Freizeit unter das Motto "Zwanglos mit Niveau" gestellt. Dieser analytischen Prägnanz steht Kessel in seinen essayistischen Einlagen etwa über die Pause oder die Bürotoilette als Ort von Klatsch und Tratsch nicht nach. Wie in einen Kokon spinnt Kessel seine Figuren in das endlose Bürogespräch ein: "man löste die Ereignisse in lauter Gesprächsstoffe auf." Vorbild für diese Mikrologie der Pointen und Bosheiten, der eleganten Aphorismen und privatsprachlich neckischen Albernheiten ist Laurence Sterne, der über seinen "Tristram Shandy" den Satz des Epiktet setzte: "Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge." Wie in Kessels Erzählerstimme der Essay den Roman unterwandert, so kommentiert eher die Handlung das endlose Gespräch als umgekehrt.
Max Brecher und seine Kollegen sind nicht nur mit den Angestellten Kracauers verwandt. Sie sind Angestellte, die Kracauer gelesen haben: "Coty hatte eine Bemerkung über die fatale Position der Angestellten fallenlassen, einer Schicht, die zwischen Gesellschaft und Masse ein illusionäres Dasein führe, und Rüland hatte einfach gesagt: ,Arbeiter sind wir, Abteilung Sitzfleisch.'" Max Brecher und sein Freund Geist sind in diesem Universum nutzlos flottierender Erkenntnisse die rechten Protagonisten: verkrachte Akademiker, denen noch die Reste des Philosophie-Seminars im Kopfe spuken. Sie sind umgeben von unscheinbaren Buchhaltern und auftrumpfenden Lebemännern, von Töchtern aus ehemals besserem Hause und Stenotypistinnen, die früher in die Fabrik gegangen wären. Lieber als ihre Arbeit erledigen diese Angestellten einander, auch sich selbst. Der Chef, Herr Sack, der einmal Isaaksohn hieß, verliert nach einem Attentat zwar nicht das Leben, aber seinen Verstand. Max Brecher kommt unter die Räder, Doktor Geist an die Macht. Der eine wird als Aufwiegler entlassen, der andere zum Bürochef befördert. Eine Stenotypistin endet aus Übermut im Landwehrkanal, eine andere überlebt ihren Selbstmordversuch.
All das ist nicht Schicksal, sondern Betrieb. All das ist Berlin. Mit großer Präzision und Kunst zeichnet Kessel, der ein großer Physiognomiker der Straßen war, die Lebenskurven der Figuren in den Stadtraum ein. Die Deklassierung schreitet vom bürgerlichen West/Südwest über Mitte nach Ost/Nordost voran, von einer Villa im Grunewald über das Gartenhaus Charlottenburg und die Friedenauer Atelierwohnung der guten, hinkenden Seele des Büros bis nach Lichtenberg, Richtung Proletariat. In den Schaufenstern um Tauentzien und Gedächtniskirche spiegeln sich die Illusionen.
An Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" tritt im Rückblick trotz aller Avanciertheit und Collagetechnik die Verwandtschaft mit alten, barocken Leidensgeschichten hervor. Franz Biberkopf, den die Großstadt verschlingt, ist ein Nachfahre des Simplicissimus, den der Krieg beutelt. Er ist die Kreatur im aufgerissenen Körper der Stadt. Er mag düster sein, aber es gibt einen Himmel über Döblins Berlin, und darin einen Gott. In Martin Kessels Roman gibt es den Himmel nicht, und wenn es ihn gäbe, wäre er hell und leer, elektrisch erleuchtet.
Denn Kessel stellt dem neusachlichen Jahrzehnt den Totenschein aus, indem er noch einmal seine Idole aufruft. Aber wie er den Verkehr aus dem Umschlagpunkt des Unfalls, die Zirkulation aus dem Stocken, das unaufhörliche "Geriesel" der abgeklärten Konversation aus dem erschreckten Verstummen, den Betrieb aus den Momenten von Streik und Krise begreift, so liegt die Wahrheit über das blendende Bürolicht der UVAG und die Leuchtreklamen der Stadt im Schatten. Der Schatten ist das heimliche Zentrum in diesem lichtdurchfluteten Roman, der am Ende die Maske der neuen Sachlichkeit abwirft wie der arbeitslose Max Brecher die Narrenkappe des Betriebsclowns. Der Virtuose des betriebsuntauglichen Denkens hat sich um Kopf und Kragen geredet und wird zum Gespenst, das durch Berlin geistert und die ehemaligen Kollegen heimsucht.
Der Verlag hat dieser Neuausgabe die leicht gekürzte Fassung von 1956 statt der Originalausgabe von 1932 zugrundegelegt. Dadurch sind neben einigen essayistischen Passagen die Mottos der Kapitel weggefallen. Sie verwiesen nicht nur auf die Gewährsmänner Kessels: Balzac, Gogol, Sterne. Mit E. T. A. Hoffmann, mit Fontane, aber auch mit Karl Marx brachten sie den Leser auf die Spur des satirisch-dämonischen Gespensterromans in neusachlicher Maskerade: "Wo viel Geld ist, geht immer ein Gespenst um." "Ein Gespenst geht um" heißt der dritte Teil des Romans. Brecher, der mit Max Stirner den Vornamen und das Abseitig-Querulantische teilt, taugt nicht zum Kommunisten. Auch nicht zum Terroristen: "Meine Bomben platzen im Gehirn." Aber mit Max Brecher hat Kessel den illusionären, sich in der Zerstreuung betäubenden Angestellten Kracauers eine überraschend bissige, explosive Figur an die Seite gestellt: den Angestellten als Attentäter im Geiste.
Martin Kessel: "Herrn Brechers Fiasko". Roman. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt am Main 2001. 560 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wieder da: Martin Kessels Berlin-Roman "Herrn Brechers Fiasko" / Von Lothar Müller
Aus dem Vogtland war Martin Kessel in die großen Städte gegangen, nach Berlin, München, Frankfurt. Weiträumig war er im Büchermeer gekreuzt und hatte 1925 über die Novellentechnik Thomas Manns promoviert. Da war er vierundzwanzig. Ein Jahr später erhielt er den Kleist-Preis für seine Gedichtsammlung "Gebändigte Kurven". Er veröffentlichte auch Erzählungen über das Leben in großen Städten. Die beiden anderen ließen den jungen Mann wieder los, die eine nicht: Berlin. Er warf sich der Hauptstadt nicht an den Hals, und er nahm sie nicht auf die leichte Schulter. Er nahm es mit ihr auf. Seit den späten zwanziger Jahren arbeitete er an dem großen Roman, in dem er sich mit ihr messen wollte. Revuen, Bars und kühle Gesten waren große Mode. Man war gerne sachlich, illusionslos, zynisch. Als die große Krise kam, arbeitete Kessel immer noch an seinem Roman. Als er fertig war, sahen die Plakate, auf denen die "Neue Sachlichkeit" Reklame machte, schon etwas abgeblättert aus.
Erich Ohser, in Plauen aufgewachsen wie Martin Kessel, hatte auf den Umschlag einen Männerkopf mit scharfen Zügen und skeptischen Augen hinter einer randlosen Brille gezeichnet. Autorname und Titel waren darüber wie eine verrutschte Schlagzeile gedruckt, abschüssig wie die Karriere des Helden. Als "Herrn Brechers Fiasko" Ende 1932 in der Deutschen Verlagsanstalt erschien, hatte die Krise von der Weimarer Republik nicht mehr viel übrig gelassen. In der Zukunft, die dann anbrach, konnte dieses Buch nur untergehen, wie sein Held.
Martin Kessel hat Nationalsozialismus und Krieg überlebt. Zweimal hat er danach "Herrn Brechers Fiasko" wieder auftauchen und untergehen sehen, 1956 in der Neuauflage bei Suhrkamp, 1978 als Taschenbuch im selben Verlag. Als er im April 1990 im wiedervereinigten Berlin starb, war sein erster Roman längst wieder vergriffen. Jetzt ist er wieder da, in einer Zeit, die wahrlich keinen Mangel leidet an Berlin-Romanen. Dieser hier betrachtet die Selbstinszenierungen der Metropole mit äußerstem Mißtrauen. Mit traurigem Witz zieht er die Summe seiner Zeit.
Zu Beginn treten Max Brecher und sein Freund, Doktor Geist, nach Büroschluß auf die Friedrichstraße. Wie auf einem unsichtbaren Förderband gleiten sie plaudernd dahin und landen in einem Lokal am Potsdamer Platz. Aus Angestellten werden Passanten, aus Passanten Konsumenten, aus den Freunden einige hundert Seiten später Feinde und Konkurrenten. Büro, Straße, Vergnügungsetablissement und Karrieren arbeiten in einem gut geölten Mechanismus einander zu. Die Mythologie des Großstadt-Dschungels und die apokalyptischen Bilder der Hure Babylon sind in diesem Roman ausrangiert. Er wählt sich ein sehr prosaisches Modell für die Darstellung der Großstadt: den Betrieb.
Zentraler Schauplatz ist die imaginäre UVAG, die "Universale Vermittlungs-Aktiengesellschaft". Sie hat ihren Sitz in der Friedrichstadt und ist hochmodern nicht zuletzt darin, daß sie nichts produziert. Wie das Geld selbst ist sie ein Medium der Zirkulationsbeschleunigung, ein Unternehmen unspezialisierter Dienstleistung. Hier arbeiten die Figuren des Romans. Sie gehören nicht zur Verwaltung einer Fabrik, sondern zur Werbeabteilung eines weit gefächerten Medienkonzerns, zur Abteilung "Popaganda". Zu den Aufgaben Max Brechers gehört der Entwurf von Prospekten, die eine Wohnung nicht lediglich als Immobilie, sondern als Lebensstil verkaufen.
Während Martin Kessel an seinem Roman schrieb, las er Siegfried Kracauers Artikelserie "Die Angestellten" (1929). Kracauer hatte einen Personalchef von der "moralisch-rosa Hautfarbe" des idealen Angestellten sprechen lassen und die Freizeit unter das Motto "Zwanglos mit Niveau" gestellt. Dieser analytischen Prägnanz steht Kessel in seinen essayistischen Einlagen etwa über die Pause oder die Bürotoilette als Ort von Klatsch und Tratsch nicht nach. Wie in einen Kokon spinnt Kessel seine Figuren in das endlose Bürogespräch ein: "man löste die Ereignisse in lauter Gesprächsstoffe auf." Vorbild für diese Mikrologie der Pointen und Bosheiten, der eleganten Aphorismen und privatsprachlich neckischen Albernheiten ist Laurence Sterne, der über seinen "Tristram Shandy" den Satz des Epiktet setzte: "Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge." Wie in Kessels Erzählerstimme der Essay den Roman unterwandert, so kommentiert eher die Handlung das endlose Gespräch als umgekehrt.
Max Brecher und seine Kollegen sind nicht nur mit den Angestellten Kracauers verwandt. Sie sind Angestellte, die Kracauer gelesen haben: "Coty hatte eine Bemerkung über die fatale Position der Angestellten fallenlassen, einer Schicht, die zwischen Gesellschaft und Masse ein illusionäres Dasein führe, und Rüland hatte einfach gesagt: ,Arbeiter sind wir, Abteilung Sitzfleisch.'" Max Brecher und sein Freund Geist sind in diesem Universum nutzlos flottierender Erkenntnisse die rechten Protagonisten: verkrachte Akademiker, denen noch die Reste des Philosophie-Seminars im Kopfe spuken. Sie sind umgeben von unscheinbaren Buchhaltern und auftrumpfenden Lebemännern, von Töchtern aus ehemals besserem Hause und Stenotypistinnen, die früher in die Fabrik gegangen wären. Lieber als ihre Arbeit erledigen diese Angestellten einander, auch sich selbst. Der Chef, Herr Sack, der einmal Isaaksohn hieß, verliert nach einem Attentat zwar nicht das Leben, aber seinen Verstand. Max Brecher kommt unter die Räder, Doktor Geist an die Macht. Der eine wird als Aufwiegler entlassen, der andere zum Bürochef befördert. Eine Stenotypistin endet aus Übermut im Landwehrkanal, eine andere überlebt ihren Selbstmordversuch.
All das ist nicht Schicksal, sondern Betrieb. All das ist Berlin. Mit großer Präzision und Kunst zeichnet Kessel, der ein großer Physiognomiker der Straßen war, die Lebenskurven der Figuren in den Stadtraum ein. Die Deklassierung schreitet vom bürgerlichen West/Südwest über Mitte nach Ost/Nordost voran, von einer Villa im Grunewald über das Gartenhaus Charlottenburg und die Friedenauer Atelierwohnung der guten, hinkenden Seele des Büros bis nach Lichtenberg, Richtung Proletariat. In den Schaufenstern um Tauentzien und Gedächtniskirche spiegeln sich die Illusionen.
An Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" tritt im Rückblick trotz aller Avanciertheit und Collagetechnik die Verwandtschaft mit alten, barocken Leidensgeschichten hervor. Franz Biberkopf, den die Großstadt verschlingt, ist ein Nachfahre des Simplicissimus, den der Krieg beutelt. Er ist die Kreatur im aufgerissenen Körper der Stadt. Er mag düster sein, aber es gibt einen Himmel über Döblins Berlin, und darin einen Gott. In Martin Kessels Roman gibt es den Himmel nicht, und wenn es ihn gäbe, wäre er hell und leer, elektrisch erleuchtet.
Denn Kessel stellt dem neusachlichen Jahrzehnt den Totenschein aus, indem er noch einmal seine Idole aufruft. Aber wie er den Verkehr aus dem Umschlagpunkt des Unfalls, die Zirkulation aus dem Stocken, das unaufhörliche "Geriesel" der abgeklärten Konversation aus dem erschreckten Verstummen, den Betrieb aus den Momenten von Streik und Krise begreift, so liegt die Wahrheit über das blendende Bürolicht der UVAG und die Leuchtreklamen der Stadt im Schatten. Der Schatten ist das heimliche Zentrum in diesem lichtdurchfluteten Roman, der am Ende die Maske der neuen Sachlichkeit abwirft wie der arbeitslose Max Brecher die Narrenkappe des Betriebsclowns. Der Virtuose des betriebsuntauglichen Denkens hat sich um Kopf und Kragen geredet und wird zum Gespenst, das durch Berlin geistert und die ehemaligen Kollegen heimsucht.
Der Verlag hat dieser Neuausgabe die leicht gekürzte Fassung von 1956 statt der Originalausgabe von 1932 zugrundegelegt. Dadurch sind neben einigen essayistischen Passagen die Mottos der Kapitel weggefallen. Sie verwiesen nicht nur auf die Gewährsmänner Kessels: Balzac, Gogol, Sterne. Mit E. T. A. Hoffmann, mit Fontane, aber auch mit Karl Marx brachten sie den Leser auf die Spur des satirisch-dämonischen Gespensterromans in neusachlicher Maskerade: "Wo viel Geld ist, geht immer ein Gespenst um." "Ein Gespenst geht um" heißt der dritte Teil des Romans. Brecher, der mit Max Stirner den Vornamen und das Abseitig-Querulantische teilt, taugt nicht zum Kommunisten. Auch nicht zum Terroristen: "Meine Bomben platzen im Gehirn." Aber mit Max Brecher hat Kessel den illusionären, sich in der Zerstreuung betäubenden Angestellten Kracauers eine überraschend bissige, explosive Figur an die Seite gestellt: den Angestellten als Attentäter im Geiste.
Martin Kessel: "Herrn Brechers Fiasko". Roman. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt am Main 2001. 560 S., geb., 49,80 DM.
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