Wolfgang Herrndorf gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern seiner Generation. Mit seinem Roman 'Tschick' hat er weltweit ein Millionenpublikum erobert, sein früher Tod - die Krebsdiagnose, die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen - berührt bis heute viele Menschen. Am 12. Juni 2025 wäre Wolfgang Herrndorf 60 Jahre alt geworden. Tobias Rüthers einmalige Biographie hat diesem grandiosen Autor ein Denkmal gesetzt und ist selbst zu einem Bestseller geworden. Rüther folgt Herrndorf von der Kindheit in Norderstedt über das Kunststudium in Nürnberg bis nach Berlin - und in die letzten Jahre mit der Krankheit. Basierend auf zahlreichen unveröffentlichten Dokumenten und Gesprächen mit Familie, Freunden und Weggefährten beleuchtet Rüther alle Facetten Herrndorfs. So entsteht das ebenso faszinierende wie bewegende Porträt eines außergewöhnlichen Menschen, der trotz der kurzen Zeit, die ihm blieb, ein großes Werk schuf - und bis zuletzt sein Leben selbst bestimmte.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Heiligenverehrung wittert Rezensent Paul Jandl zunächst in dieser Biografie, die ihm auch zu kleinteilig erscheint. Aber dann packt sie ihn doch, weil es Autor Tobias Rüther um etwas geht: Das Altmodische an Wolfgang Herrndorf zu erklären, oder vielmehr: seine Verehrung des Altmeisterlichen, dem er in Bildern und Büchern seine Reverenz erwies. Und so begleitet Jandl mitfühlend den Lebensweg dieses "trainingsjackentragenden Streuners der Romantik", der viel zu früh an einem Gehirntumor starb. Die Verzauberung, die Herrndorf in seinen Büchern suchte, überträgt sich auch mit dieser Biografie auf den Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.08.2023Herrndorfs Himmel
Vor zehn Jahren starb Wolfgang Herrndorf. Jetzt erscheint eine taktvolle Biografie von Tobias Rüther
über den Autor, den er als den größten seiner Generation feiert
VON MARIE SCHMIDT
Der Tod von Wolfgang Herrndorf ist jetzt zehn Jahre her. Nur einen Monat zuvor hatte er sein Testament gemacht. Das war eine der traurigen und großen Eigenschaften seines Todes: dass Herrndorf so klar abschätzte, wie viel Zeit ihm noch blieb. Er schrieb: „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.“
Seine Frau Carola Wimmer, seine Freunde und Verleger, die mit dem Nachlass des Autors umgehen, halten sich relativ genau an das, was er vorgegeben hat. Eines ist aber gezielt gebrochen worden und glücklicherweise: Herrndorfs Umfeld hat mit dem Journalisten und Literaturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Tobias Rüther gesprochen und ihm Zugang zu Herrndorfs Material verschafft. So konnte kurz vor dem zehnten Todestag eine Biografie erscheinen, die ein Muster an anteilnehmender Distanz ist.
Rüther versucht nie bohrend etwas herauszufinden, sondern stellt einfach dar, wie die Eltern, Freunde, Bekannte über Wolfgang Herrndorf reden, wie sie sich heute erinnern. Das Bild, das dabei entsteht, ist bezeichnend genug. Nicht nur von Herrndorf, auch von einem Freundeskreis, der offenbar sowieso nicht zu Verklärung neigt. Rüther spart mit eigenen Interpretationen und Thesen, um dann umso präziser zu werden, wenn er doch mal eine gibt.Zum Beispiel die, dass Wolfgang Herrndorf sein eigener Germanist gewesen sei, so genau wie er Fassungen, Recherchen und Bezüge seiner Texte dokumentierte. In der berühmtesten Szene aus seinem erfolgreichsten Roman „Tschick“ wollen die Jungen Maik und Tschick ihre Namen mit dem Auto in ein Weizenfeld schreiben, brechen irgendwann über den Rand und schauen „minutenlang“ in den freien Himmel: „Blaugraue Schleier liefen über die entfernten Hügelketten, über die näheren Hügelketten. Die Wolken hoben sich und kamen wie eine Walze auf uns zu. ‚Independence Day‘, sagte Tschick.“ Wie bei Goethe „Klopstock“ gesagt wird. In zwei Manuskriptfassungen findet Rüther die Notiz: „Werther, Reclam, S. 29“. Naseweise Entschlüsselungen nicht mehr nötig.
Von den Milieus, in denen Herrndorf gelebt hat, erzählt Tobias Rüther mit einem Überblick, der einem das Gefühl gibt, etwas noch sehr Gegenwartsnahem beim Historischwerden zuzuschauen. Der Himmel in Herrndorfs Werk, schreibt Rüther, sei immer der über Norderstedt geblieben: nördlich von Hamburg, wo Herrndorf groß wurde, als die Vororte gerade erst miteinander und der Stadt zusammenwuchsen. „Der Zweite Weltkrieg ist erst zwanzig Jahre vorbei, als Wolfgang Herrndorf geboren wird.“ Sein Vater ist Realschullehrer, die Mutter betreut eine kirchliche Vorschulgruppe und die Tanzgruppe im Sportverein. Nach einigen Jahren kaufen sie ein Reihenhaus, „bundesrepublikanisches Neubaugebiet“, eine relativ statische Zeit, in der es doch den Freiraum gibt für einen Jungen, eine starke, sensible Wahrnehmung zu entwickeln. „Wolfgang Herrndorfs Künstlerblick ist ein Kinderblick gewesen, lebenslang“, kommentiert Rüther.
Nach dem Abitur studiert Herrndorf an der Kunstakademie in Nürnberg. Es sind die Achtzigerjahre, es geht um neue Formen und Medien in der Kunst, um Performance und Video. Herrndorf will lieber seine Vorbilder studieren, Vermeer vor allem, und zieht das auch durch, mit einer gewissen „intellektuellen Arroganz“. Er stellt sich oft selbst dar, in altmeisterlichem Stil, aber fein verfremdet: einmal zum Beispiel mit Jeans und Wischmopp in arkadischer Landschaft, die sich in einem schimmernden Dunst verliert, neben einer unerreichbaren Jugendliebe, seine persönliche Beatrice. Als er dafür einen Preis gewinnt, schreibt ein Kommilitone einen Protestbrief: „Hier ist eine Akademie und kein Spießerverein!“
Merkwürdig, dass in einer Zeit, die man rückblickend zur Hochphase der Postmoderne rechnen würde, so missverstanden wird, wie Herrndorf das, was an künstlerischen Mitteln verschiedener Epochen vorhanden ist, verehrt, sich aneignet, leise ironisiert. Welche Aggression er damit auf sich zieht. Er fühlt sich isoliert, geht so wenig wie möglich in die Akademie, kämpft mit seiner Professorin, hat einen alternativen Freundeskreis von Menschen, die sich nur kennen, weil sie miteinander Rollschuh fahren, und bleibt trotzdem fast zehn Jahre in Nürnberg. „Er hat eine verlängerte Adoleszenz ausgelebt“, sagt ein Freund aus dieser Zeit.
Als er mit dem Studium fertig ist, fängt er an, bei der Post zu arbeiten und schickt unverlangt eine Mappe mit Illustrationen und Cartoons an das Satiremagazin Titanic, das er mit 16 zu lesen angefangen hat. Dort versteht man ihn, er wird häufig beauftragt, was aber auch kein einträgliches Geschäft ist. 1996 erscheint in der Titanic die von Herrndorf gemalte Parodie der Anzeige für eine Vermeer-Ausstellung mit Helmut Kohl an der Stelle der ikonischen „Briefleserin in Blau“. Später malt er Kohl noch im Stil von Edward Hopper, Picasso, Baselitz und so weiter. Die Reihe wird sehr bekannt.
Im selben Sommer zieht Herrndorf nach Berlin, „Neuköllner Pannierstraße, einundvierzig Quadratmeter im Erdgeschoss, linker Seitenflügel“. So konnte man mit kaum Geld in einer legendären Ära leben. Über die Titanic findet er Freunde, auch eine Fußballmannschaft, zu der Martin Sonneborn gehört und eine Reihe heute bekannter Schriftsteller, Wissenschaftler, Publizisten: Holm Friebe, Jochen Schmidt, Per Leo, Philipp Felsch. Auf einer Party lernt er die Autorin Kathrin Passig kennen, der er seine Texte früh gezeigt und auf deren Rat er bis zum Schluss vertraut hat. Tobias Rüther, auch hier taktvoll: „Herrndorf verliebt sich, die beiden kommen zeitweilig zusammen. Bis zu Wolfgang Herrndorfs Tod bewahren sie sich eine einzigartige Freundschaft und Arbeitsbeziehung.“
Kurz darauf zieht das Freundesnetzwerk ins Internet. Am Anfang, berichtet Rüther, „verabredet man sich noch vorher und geht gleichzeitig online, um sich zu schreiben“. Es beginnt die kurze, sich leider sehr vergangen anfühlende Zeit, in der das Internet schon alltagsfähig, aber noch nicht von Plattformkapitalismus und einer durchdrehenden Öffentlichkeit besiedelt ist. Da verschriftlichen sich interessante Zirkel: „Herrndorf wird im Forum der ,Höflichen Paparazzi‘ so leben wie in Berlin: umgeben, gehalten, unterhalten von einem kleinen, festen Kreis von Leuten, die ihm die Welt sind“, schreibt Rüther. Innerhalb dieses Forums bildet sich ein engerer Kreis (sie nennen sich die „Pappen“), von dem Holm Friebe sagt: „Die härteste Pointe und das rigoroseste Urteil regierten.“ Aus demselben Kreis gründet sich nach der Jahrtausendwende die „Zentrale Intelligenz Agentur“, die später den Wettbewerb um den Bachmannpreis in Klagenfurt systematisch zerlegte, indem sie ihn als völlig berechenbar darstellte.
Wolfgang Herrndorf scheint eine charismatische Zentralfigur dieser „Pappen“ gewesen zu sein, die, was sie erlebten, in ihren Chats zu Pointen und Text machten. Dabei passiert es, dass Herrndorf vom Maler und Zeichner zum Autor wird. Wobei Rüther zeigt, wie er auch da Vorbilder studierte: unter anderem Karl Philipp Moritz, Stendhals Roman „Rot und Schwarz“, Marcel Proust, J. D. Salinger, Christan Kracht, Karen Duves „Dies ist kein Liebeslied“. 2002 erscheint sein erster Roman „In Plüschgewittern“ im Verlag von Gerd Haffmanns. Rüthers Einordung: „eine Mischung aus verspäteter Popliteratur und verunsichertem Berlin-Roman mit starken romantischen Anteilen“.
Die Taschenbuchfassung bei Rowohlt wird Herrndorf noch einmal stark überarbeiten. Wie er überhaupt seine Texte immer wieder umarbeitet: „Solange er den Text offenlässt und daran arbeiten kann, übt er Kontrolle aus“, schreibt Rüther. Mit der Zeit liegen mehrere Romanideen angefangen herum, mit jeder plant Herrndorf ein Genre zu erfüllen: Jugendroman, Thriller, Science-Fiction. Nachdem er dank seiner Follower bei den „Höflichen Paparazzi“ mit der Geschichte „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ 2004 in Klagenfurt den Publikumspreis gewonnen hatte (neben ihm lesen Richard David Precht, Juli Zeh, Uwe Tellkamp bekommt den Bachmannpreis, ein brutaler Jahrgang), erscheint 2007 ein Erzählungsband gleichen Namens.
Der Schrecken der Diagnose, die Wolfgang Herrndorf im Frühjahr 2010 bekommt, überträgt sich in der Biografie durch den radikalen Tempowechsel, den sie seinem Leben auslöst und den Rüther im Text mitvollzieht. Als Herrndorf verstanden habe, erzählt sein Arzt, dass das Glioblastom in seinem Gehirn tödlich sein würde, habe er gefragt: „Wie viele Bücher kann ich noch schreiben?“ Und dann erzählt Rüther, wie Herrndorf systematisch die angefangenen Romane danach sortiert, wie wahrscheinlich es ist, dass er sie noch zu Ende bringt. Und als Erstes „Tschick“ schreibt. Das Buch erscheint noch im selben Jahr und macht ihn schlagartig berühmt. Er kostet es nicht aus, sondern schreibt gleich noch den Wüstenroman „Sand“ und das Buch, das Kathrin Passig und sein Lektor Marcus Gärtner nach seinem Tod in seinem Sinne bearbeitet herausbringen: „Bilder deiner großen Liebe“.
Drei Bücher in drei Jahren. Währendalldessen führt Herrndorf sein Tagebuch „Arbeit und Struktur“, zuerst im Forum, dann auf eine eigene Website ausgelagert, unter den Augen der Öffentlichkeit. Er zeigt, wie er sich dem Tod nähert, Bücher schreibt, wie er lebt. Tobias Rüther hat sicher recht, wenn er sagt, dass es eine „so nicht gekannte Form“ ist, dem Publikum so unmittelbar seine letzte Lebenszeit zu lesen zu geben. Sie sei auch „das Resultat jahrelangen, kollektiven Schreibens im Forum“. Diese Unmittelbarkeit, Herrndorfs Schonungslosigkeit, seine Haltung waren jedenfalls ein Schock, wenn man den Blog damals mitlas, vor allem auch ein ästhetischer Schock. Und dann noch mal, als Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ als Buch erschien. Im Sommer 2013 geht es Herrndorf immer schlechter. Am 26. August beendet er selbst sein Leben gemäß dem Plan, den er nach der Diagnose gefasst hat, und der ihn von da an wohl beruhigen konnte. Mit einem sehr ähnlichen Satz, wie ihn Kathrin Passig und Marcus Gärtner im Nachwort zu „Arbeit und Struktur“ benutzten, schreibt sein höflicher Biograf Tobias Rüther: „Es war vermutlich einer der letzten Abende, die Wolfgang Herrndorf dafür noch blieben.“
Über Selbsttötungen berichtet die Süddeutsche Zeitung nur in Ausnahmefällen und nach sorgfältiger Prüfung. Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet auch die Telefonseelsorge, anonym und kostenlos unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222, zudem ist über www.telefonseelsorge.de eine Online-Beratung möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen bietet die Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: www.suizidprophylaxe.de.
Nach der Diagnose
legt er los: drei
Bücher in drei Jahren
Tobias Rüther:
Herrndorf. Eine
Biographie. Rowohlt, Hamburg 2023.
384 Seiten, 25 Euro.
„Ich konnte nicht das, was ich wollte“, sagte Herrndorf später über seine Zeit an der Kunstakademie, in der er dieses Selbstporträt malte. Vom Künstler und Bewunderer Jan Vermeers wurde er zum Schriftsteller.
Foto: VG Bild-Kunst Bonn
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vor zehn Jahren starb Wolfgang Herrndorf. Jetzt erscheint eine taktvolle Biografie von Tobias Rüther
über den Autor, den er als den größten seiner Generation feiert
VON MARIE SCHMIDT
Der Tod von Wolfgang Herrndorf ist jetzt zehn Jahre her. Nur einen Monat zuvor hatte er sein Testament gemacht. Das war eine der traurigen und großen Eigenschaften seines Todes: dass Herrndorf so klar abschätzte, wie viel Zeit ihm noch blieb. Er schrieb: „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.“
Seine Frau Carola Wimmer, seine Freunde und Verleger, die mit dem Nachlass des Autors umgehen, halten sich relativ genau an das, was er vorgegeben hat. Eines ist aber gezielt gebrochen worden und glücklicherweise: Herrndorfs Umfeld hat mit dem Journalisten und Literaturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Tobias Rüther gesprochen und ihm Zugang zu Herrndorfs Material verschafft. So konnte kurz vor dem zehnten Todestag eine Biografie erscheinen, die ein Muster an anteilnehmender Distanz ist.
Rüther versucht nie bohrend etwas herauszufinden, sondern stellt einfach dar, wie die Eltern, Freunde, Bekannte über Wolfgang Herrndorf reden, wie sie sich heute erinnern. Das Bild, das dabei entsteht, ist bezeichnend genug. Nicht nur von Herrndorf, auch von einem Freundeskreis, der offenbar sowieso nicht zu Verklärung neigt. Rüther spart mit eigenen Interpretationen und Thesen, um dann umso präziser zu werden, wenn er doch mal eine gibt.Zum Beispiel die, dass Wolfgang Herrndorf sein eigener Germanist gewesen sei, so genau wie er Fassungen, Recherchen und Bezüge seiner Texte dokumentierte. In der berühmtesten Szene aus seinem erfolgreichsten Roman „Tschick“ wollen die Jungen Maik und Tschick ihre Namen mit dem Auto in ein Weizenfeld schreiben, brechen irgendwann über den Rand und schauen „minutenlang“ in den freien Himmel: „Blaugraue Schleier liefen über die entfernten Hügelketten, über die näheren Hügelketten. Die Wolken hoben sich und kamen wie eine Walze auf uns zu. ‚Independence Day‘, sagte Tschick.“ Wie bei Goethe „Klopstock“ gesagt wird. In zwei Manuskriptfassungen findet Rüther die Notiz: „Werther, Reclam, S. 29“. Naseweise Entschlüsselungen nicht mehr nötig.
Von den Milieus, in denen Herrndorf gelebt hat, erzählt Tobias Rüther mit einem Überblick, der einem das Gefühl gibt, etwas noch sehr Gegenwartsnahem beim Historischwerden zuzuschauen. Der Himmel in Herrndorfs Werk, schreibt Rüther, sei immer der über Norderstedt geblieben: nördlich von Hamburg, wo Herrndorf groß wurde, als die Vororte gerade erst miteinander und der Stadt zusammenwuchsen. „Der Zweite Weltkrieg ist erst zwanzig Jahre vorbei, als Wolfgang Herrndorf geboren wird.“ Sein Vater ist Realschullehrer, die Mutter betreut eine kirchliche Vorschulgruppe und die Tanzgruppe im Sportverein. Nach einigen Jahren kaufen sie ein Reihenhaus, „bundesrepublikanisches Neubaugebiet“, eine relativ statische Zeit, in der es doch den Freiraum gibt für einen Jungen, eine starke, sensible Wahrnehmung zu entwickeln. „Wolfgang Herrndorfs Künstlerblick ist ein Kinderblick gewesen, lebenslang“, kommentiert Rüther.
Nach dem Abitur studiert Herrndorf an der Kunstakademie in Nürnberg. Es sind die Achtzigerjahre, es geht um neue Formen und Medien in der Kunst, um Performance und Video. Herrndorf will lieber seine Vorbilder studieren, Vermeer vor allem, und zieht das auch durch, mit einer gewissen „intellektuellen Arroganz“. Er stellt sich oft selbst dar, in altmeisterlichem Stil, aber fein verfremdet: einmal zum Beispiel mit Jeans und Wischmopp in arkadischer Landschaft, die sich in einem schimmernden Dunst verliert, neben einer unerreichbaren Jugendliebe, seine persönliche Beatrice. Als er dafür einen Preis gewinnt, schreibt ein Kommilitone einen Protestbrief: „Hier ist eine Akademie und kein Spießerverein!“
Merkwürdig, dass in einer Zeit, die man rückblickend zur Hochphase der Postmoderne rechnen würde, so missverstanden wird, wie Herrndorf das, was an künstlerischen Mitteln verschiedener Epochen vorhanden ist, verehrt, sich aneignet, leise ironisiert. Welche Aggression er damit auf sich zieht. Er fühlt sich isoliert, geht so wenig wie möglich in die Akademie, kämpft mit seiner Professorin, hat einen alternativen Freundeskreis von Menschen, die sich nur kennen, weil sie miteinander Rollschuh fahren, und bleibt trotzdem fast zehn Jahre in Nürnberg. „Er hat eine verlängerte Adoleszenz ausgelebt“, sagt ein Freund aus dieser Zeit.
Als er mit dem Studium fertig ist, fängt er an, bei der Post zu arbeiten und schickt unverlangt eine Mappe mit Illustrationen und Cartoons an das Satiremagazin Titanic, das er mit 16 zu lesen angefangen hat. Dort versteht man ihn, er wird häufig beauftragt, was aber auch kein einträgliches Geschäft ist. 1996 erscheint in der Titanic die von Herrndorf gemalte Parodie der Anzeige für eine Vermeer-Ausstellung mit Helmut Kohl an der Stelle der ikonischen „Briefleserin in Blau“. Später malt er Kohl noch im Stil von Edward Hopper, Picasso, Baselitz und so weiter. Die Reihe wird sehr bekannt.
Im selben Sommer zieht Herrndorf nach Berlin, „Neuköllner Pannierstraße, einundvierzig Quadratmeter im Erdgeschoss, linker Seitenflügel“. So konnte man mit kaum Geld in einer legendären Ära leben. Über die Titanic findet er Freunde, auch eine Fußballmannschaft, zu der Martin Sonneborn gehört und eine Reihe heute bekannter Schriftsteller, Wissenschaftler, Publizisten: Holm Friebe, Jochen Schmidt, Per Leo, Philipp Felsch. Auf einer Party lernt er die Autorin Kathrin Passig kennen, der er seine Texte früh gezeigt und auf deren Rat er bis zum Schluss vertraut hat. Tobias Rüther, auch hier taktvoll: „Herrndorf verliebt sich, die beiden kommen zeitweilig zusammen. Bis zu Wolfgang Herrndorfs Tod bewahren sie sich eine einzigartige Freundschaft und Arbeitsbeziehung.“
Kurz darauf zieht das Freundesnetzwerk ins Internet. Am Anfang, berichtet Rüther, „verabredet man sich noch vorher und geht gleichzeitig online, um sich zu schreiben“. Es beginnt die kurze, sich leider sehr vergangen anfühlende Zeit, in der das Internet schon alltagsfähig, aber noch nicht von Plattformkapitalismus und einer durchdrehenden Öffentlichkeit besiedelt ist. Da verschriftlichen sich interessante Zirkel: „Herrndorf wird im Forum der ,Höflichen Paparazzi‘ so leben wie in Berlin: umgeben, gehalten, unterhalten von einem kleinen, festen Kreis von Leuten, die ihm die Welt sind“, schreibt Rüther. Innerhalb dieses Forums bildet sich ein engerer Kreis (sie nennen sich die „Pappen“), von dem Holm Friebe sagt: „Die härteste Pointe und das rigoroseste Urteil regierten.“ Aus demselben Kreis gründet sich nach der Jahrtausendwende die „Zentrale Intelligenz Agentur“, die später den Wettbewerb um den Bachmannpreis in Klagenfurt systematisch zerlegte, indem sie ihn als völlig berechenbar darstellte.
Wolfgang Herrndorf scheint eine charismatische Zentralfigur dieser „Pappen“ gewesen zu sein, die, was sie erlebten, in ihren Chats zu Pointen und Text machten. Dabei passiert es, dass Herrndorf vom Maler und Zeichner zum Autor wird. Wobei Rüther zeigt, wie er auch da Vorbilder studierte: unter anderem Karl Philipp Moritz, Stendhals Roman „Rot und Schwarz“, Marcel Proust, J. D. Salinger, Christan Kracht, Karen Duves „Dies ist kein Liebeslied“. 2002 erscheint sein erster Roman „In Plüschgewittern“ im Verlag von Gerd Haffmanns. Rüthers Einordung: „eine Mischung aus verspäteter Popliteratur und verunsichertem Berlin-Roman mit starken romantischen Anteilen“.
Die Taschenbuchfassung bei Rowohlt wird Herrndorf noch einmal stark überarbeiten. Wie er überhaupt seine Texte immer wieder umarbeitet: „Solange er den Text offenlässt und daran arbeiten kann, übt er Kontrolle aus“, schreibt Rüther. Mit der Zeit liegen mehrere Romanideen angefangen herum, mit jeder plant Herrndorf ein Genre zu erfüllen: Jugendroman, Thriller, Science-Fiction. Nachdem er dank seiner Follower bei den „Höflichen Paparazzi“ mit der Geschichte „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ 2004 in Klagenfurt den Publikumspreis gewonnen hatte (neben ihm lesen Richard David Precht, Juli Zeh, Uwe Tellkamp bekommt den Bachmannpreis, ein brutaler Jahrgang), erscheint 2007 ein Erzählungsband gleichen Namens.
Der Schrecken der Diagnose, die Wolfgang Herrndorf im Frühjahr 2010 bekommt, überträgt sich in der Biografie durch den radikalen Tempowechsel, den sie seinem Leben auslöst und den Rüther im Text mitvollzieht. Als Herrndorf verstanden habe, erzählt sein Arzt, dass das Glioblastom in seinem Gehirn tödlich sein würde, habe er gefragt: „Wie viele Bücher kann ich noch schreiben?“ Und dann erzählt Rüther, wie Herrndorf systematisch die angefangenen Romane danach sortiert, wie wahrscheinlich es ist, dass er sie noch zu Ende bringt. Und als Erstes „Tschick“ schreibt. Das Buch erscheint noch im selben Jahr und macht ihn schlagartig berühmt. Er kostet es nicht aus, sondern schreibt gleich noch den Wüstenroman „Sand“ und das Buch, das Kathrin Passig und sein Lektor Marcus Gärtner nach seinem Tod in seinem Sinne bearbeitet herausbringen: „Bilder deiner großen Liebe“.
Drei Bücher in drei Jahren. Währendalldessen führt Herrndorf sein Tagebuch „Arbeit und Struktur“, zuerst im Forum, dann auf eine eigene Website ausgelagert, unter den Augen der Öffentlichkeit. Er zeigt, wie er sich dem Tod nähert, Bücher schreibt, wie er lebt. Tobias Rüther hat sicher recht, wenn er sagt, dass es eine „so nicht gekannte Form“ ist, dem Publikum so unmittelbar seine letzte Lebenszeit zu lesen zu geben. Sie sei auch „das Resultat jahrelangen, kollektiven Schreibens im Forum“. Diese Unmittelbarkeit, Herrndorfs Schonungslosigkeit, seine Haltung waren jedenfalls ein Schock, wenn man den Blog damals mitlas, vor allem auch ein ästhetischer Schock. Und dann noch mal, als Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ als Buch erschien. Im Sommer 2013 geht es Herrndorf immer schlechter. Am 26. August beendet er selbst sein Leben gemäß dem Plan, den er nach der Diagnose gefasst hat, und der ihn von da an wohl beruhigen konnte. Mit einem sehr ähnlichen Satz, wie ihn Kathrin Passig und Marcus Gärtner im Nachwort zu „Arbeit und Struktur“ benutzten, schreibt sein höflicher Biograf Tobias Rüther: „Es war vermutlich einer der letzten Abende, die Wolfgang Herrndorf dafür noch blieben.“
Über Selbsttötungen berichtet die Süddeutsche Zeitung nur in Ausnahmefällen und nach sorgfältiger Prüfung. Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet auch die Telefonseelsorge, anonym und kostenlos unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222, zudem ist über www.telefonseelsorge.de eine Online-Beratung möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen bietet die Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: www.suizidprophylaxe.de.
Nach der Diagnose
legt er los: drei
Bücher in drei Jahren
Tobias Rüther:
Herrndorf. Eine
Biographie. Rowohlt, Hamburg 2023.
384 Seiten, 25 Euro.
„Ich konnte nicht das, was ich wollte“, sagte Herrndorf später über seine Zeit an der Kunstakademie, in der er dieses Selbstporträt malte. Vom Künstler und Bewunderer Jan Vermeers wurde er zum Schriftsteller.
Foto: VG Bild-Kunst Bonn
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Diese Biografie vollzieht auf unterhaltsame, besonders aber auf einfühlsame Weise nach, wie aus dem einsamen Maler ein literarischer Fixstern wurde. Philosophie Magazin