Auch nach Jahren der Tyrannei und des Krieges hält sich das syrische Regime noch immer an der Macht. Aber wer und was ist eigentlich dieses Regime? Welche Kräfte und Narrative halten es im Inneren zusammen? Der Journalist und Orientalist Daniel Gerlach entwirrt die Hintergründe einer Logik der Gewalt und Manipulation, der sich die Herrschenden auch selbst unterworfen haben.Was 2011 als Aufbegehren gegen ein politisch und moralisch bankrottes System begann, eskaliert immer weiter, beschleunigt noch durch die Exzesse des 'Islamischen Staates'. Ratlos schaut die Welt zu, kann oder will nicht helfen - zu verworren scheinen die Konfliktlinien, zu groß ist die Sorge, die 'falsche Seite' zu unterstützen.Daniel Gerlach beleuchtet das schizophrene Verhältnis der Religionen und Konfessionen in Syrien, das Wirken sichtbarer und unsichtbarer Mächte, die diesen Konflikt so unerbittlich machen. Er beschreibt die Geister der Vergangenheit, erzählt von traumatischen Erfahrungen und ihrer Wirkungauf das heutige Syrien. Klar wendet sich Gerlach gegen die Behauptung, das Regime sei der Garant für Stabilität und den Erhalt eines Staates, den es womöglich längst nicht mehr gibt. Die Lage ist undurchsichtig - auf ihrer Unwissenheit ausruhen können sich die internationalen Mächte nun allerdings nicht mehr.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2015Chaos im Orient
Jürgen Todenhöfer besuchte die Terrororganisation IS.
Karin Leukefeld und Daniel Gerlach erklären das Desaster in Syrien
VON WOLFGANG FREUND
Geschieht irgendwo Aufsehenerregendes, erscheinen die Schnellschreiber mit Büchern zum Thema. Da gab es zum Beispiel den französischen Soziologen, der plötzlich nach Brasilien aufbrach. Schon vierzehn Tage später war er aber wieder da und verkündete vom Katheder seines Hörsaals: „Ich habe Brasilien verstanden!“ Einen Monat später lag sein dreihundert Seiten dickes Buch, in dem er dieses „Verstehen“ näher erIäuterte, in den Pariser Schaufenstern. Die meisten solcher Schnellschriften sind mehr oder minder gut kaschierte „Abschreibe“ aus bereits Vorhandenem und werden rasch Makulatur. Mitunter sind auch sogenannte Neger am Werk und schreiben anonym für den offiziellen Autor.
Es gibt aber Ausnahmen. Das Buch von Jürgen Todenhöfer, CSU-Politiker und Hans Dampf in allen arabischen Gassen, ist eine solche. Über die etwas aufdringlichen Selbstbeweihräucherungen, die auf mehreren Seiten vorkommen (Motto: ich, der furchtlose Wahrheitssucher!), kann man hinweglesen. Von langer Hand hatte er zusammen mit seinem Sohn Frederic und einem amerikanischen Helfer das Projekt eingefädelt, den Kopfabschneidern des „Islamischen Staates" (IS) auf die Schliche zu kommen.
Es war ihm 2014 auf verschlungenen Wegen gelungen, für den Zehn-Tage-Trip bis nach Mossul, „eingebettet“ in eine Horde martialischer IS-Kämpfer, vom „IS-Kalifen“ Abu Bakr Al-Baghdadi eine persönliche Einladung und einen „Schutzbrief“ zu erhalten. Das daraus entstandene Buch – ein Bestseller – liest sich spannend, wie ein Polit-Krimi. Faul getrickst wurde nicht. Das spürt der Leser. Todenhöfers Buch ist flott geschrieben, im Stil manchmal ein bisschen auf die Ebene eines gewissen deutschen Massenblattes absinkend, aber sei’s drum. Man langweilt sich nicht und lernt dazu, es werden Fakten geboten.
Todenhöfers Bericht aus dem Zentrum des IS vermittelt neben vielen anderen Einsichten eine verblüffende Erkenntnis: Perfekt inszenierte Grausamkeiten wie Kopfabschneiden mit dem Schlachtermesser und nachgeordnete Schock-Botschaften in Richtung der Welt der „Ungläubigen“ scheinen entworfen und ausgeführt zu sein von mehrheitlich westlichen „Rekruten“ der „Armee Allahs“: von Briten, US-Amerikanern, Franzosen, Belgiern, Deutschen und Osteuropäern aus diversen Ländern. Auch Tschetschenen gehören dazu. Todenhöfer und sein Sohn glauben sich sicher zu sein, dass der vermummte Chauffeur, der sie begleitete, kein anderer gewesen sei als der weltweit via TV-Spots bekannt gewordene Kopfabschneider „Jihadi John“, ein Brite.
Damit ist der Generalverdacht bestätigt, den viele Islam-Experten hegen: Für echte Orientalen, selbst wenn sie islamistisch ticken, erscheinen die Horrorspektakel eine Nummer zu dick aufgetragen. lch selbst habe jahrzehntelang unter Muslimen und mit ihnen gelebt, lange genug, um mir da einigermaßen sicher zu sein. Die IS-Auftritte wirken, gemessen an vorderorientalisch-islamischen Standards, äußerst „publikumswirksam“ sowie geprägt von Gestapo-nahem Know-how bei der „handwerklichen“ Umsetzung. Das mag auch der tiefere Grund dafür sein, dass die westlichen Geheimdienste sich in dieser Angelegenheit so schnell engagiert haben und Programme ausarbeiten, um Syrien-Trips islamistisch infizierter Jugendlicher zu unterbinden, beziehungsweise Rückkehrer dingfest zu machen.
Mit den Mördern, die ihre Opfer so grausam abschlachten, sind wir offenbar weitgehend „unter uns“; und natürlich steht zu befürchten, dass sie, unentdeckt zurückgekehrt, als Maulwurf-Soldaten des IS auf „Einsatzbefehle“ ihres „Kalifen“ warten werden. Er gibt die Direktiven, doch die Drecksarbeit mit dem Messer, der Kalaschnikow oder irgendeiner explosiven Knetmasse machen die „Legionäre“ aus dem Westen. Auch bedienen sie das meiste von dem, was mit public relations und der Nutzung des Internets zusammenhängt.
Leserpädagogisch geschickt, findet sich am Ende des Buches Todenhöfers Auflistung solcher Koranverse, die belegen sollen, dass der wahre Islam alles andere sei als eine Gebrauchsanweisung zur weltweiten Liquidierung aller Nichtmuslime oder „falschen“ Muslime. Einziger Haken: es gibt genau so viele Stellen im Koran, die deutlich Gewalt und Krieg, ob „heilig“ oder nicht, predigen, ganz ähnlich wie es die Bibel und auch das Neue Testament tun. In allen „heiligen Schriften“ findet eben jeder das Seine, das heißt: das, was er gerade sucht.
Ein anderes gelungenes Reportagebuch stammt von Karin Leukefeld und handelt vom syrisch- islamistischen Schlamassel. Die Ethnologin, Islam- und Politikwissenschaftlerin berichtet seit fünfzehn Jahren als freie Journalistin aus dem Vorderen Orient. In ihren Darlegungen kommt sie auf etwas zu sprechen, das in der deutschsprachigen Welt des politischen Buches unterbelichtet ist: die Rolle Frankreichs im nahöstlichen Polit- und Revolutionstheater.
Bekanntlich hatte die französische Mandatsmacht in Syrien (1920-1946) die Kernlande der syrischen Alawiten, zu denen auch Baschar Al-Assad und sein engerer Clan gehören, an der Mittelmeerküste und in den sich ostwärts anschließenden Bergen zu einer kurzlebigen „Alawitenrepublik“ (1920-1936) ausgerufen, und von da an entwickelten sich die französisch-syro-alawitischen Techtelmechtel entlang eines roten Fadens, der hinführt bis zum 14. Juli 2007. Da sieht man Baschar Al-Assad, den Londoner Augenarzt, der nach dem Unfalltod seines Bruders Basil (1994) von Väterchen Hafez gezwungen wurde, Politiker zu werden, zusammen mit seiner besseren Hälfte als Gäste des Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy auf den Champs-Elysée die Militärparade zum französischen Nationalfeiertag abnehmen. Dieses „Familienfoto“ belastet Sarkozys Amtsnachfolger François Hollande bis auf den heutigen Tag; denn das Bild entstand eben nicht zufällig, sondern war das Ergebnis einer langen Geschichte.
Die alawitisch-syrisch-französische „Idylle“ wird auch augenfällig in einem Brief, den Soliman Al-Assad, der Grossvater Baschars, 1936 mitunterschrieben hatte: ein „Hilferuf“ an den frisch inthronisierten französischen Volksfront-Ministerpräsidenten Léon Blum. Darin wird das allgemeine Islam-Verständnis der sunnitischen Araber angeklagt sowie, vor allem, die Barbarei, mit der sie gegen die Juden von Damaskus und Palästina vorgingen. Umso skurriler wirkt das heutige Ritual der politischen Pariser Gebetsmühle: Der Assad-Herrschaft in Damaskus müsse um jeden Preis ein Ende bereitet werden. Widersprüchlicher geht es kaum. Franzosen und syrische Alawiten haben in ihren politischen Jugendjahren zu viele Kühe gemeinsam auf die Weide getrieben, um das jetzt zu verleugnen. Karin Leukefeld zufolge spiegelt sich das im Gegensatz zwischen dem Elysée-Palast und dem französischen Außenamt Quai d'Orsay. Der Präsident François Hollande will Baschar Al-Assad entmachten, viele seiner Diplomaten sind da aber eher zurückhaltend. Auch Barack Obama scheint in Sachen Baschar allmählich zu der Meinung zu neigen: Den brauchen wir vielleicht noch.
Wer tiefer hinter die syrisch-alawitisch-islamistischen Kaleidoskop-Bilder schauen möchte, greife nach Daniel Gerlachs fast 400 Seiten dickem Band „Herrschaft über Syrien“. Diese ungemein detailreiche Analyse des syrischen Alawiten-Schiiten-Sunniten-Syndroms schließt auch die nicht zu vernachlässigenden geopolitischen Regionalfaktoren mit ein, wie etwa die Bedeutung Irans. Doch das Ganze liest sich kapitelweise wie zusammengenagelte Geheimdienstakten. Die Überfrachtung des Textes mit Namen aus der inneren Linie der syrischen Macht-Nomenklatura, die viele Leser bestimmt zum ersten Mal gehört haben werden, macht die Lektüre nicht leichter. Ist das Buch jedoch durchgearbeitet und sind die aufgezeigten Zusammenhänge durchdacht, hat man in Sachen des damaszener Zirkus-Chaos’ einiges dazugelernt.
Die IS-Soldateska bedroht nun die antiken Stätten von Palmyra in der syrischen Wüste. Baschar Assads Truppen schlagen sich zunehmend schlecht, so dass seine Sponsoren hinter den Kulissen, Iraner und Russen, mittlerweile ernsthaft die Frage aufwerfen, ob Assad nicht besser daran täte, seine Kampfbemühungen auf den Großraum Damaskus sowie die eigentlichen alawitischen Homelands entlang der Mittelmeerküste (Lattakia und Tartus) sowie des sich ostwärts anschließenden alawitischen Berglandes zu beschränken.
Syrien könnte auseinanderbrechen. Wäre das Ergebnis die Wiedererweckung der „alawitischen Republik“ von Frankreichs Gnaden aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren, die Entstehung einer Art Alawistan? Die Russen würden dann ihren Flottenstützpunkt behalten und die Iraner einen Zugang zum Mittelmeer. Ob es dazu kommt? Eine wohl kaum sehr ferne Zukunft wird uns belehren.
Jürgen Todenhöfer: Inside IS – 10 Tage im „Islamischen Staat“. C. Bertelsmann Verlag, München 2015. 282 Seiten, 17,99 Euro.
Karin Leukefeld: Flächenbrand. Syrien, Irak, die Arabische Welt und der lslamische Staat. PapyRossa, Köln 2015. 230 Seiten, 14,90 Euro.
Daniel Gerlach: Herrschaft über Syrien. Macht und Manipulation unter Assad. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 392 Seiten, 17 Euro.
Der deutsch-französische Sozialwissenschaftler Wolfgang Freund arbeitete von 2002 bis 2014 als Nordafrika- und Nahostkorrespondent. Er lebt in Südfrankreich.
Die schlimmsten Grausamkeiten
verüben IS-Kämpfer
aus westlichen Ländern
Syrien könnte auseinanderbrechen.
Übrig bliebe dann
eine „alawitische Republik“
Die Terrororganisation IS behauptet sich. Im Norden des Irak beherrscht sie große Gebiete, und unklar ist, wie sie von dort vertrieben oder gar besiegt werden kann.
Zeichnung: Haderer
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Jürgen Todenhöfer besuchte die Terrororganisation IS.
Karin Leukefeld und Daniel Gerlach erklären das Desaster in Syrien
VON WOLFGANG FREUND
Geschieht irgendwo Aufsehenerregendes, erscheinen die Schnellschreiber mit Büchern zum Thema. Da gab es zum Beispiel den französischen Soziologen, der plötzlich nach Brasilien aufbrach. Schon vierzehn Tage später war er aber wieder da und verkündete vom Katheder seines Hörsaals: „Ich habe Brasilien verstanden!“ Einen Monat später lag sein dreihundert Seiten dickes Buch, in dem er dieses „Verstehen“ näher erIäuterte, in den Pariser Schaufenstern. Die meisten solcher Schnellschriften sind mehr oder minder gut kaschierte „Abschreibe“ aus bereits Vorhandenem und werden rasch Makulatur. Mitunter sind auch sogenannte Neger am Werk und schreiben anonym für den offiziellen Autor.
Es gibt aber Ausnahmen. Das Buch von Jürgen Todenhöfer, CSU-Politiker und Hans Dampf in allen arabischen Gassen, ist eine solche. Über die etwas aufdringlichen Selbstbeweihräucherungen, die auf mehreren Seiten vorkommen (Motto: ich, der furchtlose Wahrheitssucher!), kann man hinweglesen. Von langer Hand hatte er zusammen mit seinem Sohn Frederic und einem amerikanischen Helfer das Projekt eingefädelt, den Kopfabschneidern des „Islamischen Staates" (IS) auf die Schliche zu kommen.
Es war ihm 2014 auf verschlungenen Wegen gelungen, für den Zehn-Tage-Trip bis nach Mossul, „eingebettet“ in eine Horde martialischer IS-Kämpfer, vom „IS-Kalifen“ Abu Bakr Al-Baghdadi eine persönliche Einladung und einen „Schutzbrief“ zu erhalten. Das daraus entstandene Buch – ein Bestseller – liest sich spannend, wie ein Polit-Krimi. Faul getrickst wurde nicht. Das spürt der Leser. Todenhöfers Buch ist flott geschrieben, im Stil manchmal ein bisschen auf die Ebene eines gewissen deutschen Massenblattes absinkend, aber sei’s drum. Man langweilt sich nicht und lernt dazu, es werden Fakten geboten.
Todenhöfers Bericht aus dem Zentrum des IS vermittelt neben vielen anderen Einsichten eine verblüffende Erkenntnis: Perfekt inszenierte Grausamkeiten wie Kopfabschneiden mit dem Schlachtermesser und nachgeordnete Schock-Botschaften in Richtung der Welt der „Ungläubigen“ scheinen entworfen und ausgeführt zu sein von mehrheitlich westlichen „Rekruten“ der „Armee Allahs“: von Briten, US-Amerikanern, Franzosen, Belgiern, Deutschen und Osteuropäern aus diversen Ländern. Auch Tschetschenen gehören dazu. Todenhöfer und sein Sohn glauben sich sicher zu sein, dass der vermummte Chauffeur, der sie begleitete, kein anderer gewesen sei als der weltweit via TV-Spots bekannt gewordene Kopfabschneider „Jihadi John“, ein Brite.
Damit ist der Generalverdacht bestätigt, den viele Islam-Experten hegen: Für echte Orientalen, selbst wenn sie islamistisch ticken, erscheinen die Horrorspektakel eine Nummer zu dick aufgetragen. lch selbst habe jahrzehntelang unter Muslimen und mit ihnen gelebt, lange genug, um mir da einigermaßen sicher zu sein. Die IS-Auftritte wirken, gemessen an vorderorientalisch-islamischen Standards, äußerst „publikumswirksam“ sowie geprägt von Gestapo-nahem Know-how bei der „handwerklichen“ Umsetzung. Das mag auch der tiefere Grund dafür sein, dass die westlichen Geheimdienste sich in dieser Angelegenheit so schnell engagiert haben und Programme ausarbeiten, um Syrien-Trips islamistisch infizierter Jugendlicher zu unterbinden, beziehungsweise Rückkehrer dingfest zu machen.
Mit den Mördern, die ihre Opfer so grausam abschlachten, sind wir offenbar weitgehend „unter uns“; und natürlich steht zu befürchten, dass sie, unentdeckt zurückgekehrt, als Maulwurf-Soldaten des IS auf „Einsatzbefehle“ ihres „Kalifen“ warten werden. Er gibt die Direktiven, doch die Drecksarbeit mit dem Messer, der Kalaschnikow oder irgendeiner explosiven Knetmasse machen die „Legionäre“ aus dem Westen. Auch bedienen sie das meiste von dem, was mit public relations und der Nutzung des Internets zusammenhängt.
Leserpädagogisch geschickt, findet sich am Ende des Buches Todenhöfers Auflistung solcher Koranverse, die belegen sollen, dass der wahre Islam alles andere sei als eine Gebrauchsanweisung zur weltweiten Liquidierung aller Nichtmuslime oder „falschen“ Muslime. Einziger Haken: es gibt genau so viele Stellen im Koran, die deutlich Gewalt und Krieg, ob „heilig“ oder nicht, predigen, ganz ähnlich wie es die Bibel und auch das Neue Testament tun. In allen „heiligen Schriften“ findet eben jeder das Seine, das heißt: das, was er gerade sucht.
Ein anderes gelungenes Reportagebuch stammt von Karin Leukefeld und handelt vom syrisch- islamistischen Schlamassel. Die Ethnologin, Islam- und Politikwissenschaftlerin berichtet seit fünfzehn Jahren als freie Journalistin aus dem Vorderen Orient. In ihren Darlegungen kommt sie auf etwas zu sprechen, das in der deutschsprachigen Welt des politischen Buches unterbelichtet ist: die Rolle Frankreichs im nahöstlichen Polit- und Revolutionstheater.
Bekanntlich hatte die französische Mandatsmacht in Syrien (1920-1946) die Kernlande der syrischen Alawiten, zu denen auch Baschar Al-Assad und sein engerer Clan gehören, an der Mittelmeerküste und in den sich ostwärts anschließenden Bergen zu einer kurzlebigen „Alawitenrepublik“ (1920-1936) ausgerufen, und von da an entwickelten sich die französisch-syro-alawitischen Techtelmechtel entlang eines roten Fadens, der hinführt bis zum 14. Juli 2007. Da sieht man Baschar Al-Assad, den Londoner Augenarzt, der nach dem Unfalltod seines Bruders Basil (1994) von Väterchen Hafez gezwungen wurde, Politiker zu werden, zusammen mit seiner besseren Hälfte als Gäste des Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy auf den Champs-Elysée die Militärparade zum französischen Nationalfeiertag abnehmen. Dieses „Familienfoto“ belastet Sarkozys Amtsnachfolger François Hollande bis auf den heutigen Tag; denn das Bild entstand eben nicht zufällig, sondern war das Ergebnis einer langen Geschichte.
Die alawitisch-syrisch-französische „Idylle“ wird auch augenfällig in einem Brief, den Soliman Al-Assad, der Grossvater Baschars, 1936 mitunterschrieben hatte: ein „Hilferuf“ an den frisch inthronisierten französischen Volksfront-Ministerpräsidenten Léon Blum. Darin wird das allgemeine Islam-Verständnis der sunnitischen Araber angeklagt sowie, vor allem, die Barbarei, mit der sie gegen die Juden von Damaskus und Palästina vorgingen. Umso skurriler wirkt das heutige Ritual der politischen Pariser Gebetsmühle: Der Assad-Herrschaft in Damaskus müsse um jeden Preis ein Ende bereitet werden. Widersprüchlicher geht es kaum. Franzosen und syrische Alawiten haben in ihren politischen Jugendjahren zu viele Kühe gemeinsam auf die Weide getrieben, um das jetzt zu verleugnen. Karin Leukefeld zufolge spiegelt sich das im Gegensatz zwischen dem Elysée-Palast und dem französischen Außenamt Quai d'Orsay. Der Präsident François Hollande will Baschar Al-Assad entmachten, viele seiner Diplomaten sind da aber eher zurückhaltend. Auch Barack Obama scheint in Sachen Baschar allmählich zu der Meinung zu neigen: Den brauchen wir vielleicht noch.
Wer tiefer hinter die syrisch-alawitisch-islamistischen Kaleidoskop-Bilder schauen möchte, greife nach Daniel Gerlachs fast 400 Seiten dickem Band „Herrschaft über Syrien“. Diese ungemein detailreiche Analyse des syrischen Alawiten-Schiiten-Sunniten-Syndroms schließt auch die nicht zu vernachlässigenden geopolitischen Regionalfaktoren mit ein, wie etwa die Bedeutung Irans. Doch das Ganze liest sich kapitelweise wie zusammengenagelte Geheimdienstakten. Die Überfrachtung des Textes mit Namen aus der inneren Linie der syrischen Macht-Nomenklatura, die viele Leser bestimmt zum ersten Mal gehört haben werden, macht die Lektüre nicht leichter. Ist das Buch jedoch durchgearbeitet und sind die aufgezeigten Zusammenhänge durchdacht, hat man in Sachen des damaszener Zirkus-Chaos’ einiges dazugelernt.
Die IS-Soldateska bedroht nun die antiken Stätten von Palmyra in der syrischen Wüste. Baschar Assads Truppen schlagen sich zunehmend schlecht, so dass seine Sponsoren hinter den Kulissen, Iraner und Russen, mittlerweile ernsthaft die Frage aufwerfen, ob Assad nicht besser daran täte, seine Kampfbemühungen auf den Großraum Damaskus sowie die eigentlichen alawitischen Homelands entlang der Mittelmeerküste (Lattakia und Tartus) sowie des sich ostwärts anschließenden alawitischen Berglandes zu beschränken.
Syrien könnte auseinanderbrechen. Wäre das Ergebnis die Wiedererweckung der „alawitischen Republik“ von Frankreichs Gnaden aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren, die Entstehung einer Art Alawistan? Die Russen würden dann ihren Flottenstützpunkt behalten und die Iraner einen Zugang zum Mittelmeer. Ob es dazu kommt? Eine wohl kaum sehr ferne Zukunft wird uns belehren.
Jürgen Todenhöfer: Inside IS – 10 Tage im „Islamischen Staat“. C. Bertelsmann Verlag, München 2015. 282 Seiten, 17,99 Euro.
Karin Leukefeld: Flächenbrand. Syrien, Irak, die Arabische Welt und der lslamische Staat. PapyRossa, Köln 2015. 230 Seiten, 14,90 Euro.
Daniel Gerlach: Herrschaft über Syrien. Macht und Manipulation unter Assad. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 392 Seiten, 17 Euro.
Der deutsch-französische Sozialwissenschaftler Wolfgang Freund arbeitete von 2002 bis 2014 als Nordafrika- und Nahostkorrespondent. Er lebt in Südfrankreich.
Die schlimmsten Grausamkeiten
verüben IS-Kämpfer
aus westlichen Ländern
Syrien könnte auseinanderbrechen.
Übrig bliebe dann
eine „alawitische Republik“
Die Terrororganisation IS behauptet sich. Im Norden des Irak beherrscht sie große Gebiete, und unklar ist, wie sie von dort vertrieben oder gar besiegt werden kann.
Zeichnung: Haderer
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