Kana wäre eine vergessene Stadt irgendwo in Thüringen, hätte ihre abgelegene Trostlosigkeit nicht Neonazis angelockt. Die Einwohner betrachten sie mit Angst und Argwohn. Allein Florian Herscht meint, er habe Freunde auf beiden Seiten: ein hilfsbereiter Muskelprotz, der sich vor Tattoos fürchtet und glaubt, das Universum stürze demnächst ins Nichts. Um alle vor der vermeintlichen Katastrophe zu warnen, schreibt er Briefe an Frau Merkel, die ohne Antwort bleiben. Doch seine Unschuld macht ihn hellsichtig, und nur die Musik Bachs kann ihn trösten. Plötzlich tauchen am Waldrand Wölfe auf, die Apokalypse rückt tatsächlich näher...
Literarisch mit großem Sog überrascht László Krasznahorkai mit einem Roman voll beängstigender deutscher Gegenwart, mit melancholischem Humor und abgründigem Sarkasmus.
»Lange ist mir ein Protagonist nicht mehr so ans Herz gewachsen wie Florian Herscht. Gemeinerweise kann man in diesem Buch nie aufhören zu lesen. Ich sage es nicht mal neidisch, sondern als Beschenkter: László Krasznahorkai hat den heutigen deutschen Roman geschrieben.«
Ingo Schulze
»Dieses Buch ist wie der Teilchenbeschleuniger, vor dem sich Herscht so fürchtet... Ein unfassbarer Teufelstango!«
Clemens Meyer
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Literarisch mit großem Sog überrascht László Krasznahorkai mit einem Roman voll beängstigender deutscher Gegenwart, mit melancholischem Humor und abgründigem Sarkasmus.
»Lange ist mir ein Protagonist nicht mehr so ans Herz gewachsen wie Florian Herscht. Gemeinerweise kann man in diesem Buch nie aufhören zu lesen. Ich sage es nicht mal neidisch, sondern als Beschenkter: László Krasznahorkai hat den heutigen deutschen Roman geschrieben.«
Ingo Schulze
»Dieses Buch ist wie der Teilchenbeschleuniger, vor dem sich Herscht so fürchtet... Ein unfassbarer Teufelstango!«
Clemens Meyer
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Solitär der Gegenwartsliteratur Thomas David WDR 3 20230909
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Kartoffeln
mit Quarks
Der große Weltbürger László Krasznahorkai
wählt das kleine Thüringen als Schauplatz einer
transzendenten Verirrung
Irgendwann schreibt Florian Herscht aus 07769 Kana den Namen der Kanzlerin auf ein Schild und geht damit zum Bahnhof. Dort steht er dann und hält einsam seine Pappe hoch, in gespannter Erwartung von „ANGELA MERKEL“. Herscht hält das Schild immer so lange, „bis der letzte Reisende ausgestiegen war, doch Angela Merkel kam nicht, zudem verspottete ihn bald nicht mehr nur der Boss dafür, dass er auf den Bahnhof ging, sondern alle, denen er begegnete, denn natürlich hatte es sich schnell in Kana herumgesprochen, auf wen Florian wartete und dass er glaubte, die Merkel würde ausgerechnet mit dem Zug herkommen und so weiter, und es hagelte eine Pointe nach der anderen ...“
Wer sich je gefragt hat, was sind das für Leute, die Briefe schreiben an den Bundespräsidenten oder die Kanzlerin – hier lernen wir einen kennen. Florian Herscht war Heimkind in Jena, niemand hat ihn je irgendwo willkommen geheißen. Es war „der Boss“, der Herscht aus dem Heim holte und ihm eine Arbeit und eine Wohnung in der Platte in Kana besorgte, einer südlich von Jena im Saaletal gelegenen Kleinstadt, die nicht nur phonetisch an das real existierende Kahla erinnert. Herscht ist „dem Boss“ für dieses Herausholen mehr ergeben als nur dankbar, was aber leider seiner Einfalt mehr zuzuschreiben ist, als es objektiv angebracht wäre.
„Der Boss“ schlägt Herscht, wann immer der etwas Dummes sagt oder mal wieder begriffsstutzig ist. „Der Boss“ lässt Herscht durchgängig Hartz IV beziehen und ihn gleichzeitig für neunzig schwarze Euro die Woche voll arbeiten in seiner Gebäudereinigung, die im Handelsregister nicht zufällig geführt wird unter dem Firmennamen „Alles wird rein“. „Der Boss“ ist nämlich auch Anführer einer kleinen, traurigen Nazitruppe vor Ort, einer sonderbaren Verliererallianz aus teils zahnlosen, unterschiedlich wahnhaften und sämtlich kartoffeligen Randfiguren, die mit reichlich Ur-Saalfelder aus dem Netto gegen ihre geistige und emotionale Obdachlosigkeit antrinken.
Als viel interessanter erweist sich im Vergleich dazu die Figur des Florian Herscht. Deren Introspektion bleibt zwar unergiebig, weil Herschts Einfalt kein rein äußerliches Phänomen ist. Herscht ist ein Sonderling, dessen Eigenartigkeit von nichts aufgeladen oder ausgeglichen würde. Da ist keine Inselbegabung und auch sonst nichts Genialisches, da ist einfach nur ein gutmütiger Idiot, der nicht viel Glück hatte in seinem bisherigen Leben.
Dem heranwachsenden Herscht fehlte es offenkundig früh an Liebe und Geborgenheit, er hat auch deswegen bis in seine nun erreichten Zwanziger Angst vor Frauen und bleibt unfrei selbst in seinen Gedanken. Was weiß, was denkt Herscht beispielsweise über die körperliche Liebe? Tja, „solche Dinge, dachte Florian, besprach man nicht einmal mit sich selbst“. Wie der Erzähler und wie auch die Menschen in Kana auf Herscht blicken, lässt sich schon aus Bezugnahmen wie diesen lesen. Die Verwendung des Vornamens Florian ist da eine vergleichsweise freundliche Herabsetzung eines körperlich erwachsenen, ja in Statur und Bartwuchs sogar wuchernden Mannes. Herscht wird in den oft wechselnden Perspektiven mal „Florian-Kind“ genannt oder „der Betreffende“, andere nennen ihn ein „spinnertes Waisenkind“ oder mit Haha-Fingerzeig den „Goliath von Kana“.
Herscht ist vom Typ einer, der auch dann nickt, wenn er absolut nichts versteht von dem, was ihm gerade gesagt wird. Er muss deshalb untergehen in jener neuen Welt, die sich ihm, der zuvor die Hauptschule und eine Bäckerausbildung mit Berufsschule absolviert hatte, in einem Volkshochschulkurs bei seinem Dozenten „Herrn Köhler“ eröffnet. Was Florian Herscht als „die wunderbare Welt der Elementarteilchen“ ohne wirkliches Verständnis kennenzulernen beginnt, mutiert in seinem Kopf bald zu einem dynamisch amorphen Verschwörungsglauben an das bevorstehende Ende der Welt. In so redundanten wie undurchsichtigen Begründungsschleifen hetzt Herscht Quarks aufeinander und nimmt die „Annihilation zwischen Materie und Antimaterie“ als irgendwie zwangsläufig an, all dies, natürlich, in indirekter Rede. Wie Herscht wirklich spricht, bleibt eigenen Vorstellungskräften überlassen.
Formal ist dieser Roman von László Krasznahorkai auch sonst wieder eine herausfordernde Mischung aus Vergnügen und Antivergnügen, allerdings ohne dass beides sich gegenseitig auslöschte. Über die kompletten 400 Seiten von „Herscht 07769“ zieht sich ein einziger (!), von Kommata notstrukturierter und doch auch interessant rhythmisierter Satz. So routiniert, wie es eingangs geschrieben steht, so unkommentiert kann man das „Aus dem Ungarischen von Heike Flemming“ schon deswegen nicht stehen lassen. Stattdessen möchte man gleich ins reale Porzellanstädtchen Kahla fahren und in Zusammenarbeit mit der örtlichen Gilde einen neuen Preis stiften speziell für die Übersetzung Krasznahorkais. Der erste Kahlaer Bandwurm in Gold ginge dann also an Heike Flemming, herzlichen Glückwunsch.
Durch die jedenfalls kreisenden Gedanken aller möglichen Antihelden der Kleinstadt entsteht eine fiebrige Transzendenz, in der sich der öde Alltag Kanas irgendwie belastbar verbindet mit den verrücktesten Vorkommen. Zwar kommt im Verlauf weiterhin nicht Angela Merkel, aber es kommen echte Wölfe, die Menschen anfallen, es geschieht zunächst mysteriöser Vandalismus an Gedenkorten für Johann Sebastian Bach und später unzweifelhafter Terrorismus, bei dem Menschen sterben und eine Tankstelle in Flammen aufgeht. Von Komma zu Komma schreitet die allmähliche Verfinsterung allen Seins fort – und was als teilweise feinsinnig lustige Erzählung beginnt, in der Herscht eben am Bahnhof mit seinem Schild steht oder die vom Obernazi „Der Boss“ ahnungslos angeführten Laienmusiker der „Kanaer Symphoniker“ immer wieder scheitern in dem Versuch, irgendetwas von Bach auf die Kette zu kriegen, was also als so herrliche Satire aus der Provinz beginnt, wird mehr und mehr zu einem tatsächlichen bedrückenden Epos der Hoffnungslosigkeit wie des Untergangs.
Der global gelesene und global erfolgreiche László Krasznahorkai erhielt 2015 den Man Booker International Prize und gerade eben erst den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Zwar lebt er seit Ewigkeiten zeitweise in Berlin und erfährt schon deswegen eine gewisse Nähe zu Deutschland. Dass er sein Buch jetzt aber im kleinen Thüringen spielen lässt, ist doch im guten Sinne wunderlich, es ist, als habe jemand László Krasznahorkai auf ein Schild geschrieben, hätte es am Bahnhof von Kana respektive Kahla hochgehalten und dann wäre Krasznahorkai tatsächlich aus einem von Jena einfahrenden Zug gestiegen für eine literarische Inspektion der Lebensverhältnisse im ländlichen Osten der Gegenwart.
Diese Inspektion ist teils schwer zu konsumieren, aber sie ist ohne Zweifel in besonderer Weise gelungen – auch weil sie über die Figuren des Romans von einer inneren Unruhe erzählt, die in die Zeit passt wie auch in die skizzierte Region, eine Unruhe, die einer Frage folgt, wie sie im Bachwerkeverzeichnis zu finden ist unter der Ordnungsziffer 5: „Wo soll ich fliehen hin“.
CORNELIUS POLLMER
So ein
Mensch,
der nickt,
auch wenn
er absolut
nichts
versteht
László Krasznahorkai: Herscht 07769. Roman. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2021.
416 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
mit Quarks
Der große Weltbürger László Krasznahorkai
wählt das kleine Thüringen als Schauplatz einer
transzendenten Verirrung
Irgendwann schreibt Florian Herscht aus 07769 Kana den Namen der Kanzlerin auf ein Schild und geht damit zum Bahnhof. Dort steht er dann und hält einsam seine Pappe hoch, in gespannter Erwartung von „ANGELA MERKEL“. Herscht hält das Schild immer so lange, „bis der letzte Reisende ausgestiegen war, doch Angela Merkel kam nicht, zudem verspottete ihn bald nicht mehr nur der Boss dafür, dass er auf den Bahnhof ging, sondern alle, denen er begegnete, denn natürlich hatte es sich schnell in Kana herumgesprochen, auf wen Florian wartete und dass er glaubte, die Merkel würde ausgerechnet mit dem Zug herkommen und so weiter, und es hagelte eine Pointe nach der anderen ...“
Wer sich je gefragt hat, was sind das für Leute, die Briefe schreiben an den Bundespräsidenten oder die Kanzlerin – hier lernen wir einen kennen. Florian Herscht war Heimkind in Jena, niemand hat ihn je irgendwo willkommen geheißen. Es war „der Boss“, der Herscht aus dem Heim holte und ihm eine Arbeit und eine Wohnung in der Platte in Kana besorgte, einer südlich von Jena im Saaletal gelegenen Kleinstadt, die nicht nur phonetisch an das real existierende Kahla erinnert. Herscht ist „dem Boss“ für dieses Herausholen mehr ergeben als nur dankbar, was aber leider seiner Einfalt mehr zuzuschreiben ist, als es objektiv angebracht wäre.
„Der Boss“ schlägt Herscht, wann immer der etwas Dummes sagt oder mal wieder begriffsstutzig ist. „Der Boss“ lässt Herscht durchgängig Hartz IV beziehen und ihn gleichzeitig für neunzig schwarze Euro die Woche voll arbeiten in seiner Gebäudereinigung, die im Handelsregister nicht zufällig geführt wird unter dem Firmennamen „Alles wird rein“. „Der Boss“ ist nämlich auch Anführer einer kleinen, traurigen Nazitruppe vor Ort, einer sonderbaren Verliererallianz aus teils zahnlosen, unterschiedlich wahnhaften und sämtlich kartoffeligen Randfiguren, die mit reichlich Ur-Saalfelder aus dem Netto gegen ihre geistige und emotionale Obdachlosigkeit antrinken.
Als viel interessanter erweist sich im Vergleich dazu die Figur des Florian Herscht. Deren Introspektion bleibt zwar unergiebig, weil Herschts Einfalt kein rein äußerliches Phänomen ist. Herscht ist ein Sonderling, dessen Eigenartigkeit von nichts aufgeladen oder ausgeglichen würde. Da ist keine Inselbegabung und auch sonst nichts Genialisches, da ist einfach nur ein gutmütiger Idiot, der nicht viel Glück hatte in seinem bisherigen Leben.
Dem heranwachsenden Herscht fehlte es offenkundig früh an Liebe und Geborgenheit, er hat auch deswegen bis in seine nun erreichten Zwanziger Angst vor Frauen und bleibt unfrei selbst in seinen Gedanken. Was weiß, was denkt Herscht beispielsweise über die körperliche Liebe? Tja, „solche Dinge, dachte Florian, besprach man nicht einmal mit sich selbst“. Wie der Erzähler und wie auch die Menschen in Kana auf Herscht blicken, lässt sich schon aus Bezugnahmen wie diesen lesen. Die Verwendung des Vornamens Florian ist da eine vergleichsweise freundliche Herabsetzung eines körperlich erwachsenen, ja in Statur und Bartwuchs sogar wuchernden Mannes. Herscht wird in den oft wechselnden Perspektiven mal „Florian-Kind“ genannt oder „der Betreffende“, andere nennen ihn ein „spinnertes Waisenkind“ oder mit Haha-Fingerzeig den „Goliath von Kana“.
Herscht ist vom Typ einer, der auch dann nickt, wenn er absolut nichts versteht von dem, was ihm gerade gesagt wird. Er muss deshalb untergehen in jener neuen Welt, die sich ihm, der zuvor die Hauptschule und eine Bäckerausbildung mit Berufsschule absolviert hatte, in einem Volkshochschulkurs bei seinem Dozenten „Herrn Köhler“ eröffnet. Was Florian Herscht als „die wunderbare Welt der Elementarteilchen“ ohne wirkliches Verständnis kennenzulernen beginnt, mutiert in seinem Kopf bald zu einem dynamisch amorphen Verschwörungsglauben an das bevorstehende Ende der Welt. In so redundanten wie undurchsichtigen Begründungsschleifen hetzt Herscht Quarks aufeinander und nimmt die „Annihilation zwischen Materie und Antimaterie“ als irgendwie zwangsläufig an, all dies, natürlich, in indirekter Rede. Wie Herscht wirklich spricht, bleibt eigenen Vorstellungskräften überlassen.
Formal ist dieser Roman von László Krasznahorkai auch sonst wieder eine herausfordernde Mischung aus Vergnügen und Antivergnügen, allerdings ohne dass beides sich gegenseitig auslöschte. Über die kompletten 400 Seiten von „Herscht 07769“ zieht sich ein einziger (!), von Kommata notstrukturierter und doch auch interessant rhythmisierter Satz. So routiniert, wie es eingangs geschrieben steht, so unkommentiert kann man das „Aus dem Ungarischen von Heike Flemming“ schon deswegen nicht stehen lassen. Stattdessen möchte man gleich ins reale Porzellanstädtchen Kahla fahren und in Zusammenarbeit mit der örtlichen Gilde einen neuen Preis stiften speziell für die Übersetzung Krasznahorkais. Der erste Kahlaer Bandwurm in Gold ginge dann also an Heike Flemming, herzlichen Glückwunsch.
Durch die jedenfalls kreisenden Gedanken aller möglichen Antihelden der Kleinstadt entsteht eine fiebrige Transzendenz, in der sich der öde Alltag Kanas irgendwie belastbar verbindet mit den verrücktesten Vorkommen. Zwar kommt im Verlauf weiterhin nicht Angela Merkel, aber es kommen echte Wölfe, die Menschen anfallen, es geschieht zunächst mysteriöser Vandalismus an Gedenkorten für Johann Sebastian Bach und später unzweifelhafter Terrorismus, bei dem Menschen sterben und eine Tankstelle in Flammen aufgeht. Von Komma zu Komma schreitet die allmähliche Verfinsterung allen Seins fort – und was als teilweise feinsinnig lustige Erzählung beginnt, in der Herscht eben am Bahnhof mit seinem Schild steht oder die vom Obernazi „Der Boss“ ahnungslos angeführten Laienmusiker der „Kanaer Symphoniker“ immer wieder scheitern in dem Versuch, irgendetwas von Bach auf die Kette zu kriegen, was also als so herrliche Satire aus der Provinz beginnt, wird mehr und mehr zu einem tatsächlichen bedrückenden Epos der Hoffnungslosigkeit wie des Untergangs.
Der global gelesene und global erfolgreiche László Krasznahorkai erhielt 2015 den Man Booker International Prize und gerade eben erst den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Zwar lebt er seit Ewigkeiten zeitweise in Berlin und erfährt schon deswegen eine gewisse Nähe zu Deutschland. Dass er sein Buch jetzt aber im kleinen Thüringen spielen lässt, ist doch im guten Sinne wunderlich, es ist, als habe jemand László Krasznahorkai auf ein Schild geschrieben, hätte es am Bahnhof von Kana respektive Kahla hochgehalten und dann wäre Krasznahorkai tatsächlich aus einem von Jena einfahrenden Zug gestiegen für eine literarische Inspektion der Lebensverhältnisse im ländlichen Osten der Gegenwart.
Diese Inspektion ist teils schwer zu konsumieren, aber sie ist ohne Zweifel in besonderer Weise gelungen – auch weil sie über die Figuren des Romans von einer inneren Unruhe erzählt, die in die Zeit passt wie auch in die skizzierte Region, eine Unruhe, die einer Frage folgt, wie sie im Bachwerkeverzeichnis zu finden ist unter der Ordnungsziffer 5: „Wo soll ich fliehen hin“.
CORNELIUS POLLMER
So ein
Mensch,
der nickt,
auch wenn
er absolut
nichts
versteht
László Krasznahorkai: Herscht 07769. Roman. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2021.
416 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Judith von Sternburg kann sich Laszlo Krasznahorkais Helden, einem verwirrten jungen Mann in der ostthüringischen Provinz, der von einem Nazi-Übervater mit rechtem Gedankengut, Weltende-Szenarien und Musik von Bach infiziert wurde, nicht entziehen, auch wenn die Handlung im Verlauf ziemlich blutig wird und Köpfe rollen. Formal erfüllt der Autor laut Sternburg sämtliche mit seiner Kunst verbundene Erwartungen, indem er ohne Satzpunkte, dafür mit umso mehr Kommas schreibt. Wie eine Nachbildung des Zeitstroms kommt Sternburg der Text vor, wie ein langer Atemzug, menschlich, unmenschlich, unentrinnbar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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