Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.07.2004 Band 20
Weißer Fleck, schwarze Seele
Joseph Conrads Novelle „Das Herz der Finsternis”
Die Reise beginnt mit einem weißen Fleck auf der Landkarte. Neun Jahre alt ist der kleine Jozéf, als er sich mit Hilfe von Atlanten aus dem russischen Exil fort träumt, in das es die Familie Korzeniowski 1862 nach ihrer importunen Unterstützung für die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen verschlagen hat. Mit dem Finger zeigt er auf die noch nicht vermessene Leere im Herzen Afrikas: „Da will ich hin!”
Jahre später ist er tatsächlich dort. Von Wologda in Nordrussland zum oberen Flusslauf des Kongos: Es ist eine Reise mit vielen Umwegen. Zunächst wird Jozéf Korzeniowski nach dem frühen Tod der Eltern zum Onkel in der Schweiz geschickt, dann heuert er auf französischen Schiffen an, schmuggelt Waffen für den Karlistenaufstand in Spanien, lernt als 21-Jähriger Englisch, dient sich hoch, bis er 1890 das Kommando für eine Kongofahrt erhält. Es wird zum Himmelfahrtskommando, auf dem er dem Tod ins Angesicht blickt.
Und dennoch kehrt er zu den überwucherten Wasserarmen zurück und reist ein zweites Mal den Fluss hinauf - diesmal, neun Jahre später, in Gedanken. In kühler, subtil symbolhafter Prosa lässt Joseph Conrad, wie sich Korzeniowski nach seiner Einbürgerung in Großbritannien nennt, den Seefahrer Marlow von seiner Expedition ins Reich der Finsternis erzählen. Während die Matrosen bei London vor Anker liegen, folgen sie dem Erzählstrom Marlows die Themse hinunter, hinaus aufs Meer, hinein in den Urwald, vom Kopf zum dunkel pulsierenden Herzen des Kolonialismus, das das weiße Gold Elfenbein in die Wasserwege der Seefahrermacht wie in deren imaginäre Arterien pumpt. Am Ende wartet der mysteriöse, sich ganz der Kontrolle der Handelsgesellschaft entziehende Elfenbeinhändler Kurtz schon auf Marlow, der ihn zurück in die zivilisierte Welt holen soll.
Marlows Reise ist tatsächlich eine hinaus aus der Zivilisation. Sie führt ihn weiter als ins düstere Zentrum der Kolonialherrschaft, sie führt ihn, den zivilisierten Menschen, in die barbarische Mitte seiner selbst. Der Urwald wird hier zur Seelenlandschaft, zum undurchdringlichen Dickicht archaischer Begierden. „Herz der Finsternis”, ein Jahr vor Freuds „Traumdeutung” von 1900 erschienen, wirkt wie das literarische Erwachen des Unbewussten. Es ist ein grauenvolles Buch im Wortsinn: Das Grauen fällt den Leser an wie ein Raubtier aus dem Unterholz. Und das Schlimmste ist: Jeder trägt diesen Urwald in sich. Kurtz, dieser Wahnsinnige, der mitten im Dschungel eine Schreckensherrschaft errichtet hat, der sich vergöttern lässt und Menschenopfer verlangt, wirkt nicht nur auf Marlow unwiderstehlich faszinierend, weil er die dunklen, tabuisierten Triebe auslebt, die zum Menschen gehören wie ein Schatten, weil er hurt, weil er foltert, weil er tötet, weil er sich anbeten lässt, wie wir es alle gerne täten. Für Chinua Achebe war Conrad „a bloody racist”. Schlimmer kann man ihn nicht missverstehen. Seine Novelle zeigt, dass das Wilde in uns allen wohnt, unabhängig von unserer Herkunft, dass unter dem lichten Kleid der Zivilisation allenthalben das schwarze Herz der Barbarei schlägt.
Am Ende bringen sie Kurtz auf das Schiff, um ihn aus seinem Größenwahn zu reißen - ein Versuch, der scheitern muss. Doch die Reise ist damit noch nicht zu Ende. Die des Lesers beginnt erst: die Reise in eine unruhige Nacht mit dunklen Träumen, die Reise ins Herz der eigenen Finsternis.
RALF HERTEL
Joseph Conrad
Foto: SV-Bilderdienst
Weißer Fleck, schwarze Seele
Joseph Conrads Novelle „Das Herz der Finsternis”
Die Reise beginnt mit einem weißen Fleck auf der Landkarte. Neun Jahre alt ist der kleine Jozéf, als er sich mit Hilfe von Atlanten aus dem russischen Exil fort träumt, in das es die Familie Korzeniowski 1862 nach ihrer importunen Unterstützung für die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen verschlagen hat. Mit dem Finger zeigt er auf die noch nicht vermessene Leere im Herzen Afrikas: „Da will ich hin!”
Jahre später ist er tatsächlich dort. Von Wologda in Nordrussland zum oberen Flusslauf des Kongos: Es ist eine Reise mit vielen Umwegen. Zunächst wird Jozéf Korzeniowski nach dem frühen Tod der Eltern zum Onkel in der Schweiz geschickt, dann heuert er auf französischen Schiffen an, schmuggelt Waffen für den Karlistenaufstand in Spanien, lernt als 21-Jähriger Englisch, dient sich hoch, bis er 1890 das Kommando für eine Kongofahrt erhält. Es wird zum Himmelfahrtskommando, auf dem er dem Tod ins Angesicht blickt.
Und dennoch kehrt er zu den überwucherten Wasserarmen zurück und reist ein zweites Mal den Fluss hinauf - diesmal, neun Jahre später, in Gedanken. In kühler, subtil symbolhafter Prosa lässt Joseph Conrad, wie sich Korzeniowski nach seiner Einbürgerung in Großbritannien nennt, den Seefahrer Marlow von seiner Expedition ins Reich der Finsternis erzählen. Während die Matrosen bei London vor Anker liegen, folgen sie dem Erzählstrom Marlows die Themse hinunter, hinaus aufs Meer, hinein in den Urwald, vom Kopf zum dunkel pulsierenden Herzen des Kolonialismus, das das weiße Gold Elfenbein in die Wasserwege der Seefahrermacht wie in deren imaginäre Arterien pumpt. Am Ende wartet der mysteriöse, sich ganz der Kontrolle der Handelsgesellschaft entziehende Elfenbeinhändler Kurtz schon auf Marlow, der ihn zurück in die zivilisierte Welt holen soll.
Marlows Reise ist tatsächlich eine hinaus aus der Zivilisation. Sie führt ihn weiter als ins düstere Zentrum der Kolonialherrschaft, sie führt ihn, den zivilisierten Menschen, in die barbarische Mitte seiner selbst. Der Urwald wird hier zur Seelenlandschaft, zum undurchdringlichen Dickicht archaischer Begierden. „Herz der Finsternis”, ein Jahr vor Freuds „Traumdeutung” von 1900 erschienen, wirkt wie das literarische Erwachen des Unbewussten. Es ist ein grauenvolles Buch im Wortsinn: Das Grauen fällt den Leser an wie ein Raubtier aus dem Unterholz. Und das Schlimmste ist: Jeder trägt diesen Urwald in sich. Kurtz, dieser Wahnsinnige, der mitten im Dschungel eine Schreckensherrschaft errichtet hat, der sich vergöttern lässt und Menschenopfer verlangt, wirkt nicht nur auf Marlow unwiderstehlich faszinierend, weil er die dunklen, tabuisierten Triebe auslebt, die zum Menschen gehören wie ein Schatten, weil er hurt, weil er foltert, weil er tötet, weil er sich anbeten lässt, wie wir es alle gerne täten. Für Chinua Achebe war Conrad „a bloody racist”. Schlimmer kann man ihn nicht missverstehen. Seine Novelle zeigt, dass das Wilde in uns allen wohnt, unabhängig von unserer Herkunft, dass unter dem lichten Kleid der Zivilisation allenthalben das schwarze Herz der Barbarei schlägt.
Am Ende bringen sie Kurtz auf das Schiff, um ihn aus seinem Größenwahn zu reißen - ein Versuch, der scheitern muss. Doch die Reise ist damit noch nicht zu Ende. Die des Lesers beginnt erst: die Reise in eine unruhige Nacht mit dunklen Träumen, die Reise ins Herz der eigenen Finsternis.
RALF HERTEL
Joseph Conrad
Foto: SV-Bilderdienst
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2004»HERZ DER FINSTERNIS«
Eigentlich ist es immer gerade das, was ich als nächstes lesen will. Meist kommt irgend etwas dazwischen, das keinen Aufschub duldet, etwas Wichtigeres, Aktuelles, das ich mir unbedingt gleich vornehmen muß. Bei meinem Lieblingsbuch dagegen weiß ich ja schon, was drinsteht. Wozu es also nochmals lesen? Weil es mir jedesmal aufs neue fremd und aufregend und anders vorkommt. Vielleicht verhält es sich mit Büchern tatsächlich wie im Leben: Das wahrhaft Liebste ist so unwahrscheinlich, daß man nie aufhört, darüber zu staunen.
Bei der zweiten Lektüre war mir die erste ziemlich peinlich. Schon erstaunlich, dachte ich, wie mich dieses Seemannsgarn dermaßen fesseln konnte. Reiseabenteuer vor Urwaldkulisse - was man halt in jungen Jahren so mag. Doch wieso hätte ich es später wohl noch einmal lesen wollen, wären mir darin nicht so viele unbehagliche Momente düster in Erinnerung geblieben, die so gar nicht in das populäre Muster passen. Erst beim dritten Mal begriff ich: Diese irrsinnige Flußfahrt, von der hier erzählt wird, führt nicht ins Innere irgendeines fremden Kontinents, sondern geradewegs ins eigene Grauen, den blinden Fleck unserer Zivilisation. Beim vierten Lesen dann, ich war inzwischen besser informiert, sah alles anders aus. Wie hatte ich übersehen können, daß diese psychologische Parabel ihre schnöde Voraussetzung in der kolonialen Weltsicht hat, die den weißen Mann ins Zentrum und alle anderen an den Rand stellt? Kein Wunder, daß im zwanzigsten Jahrhundert große Autoren aus Afrika oder der Karibik diese befremdliche Geschichte vielfach neu und anders erzählt haben. Kein Wunder aber auch, daß ich mir den kurzen Text, der soviel Widerspruch herausfordert, immer wieder vornehme.
Erst neulich schien es mir dabei, als sei die zentrale Figur nur ein notdürftiger Platzhalter, der für uns einsteht, während alles Wichtige sich ganz am Rand vollzieht. Zum Beispiel gibt es da jene erstaunliche Stelle, wo der Held mitten im Urwald, in der schrecklichsten Einöde, ausgerechnet auf ein Buch stößt. Darin muß irgend etwas Entscheidendes gesagt sein, aber was genau, bleibt unklar. Eigentlich muß ich Joseph Conrads "Herz der Finsternis" demnächst dringend wieder einmal lesen.
TOBIAS DÖRING
Informationen zu "Unsere Besten - Das große Lesen", einer gemeinsamen Aktion von ZDF und F.A.Z., finden sich im Internet unter www.faz.net/lesen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eigentlich ist es immer gerade das, was ich als nächstes lesen will. Meist kommt irgend etwas dazwischen, das keinen Aufschub duldet, etwas Wichtigeres, Aktuelles, das ich mir unbedingt gleich vornehmen muß. Bei meinem Lieblingsbuch dagegen weiß ich ja schon, was drinsteht. Wozu es also nochmals lesen? Weil es mir jedesmal aufs neue fremd und aufregend und anders vorkommt. Vielleicht verhält es sich mit Büchern tatsächlich wie im Leben: Das wahrhaft Liebste ist so unwahrscheinlich, daß man nie aufhört, darüber zu staunen.
Bei der zweiten Lektüre war mir die erste ziemlich peinlich. Schon erstaunlich, dachte ich, wie mich dieses Seemannsgarn dermaßen fesseln konnte. Reiseabenteuer vor Urwaldkulisse - was man halt in jungen Jahren so mag. Doch wieso hätte ich es später wohl noch einmal lesen wollen, wären mir darin nicht so viele unbehagliche Momente düster in Erinnerung geblieben, die so gar nicht in das populäre Muster passen. Erst beim dritten Mal begriff ich: Diese irrsinnige Flußfahrt, von der hier erzählt wird, führt nicht ins Innere irgendeines fremden Kontinents, sondern geradewegs ins eigene Grauen, den blinden Fleck unserer Zivilisation. Beim vierten Lesen dann, ich war inzwischen besser informiert, sah alles anders aus. Wie hatte ich übersehen können, daß diese psychologische Parabel ihre schnöde Voraussetzung in der kolonialen Weltsicht hat, die den weißen Mann ins Zentrum und alle anderen an den Rand stellt? Kein Wunder, daß im zwanzigsten Jahrhundert große Autoren aus Afrika oder der Karibik diese befremdliche Geschichte vielfach neu und anders erzählt haben. Kein Wunder aber auch, daß ich mir den kurzen Text, der soviel Widerspruch herausfordert, immer wieder vornehme.
Erst neulich schien es mir dabei, als sei die zentrale Figur nur ein notdürftiger Platzhalter, der für uns einsteht, während alles Wichtige sich ganz am Rand vollzieht. Zum Beispiel gibt es da jene erstaunliche Stelle, wo der Held mitten im Urwald, in der schrecklichsten Einöde, ausgerechnet auf ein Buch stößt. Darin muß irgend etwas Entscheidendes gesagt sein, aber was genau, bleibt unklar. Eigentlich muß ich Joseph Conrads "Herz der Finsternis" demnächst dringend wieder einmal lesen.
TOBIAS DÖRING
Informationen zu "Unsere Besten - Das große Lesen", einer gemeinsamen Aktion von ZDF und F.A.Z., finden sich im Internet unter www.faz.net/lesen.
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