Eine Kindheit im alten Schwabing, das hört sich nach Idylle an, insbesondere wenn man in familiärer Geborgenheit aufwächst. Die Idylle gab es: das Stadtviertel als Abenteuerspielplatz, der abendliche Auslauf, wenn man den Auftrag bekam, ein Bier für den Vater zu holen, der Familienpfiff. Doch es kamen die Nächte voller Todesangst im Luftschutzkeller, der Anblick der Ruinen, wenn man wieder herausgekrochen war, dann die Evakuierung aufs Land, wo die Stadtleute nicht willkommen waren, wo Außenseiter schikaniert oder auch einfach nach Strich und Faden verprügelt wurden.
Ali Mitgutsch, Jahrgang 1935, ist ein Kriegskind. Damals hat ihm die Fantasie geholfen, später kam der Humor dazu. Wie in einem Wimmelbild sind in diesem unsentimentalen Lebensrückblick viele kleine traurige und komische Geschichten zu einem großen Bild vereint.
Ali Mitgutsch, Jahrgang 1935, ist ein Kriegskind. Damals hat ihm die Fantasie geholfen, später kam der Humor dazu. Wie in einem Wimmelbild sind in diesem unsentimentalen Lebensrückblick viele kleine traurige und komische Geschichten zu einem großen Bild vereint.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2015Jedes Mal stand alles auf dem Spiel
Ali Mitgutsch, Vater der berühmten Wimmelbücher, schildert in seinem Erinnerungsbuch "Herzanzünder" eine Kindheit im Zweiten Weltkrieg
Am schlimmsten waren die alten Frauen. Wenn alle Hausbewohner im Luftschutzkeller versammelt waren und im kümmerlichen Kerzenschein dichtgedrängt saßen, dann erzählten sie einander, aber eben für alle anderen hörbar, was sie tagsüber so erfahren hatten: "Sie kannten all die Toten, die Zusammenbrüche, die Gräueltaten und Zerstörungen. Sie schienen mehr zu wissen als wir anderen, sie schienen auf ihre eigene Art und Weise in all die Schrecken und all das Elend des Krieges eingeweiht." Von Brandbomben sprachen sie, die etwa in die nahe gelegene Molkerei gefallen seien und alle dort Anwesenden auf entsetzliche Art ums Leben gebracht hätten, und wenn sich in solchen Momenten der detaillierten Schilderung nicht der Blockwart eingemischt und sich das "defätistische" Gerede verbeten hätte, wären die Albträume der Kinder wahrscheinlich noch etwas lebhafter geworden als ohnehin schon.
Der Blockwart hieß Ludwig Mitgutsch, einst Bäcker, nach einer im Ersten Weltkrieg erlittenen Verletzung nun Bahnbeamter. Der Keller lag in der Schraudolphstraße in der Maxvorstadt im Zentrum Münchens, wo Mitgutschs Familie wohnte. Und zu den Kindern gehörte der kleine Alfons, genannt Ali, geboren 1935 als jüngstes von vier Geschwistern.
Mitgutsch, der mit seinen Wimmelbüchern inzwischen zu den berühmtesten und meistverbreiteten deutschen Illustratoren zählt, schildert im kürzlich erschienenen Erinnerungsbuch "Herzanzünder" eine Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Sie ist bestimmt von Luftangriffen - "Jedes Mal stand alles auf dem Spiel", schreibt Mitgutsch -, von Hunger, Unsicherheit über das, was außerhalb der Wohnung gesagt werden darf, und tiefem Vertrauen in die Familie. Der ältere Bruder bleibt im Krieg, der Onkel kehrt als gebrochener Mann zurück, und die kriegsbedingte Evakuierung in den Bayerischen Wald und ins Allgäu erweist sich für Ali geradezu als traumatisch, so sehr setzen ihm die gehässigen Kinder zu, mit denen er es auf dem Land zu tun bekommt. Einmal locken sie ihn mit der Aussicht, sein verlorenes Taschenmesser auf der anderen Seite des Flusses gesehen zu haben, im tiefsten Winter auf eine Holzbrücke, die sie vorher offenbar angesägt haben. Der Junge bricht durch, bleibt, die Beine im eiskalten Wasser, mit den Armen an zwei Hölzern hängen. Niemand hilft ihm, als er sich mühsam ans andere Ufer hangelt. Von seinem Messer keine Spur.
Um all dies zu berichten, hat sich Mitgutsch Hilfe geholt. Als Ko-Autor wird der Publizist und Verfasser zahlreicher Drehbücher Ingmar Gregorzewski genannt, und dieser Zusammenarbeit mag sich der fesselnde, zielgerichtete Stil des Buchs verdanken, das sich liest wie eine Reihe kürzerer anekdotischer Berichte, die einer dem anderen erzählt. Manches kennt man so ähnlich aus anderen Memoirenbänden dieser Generation, hin und wieder wird man etwa an die autobiographischen Werke der ebenfalls 1935 geborenen Schriftsteller Dieter Kühn und Dieter Forte denken. Und wie bei diesen Autoren wird man auch hier besonders auf Passagen achten, die erklären könnten, in welcher Weise die Kriegserlebnisse dazu beigetragen haben könnten, aus dem Kind den späteren Künstler zu machen.
Irritierenderweise ist allerdings in Mitgutschs Buch kaum einmal die Rede vom Malen oder Zeichnen, obwohl sich im Abbildungsteil ein Bauernhaus findet, gezeichnet von dem offensichtlich talentierten Zwölfjährigen. Einmal ist von einem Liebesbrief des Jungen die Rede, der mangels Sicherheit im Rechtschreiben durch kalligraphische Elemente überzeugen muss (und auch überzeugt). Und schließlich gibt es ganz am Ende eine nächtliche Szene, in der Mitgutsch seiner Mutter das Einverständnis abringt, an der Graphischen Akademie studieren zu dürfen. Wie er zu diesem Wunsch kommt, bleibt an dieser Stelle unklar.
Zuvor allerdings wird diese Entwicklung bestens motiviert, und zwar nicht durch die Darstellung, wie etwa ein mit dem Stift geschickter Junge sich ausprobiert. Mitgutsch und sein Helfer setzen noch früher an. Einen großen Raum nimmt das Staunen des Jungen ein, der die Welt betrachtet und in sich aufnimmt, der erkennbar auch die Bilder des Schreckens als, wie es einmal heißt, "gigantisches Schauspiel" rezipiert. Wenn er mit den Erwachsenen durch das nach einem Bombenangriff brennende München geht, kneift der Junge die Augen ebenso wenig zu wie ein ganzes Leben später der erinnernde Erwachsene. Anders als in den Wimmelbüchern aber sind hier die Leichen in den Luftschutzkellern, die Wutausbrüche des Mobs oder die berstenden Stahlträger in den Ruinen das natürliche Gegenüber der eher heiteren Erinnerungen, der durchaus auch idyllischen Ländlichkeit, die in den Bilderbüchern das Übergewicht besitzen.
Auch derlei findet sich in "Herzanzünder", etwa eine Jahrmarktszene, die wie die Verschriftlichung eines Wimmelbildes wirkt, oder der kollektive abendliche Gang der Jungen zum Bierholen für die Väter, jeder mit einem Krug in der Hand. Das, schreibt Mitgutsch, war das weithin sichtbare Zeichen dafür, sich als Kind abends auf der Straße aufhalten zu dürfen. Im Rahmen des Buchs erfüllt diese Szene noch eine weitere Funktion als Kontrast: Denn später, in der Nachkriegszeit, bringen sich die hier geschilderten, oft genug sich selbst überlassenen Kinder ständig in ungeheure Gefahren, sei es durch übrig gebliebene Munition, sei es durch Erwachsene, die ihnen nachstellen, sei es durch einsturzgefährdete Trümmer, auf denen sie herumklettern.
Liebe zum Detail und Sinn fürs Ensemble: was Mitgutschs Wimmelbücher auszeichnet, findet sich ebenso in der souveränen Komposition der einzelnen Kapitel dieses leichtfüßigen und klugen Buchs. Morgen feiert der Autor seinen achtzigsten Geburtstag.
TILMAN SPRECKELSEN
Ali Mitgutsch, Ingmar Gregorzewski: "Herzanzünder". Mein Leben als Kind.
Verlag dtv, München 2015. 192 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ali Mitgutsch, Vater der berühmten Wimmelbücher, schildert in seinem Erinnerungsbuch "Herzanzünder" eine Kindheit im Zweiten Weltkrieg
Am schlimmsten waren die alten Frauen. Wenn alle Hausbewohner im Luftschutzkeller versammelt waren und im kümmerlichen Kerzenschein dichtgedrängt saßen, dann erzählten sie einander, aber eben für alle anderen hörbar, was sie tagsüber so erfahren hatten: "Sie kannten all die Toten, die Zusammenbrüche, die Gräueltaten und Zerstörungen. Sie schienen mehr zu wissen als wir anderen, sie schienen auf ihre eigene Art und Weise in all die Schrecken und all das Elend des Krieges eingeweiht." Von Brandbomben sprachen sie, die etwa in die nahe gelegene Molkerei gefallen seien und alle dort Anwesenden auf entsetzliche Art ums Leben gebracht hätten, und wenn sich in solchen Momenten der detaillierten Schilderung nicht der Blockwart eingemischt und sich das "defätistische" Gerede verbeten hätte, wären die Albträume der Kinder wahrscheinlich noch etwas lebhafter geworden als ohnehin schon.
Der Blockwart hieß Ludwig Mitgutsch, einst Bäcker, nach einer im Ersten Weltkrieg erlittenen Verletzung nun Bahnbeamter. Der Keller lag in der Schraudolphstraße in der Maxvorstadt im Zentrum Münchens, wo Mitgutschs Familie wohnte. Und zu den Kindern gehörte der kleine Alfons, genannt Ali, geboren 1935 als jüngstes von vier Geschwistern.
Mitgutsch, der mit seinen Wimmelbüchern inzwischen zu den berühmtesten und meistverbreiteten deutschen Illustratoren zählt, schildert im kürzlich erschienenen Erinnerungsbuch "Herzanzünder" eine Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Sie ist bestimmt von Luftangriffen - "Jedes Mal stand alles auf dem Spiel", schreibt Mitgutsch -, von Hunger, Unsicherheit über das, was außerhalb der Wohnung gesagt werden darf, und tiefem Vertrauen in die Familie. Der ältere Bruder bleibt im Krieg, der Onkel kehrt als gebrochener Mann zurück, und die kriegsbedingte Evakuierung in den Bayerischen Wald und ins Allgäu erweist sich für Ali geradezu als traumatisch, so sehr setzen ihm die gehässigen Kinder zu, mit denen er es auf dem Land zu tun bekommt. Einmal locken sie ihn mit der Aussicht, sein verlorenes Taschenmesser auf der anderen Seite des Flusses gesehen zu haben, im tiefsten Winter auf eine Holzbrücke, die sie vorher offenbar angesägt haben. Der Junge bricht durch, bleibt, die Beine im eiskalten Wasser, mit den Armen an zwei Hölzern hängen. Niemand hilft ihm, als er sich mühsam ans andere Ufer hangelt. Von seinem Messer keine Spur.
Um all dies zu berichten, hat sich Mitgutsch Hilfe geholt. Als Ko-Autor wird der Publizist und Verfasser zahlreicher Drehbücher Ingmar Gregorzewski genannt, und dieser Zusammenarbeit mag sich der fesselnde, zielgerichtete Stil des Buchs verdanken, das sich liest wie eine Reihe kürzerer anekdotischer Berichte, die einer dem anderen erzählt. Manches kennt man so ähnlich aus anderen Memoirenbänden dieser Generation, hin und wieder wird man etwa an die autobiographischen Werke der ebenfalls 1935 geborenen Schriftsteller Dieter Kühn und Dieter Forte denken. Und wie bei diesen Autoren wird man auch hier besonders auf Passagen achten, die erklären könnten, in welcher Weise die Kriegserlebnisse dazu beigetragen haben könnten, aus dem Kind den späteren Künstler zu machen.
Irritierenderweise ist allerdings in Mitgutschs Buch kaum einmal die Rede vom Malen oder Zeichnen, obwohl sich im Abbildungsteil ein Bauernhaus findet, gezeichnet von dem offensichtlich talentierten Zwölfjährigen. Einmal ist von einem Liebesbrief des Jungen die Rede, der mangels Sicherheit im Rechtschreiben durch kalligraphische Elemente überzeugen muss (und auch überzeugt). Und schließlich gibt es ganz am Ende eine nächtliche Szene, in der Mitgutsch seiner Mutter das Einverständnis abringt, an der Graphischen Akademie studieren zu dürfen. Wie er zu diesem Wunsch kommt, bleibt an dieser Stelle unklar.
Zuvor allerdings wird diese Entwicklung bestens motiviert, und zwar nicht durch die Darstellung, wie etwa ein mit dem Stift geschickter Junge sich ausprobiert. Mitgutsch und sein Helfer setzen noch früher an. Einen großen Raum nimmt das Staunen des Jungen ein, der die Welt betrachtet und in sich aufnimmt, der erkennbar auch die Bilder des Schreckens als, wie es einmal heißt, "gigantisches Schauspiel" rezipiert. Wenn er mit den Erwachsenen durch das nach einem Bombenangriff brennende München geht, kneift der Junge die Augen ebenso wenig zu wie ein ganzes Leben später der erinnernde Erwachsene. Anders als in den Wimmelbüchern aber sind hier die Leichen in den Luftschutzkellern, die Wutausbrüche des Mobs oder die berstenden Stahlträger in den Ruinen das natürliche Gegenüber der eher heiteren Erinnerungen, der durchaus auch idyllischen Ländlichkeit, die in den Bilderbüchern das Übergewicht besitzen.
Auch derlei findet sich in "Herzanzünder", etwa eine Jahrmarktszene, die wie die Verschriftlichung eines Wimmelbildes wirkt, oder der kollektive abendliche Gang der Jungen zum Bierholen für die Väter, jeder mit einem Krug in der Hand. Das, schreibt Mitgutsch, war das weithin sichtbare Zeichen dafür, sich als Kind abends auf der Straße aufhalten zu dürfen. Im Rahmen des Buchs erfüllt diese Szene noch eine weitere Funktion als Kontrast: Denn später, in der Nachkriegszeit, bringen sich die hier geschilderten, oft genug sich selbst überlassenen Kinder ständig in ungeheure Gefahren, sei es durch übrig gebliebene Munition, sei es durch Erwachsene, die ihnen nachstellen, sei es durch einsturzgefährdete Trümmer, auf denen sie herumklettern.
Liebe zum Detail und Sinn fürs Ensemble: was Mitgutschs Wimmelbücher auszeichnet, findet sich ebenso in der souveränen Komposition der einzelnen Kapitel dieses leichtfüßigen und klugen Buchs. Morgen feiert der Autor seinen achtzigsten Geburtstag.
TILMAN SPRECKELSEN
Ali Mitgutsch, Ingmar Gregorzewski: "Herzanzünder". Mein Leben als Kind.
Verlag dtv, München 2015. 192 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"'Herzanzünder' ist nicht nur für Münchner ein interessantes Stück Geschichte. Während Ali Mitgutsch aus seiner Kindheit erzählt, erfährt man nicht nur einiges über ihn, sondern auch über München im Zweiten Weltkrieg und danach." -- tulpentopf.de 27. Mai 2015
Was Mitgutschs Wimmelbücher auszeichnet, findet sich ebenso in der souveränen Komposition der einzelnen Kapitel dieses leichtfüßigen und klugen Buches. Tilman Spreckelsen Frankfurter Allgemeine Zeitung