Ein großer Roman über ein kleines Theater: die Augsburger Puppenkiste.
Ein zwölfjähriges Mädchen gerät nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden, auf dem viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer. Vor allem aber die Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat und nun ihre Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat. Sie beginnt im 2. Weltkrieg, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Gefangenschaft einen Puppenschnitzer kennenlernt und für die eigene Familie ein Marionettentheater baut. In der Bombennacht 1944 verbrennt es zu Schutt und Asche. »Herzfaden« erzählt von der Kraft der Fantasie in dunkler Zeit und von der Wiedergeburt dieses Theaters. Nach dem Krieg gibt Walters Tochter Hatü in der Augsburger Puppenkiste Waisenkindern wie dem Urmel und kleinen Helden wie Kalle Wirsch ein Gesicht. Generationen von Kindern sind mit ihren Marionetten aufgewachsen. Die Augsburger Puppenkiste gehört zur DNA dieses Landes, seit in der ersten TV-Serie im westdeutschen Fernsehen erstmals Jim Knopf auf den Bildschirmen erschien.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Ein zwölfjähriges Mädchen gerät nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden, auf dem viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer. Vor allem aber die Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat und nun ihre Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat. Sie beginnt im 2. Weltkrieg, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Gefangenschaft einen Puppenschnitzer kennenlernt und für die eigene Familie ein Marionettentheater baut. In der Bombennacht 1944 verbrennt es zu Schutt und Asche. »Herzfaden« erzählt von der Kraft der Fantasie in dunkler Zeit und von der Wiedergeburt dieses Theaters. Nach dem Krieg gibt Walters Tochter Hatü in der Augsburger Puppenkiste Waisenkindern wie dem Urmel und kleinen Helden wie Kalle Wirsch ein Gesicht. Generationen von Kindern sind mit ihren Marionetten aufgewachsen. Die Augsburger Puppenkiste gehört zur DNA dieses Landes, seit in der ersten TV-Serie im westdeutschen Fernsehen erstmals Jim Knopf auf den Bildschirmen erschien.
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»Dieser Roman ist ein Monument der Virtuosität, eine formvollendete Erzählarchitektur, bestehend aus unzähligen Türen, hinter denen sich historische und symbolische Räume auftun.« Björn Hayer Die Presse 20210116
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
In seinem stringent erzählten Roman "Herzfaden" spürt Thomas Hettche das "Das Furchtbare im Possierlichen" auf, und macht es mit Feinsinn und Geschick für die Leser sichtbar, erklärt Rezensentin Judith von Sternburg. Das Possierliche, das sind wohl die Marionetten aus der Augsburger Puppenkiste, die spielen auf beiden Erzählebenen eine entscheidende Rolle, lesen wir. Auf der ersten helfen Urmel, Jim Knopf und Kalle Wirsch einem Mädchen der Gegenwart, das in Bedrängnis geraten ist. Doch auch hier schon deutet sich das Furchtbare in Gestalt des bös grinsenden Kasperles an. Ein ähnliches Unbehagen wie das Mädchen empfindet auch Hannelore Oehmichen gegenüber dem Kasper, und das, obwohl sie ihn selbst geschnitzt hat. Oehmichen, erklärt von Sternburg, ist nämlich die Tochter des Erfinders der Augsburger Puppenkiste, deren Geschichte Hettche auf der zweiten Ebene erzählt. Und auch hier wird mit wohl platzierten Fragen und Hinweisen auf die Schrecken der Judenverfolgung und des Zweiten Weltkriegs Bezug genommen. Mit diesem Roman erzählt Thomas Hettche ein Stück gut recherchierte Nachkriegsgeschichte auf spannende und dynamische Art und Weise, so die berührte Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2020Die Unschuld hängt an dünnen Fäden
Was träumt Alice in Augsburg? Thomas Hettche hat den Roman der Augsburger Puppenkiste geschrieben.
Jeder kennt die Augsburger Puppenkiste, aber für jeden von uns beginnt ihre Geschichte anders. Denn all die Familiengeschichten, zu denen die Puppenkiste mit ihren Figuren seit Generationen gehört, unterscheiden sich voneinander. Dass die Augsburger Puppenkiste selbst auch eine Familie bildet, also auch selbst eine Familiengeschichte haben muss, ist wohl nur den wenigsten je in den Sinn gekommen. Thomas Hettches neuer Roman erzählt diese Geschichte. Sie handelt nicht von Urmel, dem Gestiefelten Kater, Jim Knopf oder dem kleinen König Kalle Wirsch, obwohl all diese Gestalten Rollen im Roman übernommen haben. Auf der Bühne sind die Marionetten die unbestrittenen Hauptfiguren, aber im Roman haben sie nur Nebenrollen. Hettche erzählt von dem, was sich am anderen, dem unsichtbaren Ende der Fäden befindet. "Herzfaden" erzählt von denen, die führen und geführt werden.
Die hölzernen Türen, die sich zu Beginn jeder Vorstellung öffnen, waren ursprünglich die Seitenteile einer Transportkiste der Deutschen Reichsbahn. Die Puppenkiste war ein Provisorium, aus der Not geboren. Ihr Vorläufer, der sogenannte Puppenschrein, verbrannte nach einem Bombenangriff der Alliierten in den Trümmern des Stadttheaters. Deutschlands bekannteste Marionettenbühne, begründet von Walter Oehmichen, dem früheren Augsburger Oberspielleiter, gilt als liebenswertes Symbol der frühen Bundesrepublik, aber wie vieles in den Jahren des Aufbruchs und Neubeginns nach 1945 hat auch das Marionettentheater seinen Wurzelgrund im "Dritten Reich". Nein, es geht im Roman nicht darum, eine dunkle Stelle im Leben Oehmichens zu finden oder eine Verstrickung der Puppenkiste mit den Nationalsozialisten zu enthüllen. "Jud Süß" stand hier nie auf dem Spielplan. So einfach hat es sich Hettche nicht gemacht.
Der Roman setzt nicht vor einer Vorstellung ein, sondern danach. Was gezeigt wurde, erfahren wir nicht. Ein Mädchen reißt sich von der Hand seines Vaters los, öffnet neugierig eine unscheinbare Holztür in einem Winkel des Theaterfoyers, und schon befindet sich das Kind in einer anderen Welt. Denn auf dem Dachboden des Gebäudes sind alle Marionetten beisammen. Hier, in ewiger Dunkelheit, sind sie lebendig, können umherlaufen, sprechen oder singen wie die Prinzessin Li Si. Aber auch ihre Schöpferin ist hier, Hannelore Oehmichen, genannt Hatü. Sie hat die meisten Marionetten geschnitzt - insgesamt sollen es etwa sechstausend gewesen sein -, viele von ihnen während der Vorstellungen geführt und die Leitung der Puppenbühne 1972 von ihrem Vater übernommen. Die reale Hatü ist 2003 gestorben, hier lebt sie weiter, inmitten ihrer Geschöpfe, und beinahe ist es, als wäre sie selbst eines von ihnen. Denn auf dem Dachboden sind alle gleich klein. Auch das Mädchen ist geschrumpft. Hettche stattet das Kind nur mit dem Allernötigsten aus, um es in unserer Gegenwart zu verorten: einem Elternpaar, das sich getrennt hat, und einem iPhone. Einen Namen gibt er der Zwölfjährigen nicht. Nennen wir sie Alice in Augsburg.
Was Alice erlebt, ist im Kern märchenhaft, also überschaubar und schlicht im Handlungsablauf, aber vieldeutig in seinen Bezügen und Deutungsmöglichkeiten. Es gibt einen bösen Kasperl, den alle fürchten, sogar Hatü. Er muss bezwungen, aber auch erlöst werden. Was auf dem verzauberten Dachboden geschieht, ist im Roman in roter Farbe gesetzt, in blauer Schrift erscheint die Geschichte, die Hatü ihrer Besucherin erzählt. Das ist der eigentliche "Roman der Augsburger Puppenkiste", den der Untertitel verheißt. Er setzt mit dem abrupten Urlaubsende im Sommer 1939 ein, als der Krieg ausbricht und Walter Oehmichen einberufen wird. Im Folgenden erzählt Hatü die Geschichte ihrer Familie, der eigenen Kindheit und Jugend und der ersten Jahre der Augsburger Puppenkiste. Auf dieser Ebene endet der Roman mit der Produktion von "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer" für den Hessischen Rundfunk, die als erste deutsche Serie Fernsehgeschichte geschrieben hat. Die Rahmenhandlung, die weit weniger Raum einnimmt, wird mit der Rückkehr des Mädchens in die reale Welt beschlossen.
Hettche ist kein Lewis Carroll, aber "Herzfaden" ist wie "Alice im Wunderland" ein Buch für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Geschickt hält der Roman die Balance zwischen Märchenton, phantastischen Elementen im Stil von Michael Endes "Unendlicher Geschichte", Coming-of-Age-Roman und Zeithistorischem. Nicht nur die Familie Oehmichen und ihre engsten Mitarbeiter, auch zahlreiche Nebenfiguren haben reale Vorbilder. Personen und Ereignisse, die in diesem Roman vorkommen, so heißt es in einer Nachbemerkung, habe es wirklich gegeben, und zugleich seien sie erfunden. Man darf davon ausgehen, dass Hettche gründlich recherchiert hat. Spannend wird die Frage, wie es um das Verhältnis von historischen Fakten und Fiktion steht, wenn Hettche die zentralen Fragen des Romans verhandelt.
Dass der Vater eine Affäre hatte, Hatü kurz in den Maler Michel verschossen war, bevor sie dann doch ihre Jugendliebe Hanns Marschall heiratete, während sie die Entfremdung von ihrer besten Freundin Vroni nicht aufhalten konnte, mag so oder auch ganz anders gewesen sein. Das ist mehr oder weniger egal. Oder, wie Hettche Oehmichen sagen lässt: "Darauf kommt es nicht an . . . Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten." Dreißig Seiten später stellt Oehmichen einigen jungen Leuten - der künftigen "Familie" der Puppenbühne - sein Konzept eines transportablen Theaters vor. Die Reisepuppenbühne in einem ehemaligen Transportbehältnis der Reichsbahn: "Das ist unser Theater. Diese Kiste. Sie ist alles, was uns geblieben ist. Sie steht in den Ruinen. In sie sperren wir alles ein, was war. Verwandelt wird es wieder herauskommen."
Ist die Augsburger Puppenkiste also im Kern ein ideologisches Projekt gewesen? Ein Instrument der Volkserziehung, gegründet aus der Überzeugung, die deutsche Jugend, verdorben durch HJ und BDM, bedürfe einer moralischen Grundreinigung? Und ist der Puppenspieler einer, der aufgrund seiner Verfehlungen besser im Hintergrund bleibt, unsichtbar, aber die Fäden ziehend, weil er die Bühne denen überlassen will, die beides besitzen: Anmut und Unschuld?
Hettche ist viel zu klug, um sich da festzulegen. Ja, für Oehmichen sind Marionetten die besseren Menschen. Und nein, man kann die Hexe im Märchen von Hänsel und Gretel nicht in den Ofen stoßen, ohne an die deportierten Juden und ihre millionenfache Ermordung in den Lagern zu denken. Hatüs böser Kasperl, der auf dem Dachboden die anderen Marionetten in Angst und Schrecken versetzt, ist eine allegorische Figur, in der ebenso viel Verdrängtes steckt wie in der ganzen Augsburger Puppenkiste. Seine Puppen seien nicht eitel, lässt Hettche Oehmichen einmal sagen. Das ist, nur um eine Nuance abgewandelt, Kleists Bemerkung, dass einer der Vorteile der Marionette darin liege, "dass sie sich niemals zierte". Um in den Stand der Unschuld zurückzufallen, müssten wir wohl wieder vom Baum der Erkenntnis essen, sagt, ein wenig zerstreut, Kleists Erzähler. Hettches Roman erzählt uns vom Traum eines ganzen Landes vom allmählichen Verfertigen der Unschuld beim Spiel der Marionetten. War das kein unschuldiger Traum?
HUBERT SPIEGEL
Thomas Hettche: "Herzfaden". Roman der Augsburger Puppenkiste.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 288 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was träumt Alice in Augsburg? Thomas Hettche hat den Roman der Augsburger Puppenkiste geschrieben.
Jeder kennt die Augsburger Puppenkiste, aber für jeden von uns beginnt ihre Geschichte anders. Denn all die Familiengeschichten, zu denen die Puppenkiste mit ihren Figuren seit Generationen gehört, unterscheiden sich voneinander. Dass die Augsburger Puppenkiste selbst auch eine Familie bildet, also auch selbst eine Familiengeschichte haben muss, ist wohl nur den wenigsten je in den Sinn gekommen. Thomas Hettches neuer Roman erzählt diese Geschichte. Sie handelt nicht von Urmel, dem Gestiefelten Kater, Jim Knopf oder dem kleinen König Kalle Wirsch, obwohl all diese Gestalten Rollen im Roman übernommen haben. Auf der Bühne sind die Marionetten die unbestrittenen Hauptfiguren, aber im Roman haben sie nur Nebenrollen. Hettche erzählt von dem, was sich am anderen, dem unsichtbaren Ende der Fäden befindet. "Herzfaden" erzählt von denen, die führen und geführt werden.
Die hölzernen Türen, die sich zu Beginn jeder Vorstellung öffnen, waren ursprünglich die Seitenteile einer Transportkiste der Deutschen Reichsbahn. Die Puppenkiste war ein Provisorium, aus der Not geboren. Ihr Vorläufer, der sogenannte Puppenschrein, verbrannte nach einem Bombenangriff der Alliierten in den Trümmern des Stadttheaters. Deutschlands bekannteste Marionettenbühne, begründet von Walter Oehmichen, dem früheren Augsburger Oberspielleiter, gilt als liebenswertes Symbol der frühen Bundesrepublik, aber wie vieles in den Jahren des Aufbruchs und Neubeginns nach 1945 hat auch das Marionettentheater seinen Wurzelgrund im "Dritten Reich". Nein, es geht im Roman nicht darum, eine dunkle Stelle im Leben Oehmichens zu finden oder eine Verstrickung der Puppenkiste mit den Nationalsozialisten zu enthüllen. "Jud Süß" stand hier nie auf dem Spielplan. So einfach hat es sich Hettche nicht gemacht.
Der Roman setzt nicht vor einer Vorstellung ein, sondern danach. Was gezeigt wurde, erfahren wir nicht. Ein Mädchen reißt sich von der Hand seines Vaters los, öffnet neugierig eine unscheinbare Holztür in einem Winkel des Theaterfoyers, und schon befindet sich das Kind in einer anderen Welt. Denn auf dem Dachboden des Gebäudes sind alle Marionetten beisammen. Hier, in ewiger Dunkelheit, sind sie lebendig, können umherlaufen, sprechen oder singen wie die Prinzessin Li Si. Aber auch ihre Schöpferin ist hier, Hannelore Oehmichen, genannt Hatü. Sie hat die meisten Marionetten geschnitzt - insgesamt sollen es etwa sechstausend gewesen sein -, viele von ihnen während der Vorstellungen geführt und die Leitung der Puppenbühne 1972 von ihrem Vater übernommen. Die reale Hatü ist 2003 gestorben, hier lebt sie weiter, inmitten ihrer Geschöpfe, und beinahe ist es, als wäre sie selbst eines von ihnen. Denn auf dem Dachboden sind alle gleich klein. Auch das Mädchen ist geschrumpft. Hettche stattet das Kind nur mit dem Allernötigsten aus, um es in unserer Gegenwart zu verorten: einem Elternpaar, das sich getrennt hat, und einem iPhone. Einen Namen gibt er der Zwölfjährigen nicht. Nennen wir sie Alice in Augsburg.
Was Alice erlebt, ist im Kern märchenhaft, also überschaubar und schlicht im Handlungsablauf, aber vieldeutig in seinen Bezügen und Deutungsmöglichkeiten. Es gibt einen bösen Kasperl, den alle fürchten, sogar Hatü. Er muss bezwungen, aber auch erlöst werden. Was auf dem verzauberten Dachboden geschieht, ist im Roman in roter Farbe gesetzt, in blauer Schrift erscheint die Geschichte, die Hatü ihrer Besucherin erzählt. Das ist der eigentliche "Roman der Augsburger Puppenkiste", den der Untertitel verheißt. Er setzt mit dem abrupten Urlaubsende im Sommer 1939 ein, als der Krieg ausbricht und Walter Oehmichen einberufen wird. Im Folgenden erzählt Hatü die Geschichte ihrer Familie, der eigenen Kindheit und Jugend und der ersten Jahre der Augsburger Puppenkiste. Auf dieser Ebene endet der Roman mit der Produktion von "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer" für den Hessischen Rundfunk, die als erste deutsche Serie Fernsehgeschichte geschrieben hat. Die Rahmenhandlung, die weit weniger Raum einnimmt, wird mit der Rückkehr des Mädchens in die reale Welt beschlossen.
Hettche ist kein Lewis Carroll, aber "Herzfaden" ist wie "Alice im Wunderland" ein Buch für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Geschickt hält der Roman die Balance zwischen Märchenton, phantastischen Elementen im Stil von Michael Endes "Unendlicher Geschichte", Coming-of-Age-Roman und Zeithistorischem. Nicht nur die Familie Oehmichen und ihre engsten Mitarbeiter, auch zahlreiche Nebenfiguren haben reale Vorbilder. Personen und Ereignisse, die in diesem Roman vorkommen, so heißt es in einer Nachbemerkung, habe es wirklich gegeben, und zugleich seien sie erfunden. Man darf davon ausgehen, dass Hettche gründlich recherchiert hat. Spannend wird die Frage, wie es um das Verhältnis von historischen Fakten und Fiktion steht, wenn Hettche die zentralen Fragen des Romans verhandelt.
Dass der Vater eine Affäre hatte, Hatü kurz in den Maler Michel verschossen war, bevor sie dann doch ihre Jugendliebe Hanns Marschall heiratete, während sie die Entfremdung von ihrer besten Freundin Vroni nicht aufhalten konnte, mag so oder auch ganz anders gewesen sein. Das ist mehr oder weniger egal. Oder, wie Hettche Oehmichen sagen lässt: "Darauf kommt es nicht an . . . Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten." Dreißig Seiten später stellt Oehmichen einigen jungen Leuten - der künftigen "Familie" der Puppenbühne - sein Konzept eines transportablen Theaters vor. Die Reisepuppenbühne in einem ehemaligen Transportbehältnis der Reichsbahn: "Das ist unser Theater. Diese Kiste. Sie ist alles, was uns geblieben ist. Sie steht in den Ruinen. In sie sperren wir alles ein, was war. Verwandelt wird es wieder herauskommen."
Ist die Augsburger Puppenkiste also im Kern ein ideologisches Projekt gewesen? Ein Instrument der Volkserziehung, gegründet aus der Überzeugung, die deutsche Jugend, verdorben durch HJ und BDM, bedürfe einer moralischen Grundreinigung? Und ist der Puppenspieler einer, der aufgrund seiner Verfehlungen besser im Hintergrund bleibt, unsichtbar, aber die Fäden ziehend, weil er die Bühne denen überlassen will, die beides besitzen: Anmut und Unschuld?
Hettche ist viel zu klug, um sich da festzulegen. Ja, für Oehmichen sind Marionetten die besseren Menschen. Und nein, man kann die Hexe im Märchen von Hänsel und Gretel nicht in den Ofen stoßen, ohne an die deportierten Juden und ihre millionenfache Ermordung in den Lagern zu denken. Hatüs böser Kasperl, der auf dem Dachboden die anderen Marionetten in Angst und Schrecken versetzt, ist eine allegorische Figur, in der ebenso viel Verdrängtes steckt wie in der ganzen Augsburger Puppenkiste. Seine Puppen seien nicht eitel, lässt Hettche Oehmichen einmal sagen. Das ist, nur um eine Nuance abgewandelt, Kleists Bemerkung, dass einer der Vorteile der Marionette darin liege, "dass sie sich niemals zierte". Um in den Stand der Unschuld zurückzufallen, müssten wir wohl wieder vom Baum der Erkenntnis essen, sagt, ein wenig zerstreut, Kleists Erzähler. Hettches Roman erzählt uns vom Traum eines ganzen Landes vom allmählichen Verfertigen der Unschuld beim Spiel der Marionetten. War das kein unschuldiger Traum?
HUBERT SPIEGEL
Thomas Hettche: "Herzfaden". Roman der Augsburger Puppenkiste.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 288 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2020LITERATUR
Hatü und der Horrorkasperl
Mit der Augsburger Puppenkiste in die Abgründe der deutschen Geschichte:
Thomas Hettches erstaunlicher Roman „Herzfaden“
VON HELMUT BÖTTIGER
Zu den schönsten deutschen Prosastücken gehört Heinrich von Kleists kurze Betrachtung über das Marionettentheater, und viele haben sich seither bemüht, herauszufinden, was es mit der von Kleist heraufbeschworenen „Grazie“ dieser Figuren und ihrem „Weg der Seele des Tänzers“ auf sich hat. Diesen Faden nimmt Thomas Hettche jetzt auf und umkreist das alte Geheimnis neu. Da geht es auch wieder um das Verhältnis zwischen Kunst und Leben, zwischen Puppe und Mensch, zwischen Märchen und realer Zeitgeschichte, aber so leichthändig das alles auf den ersten Seiten erscheinen mag, so unentwirrbar verlockend wirkt es am Schluss.
Hettche hat sich ein Sujet dafür ausgesucht, das in der Mediengeschichte der frühen Bundesrepublik eine herausragende Rolle spielt: die „Augsburger Puppenkiste“. Das deutsche Fernsehen war erst seit zwanzig Tagen auf Sendung, da flimmerte diese Institution am 21. Januar 1953 bereits zum ersten Mal auf den damals 5000 Bildschirmen, die das Programm des NWDR empfingen. „Der kleine Prinz“, „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, „Kater Mikesch“ oder „Urmel aus dem Eis“ haben in der Version dieses Fernseh-Marionettentheaters Generationen geprägt. Hettches „Roman der Augsburger Puppenkiste“ erzählt nicht einfach die Geschichte dieses Theaters nach, von den in der Verzweiflung des Zweiten Weltkriegs entstandenen Marionetten des Gründers Walter Oehmichen über die ersten Aufführungen in der Nachkriegszeit bis zum immer größer werdenden Erfolg, sondern er geht weit darüber hinaus. In Form und Inhalt seiner Prosa verwandelt er sich der Ästhetik dieser Kunstform an.
Am Anfang glaubt man noch, ein Kinderbuch zu lesen. Wir erleben ein zwölfjähriges Mädchen, wie es am Ende einer Theateraufführung sich von der Hand seines Vaters losreißt, sich mit ihrem iPhone in der hintersten Ecke des Foyers auf den Boden setzt und neben sich eine kaum sichtbare kleine Tür entdeckt. Als es sie öffnet, gelangt es plötzlich in eine ganz andere Welt – über eine dunkle Treppe hoch, bis zu einem Dachboden, der nur an einer Stelle vom Mondlicht erhellt wird, wo dann immer mehr Marionetten auftauchen, angefangen von der Prinzessin Li Si über einen alten Storch bis zu einer „wunderschönen Frau“, die sich als „Hatü“ vorstellt.
Dann bricht diese Geschichte erst einmal ab. Sie ist im übrigen in roten Buchstaben gedruckt, und jetzt geht es in blauer Farbe und ganz anders weiter. Da befinden wir uns eindeutig nicht mehr in einem Märchen, sondern in der Zeit des Nationalsozialismus, aber es gibt eine Verbindung zu der Eingangsszene in roter Schrift: „Hatü“ taucht auch hier auf, es ist der Kosename von Hannelore Marschall, der Tochter des Gründers und langjährigen Leiterin der Augsburger Puppenkiste. Sie ist gerade acht Jahre alt, und in filmisch-realistischer Weise wird nun ihre Biografie aufgerollt.
Die phantastische Dachstuhl-Szenerie in roter und die Geschichte Hatüs in blauer Schrift wechseln sich in der Folge immer wieder ab, und wie sie sich die Erzähl- und Zeitebenen aufeinander zu bewegen und unmerklich ineinander übergehen, das bildet das ästhetische Zentrum dieses Romans. Er ist unverkennbar selbst ein „Marionettenspiel“, und wenn der Autor in einer kurzen Nachbemerkung feststellt, dass im Grunde jeder Roman ein solches sei, setzt er dieses Spiel nur weiter fort. Die Geschichte von Hatü ist in einem einfachen Ton erzählt, der auch Jugendliche erreichen kann – im Lauf des Geschehens wird aber klar, dass es um komplexe zeitgeschichtliche und ästhetische Fragen geht und die verschiedenen Altersstufen keine Rolle mehr spielen. Die Kindheit im Nationalsozialismus, der Alltag im Zweiten Weltkrieg, das Schweigen der Väter und die Verfolgung der Juden treten in knappen, grellen Passagen ins Blickfeld, und das wird konfrontiert mit der Anziehung, die für Hatü von den ersten vom Vater im Lazarett geschnitzten Marionetten ausgeht – die geheimnisvolle und unauslotbare Kraft der Fiktion. Dieser unsichtbare „Herzfaden“, der den Marionetten zu eigen sein kann, zieht sich durch den gesamten Roman.
Der Autor bringt die Geschehnisse ins Schweben, indem er seine beiden Erzählebenen zeitlich anders inszeniert, als man es erwarten würde. Die unmittelbare Gegenwart, die Begegnung des iPhone-Mädchens mit den Marionetten, wird im Präteritum geschildert, wie ein Märchen. Die jahrzehntelang zurückliegende Vergangenheit aber erscheint im Präsens, in der Sprache kurzer Filmsequenzen. Das ist eine raffinierte Konstruktion, die die Gegensätze aufzuheben scheint. „Die Vergangenheit ist Gegenwart, die Gegenwart ist Vergangenheit“, sagt ein alter Holzschnitzer einmal, den Hatü aufsucht, um etwas über den Umgang mit dem weichen Lindenholz zu erfahren. Dieser scheinbar banale Satz bildet die Essenz dieses Romans.
Der Vater Hatüs hat etwas Charismatisches und gleichzeitig Undurchschaubares, er spricht nicht über seine Konflikte, aber führt die Welt der Marionetten als einen möglichen Ausweg vor. Er ist vom beliebten und vielseitigen Schauspieler zum „Landesleiter der Reichstheaterkammer“ aufgestiegen, ohne Nationalsozialist zu sein, trifft sich mit Freunden, mit denen er eine bürgerlich-kultivierte Welt fingiert, und seine Erfahrungen im Krieg teilen sich der jungen Hatü nur mittelbar mit. Der Alltag im Nationalsozialismus, die Selbstverständlichkeit dieser Umgebung für Heranwachsende, das Erschrecken in der Begegnung mit den wenigen ins Augsburg verbliebenen Juden: dies heute noch angemessen darzustellen, ist eine Herausforderung, und Hettche findet durch seine kurzen Kameraeinstellungen eine Lösung dafür.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es einen Schlüsselmoment, etwas Bedrohlich-Magisches. Hatü versucht während einer Kinderlandverschickung eine Kasperl-Figur zu schnitzen, wie sie sie bei ihrem Vater gesehen hat, und in dieses Kasperl geht unversehens mehr ein, als ihr klar ist. Hatü schneidet sich in den Finger, als sie die Gesichtszüge schnitzt, es entsteht ein breites, aggressives Grinsen, und sie beginnt diese Kasperl-Figur zu hassen. Auch bei den späteren Aufführungen findet sie es „widerlich“, wie der Kasperl sich „mit dem Publikum gemein“ macht. Parallel dazu gerät das Mädchen auf dem Dachboden in eine surreale Auseinandersetzung mit diesem Horrorkasperl, und so verschränken sich die Erzählebenen auf kunstvolle Weise, ohne dass etwas ausdrücklich benannt zu werden braucht. Der Kasperl wird zu einem großen Symbol: er steht für Initialerlebnisse der Puppenschnitzerin Hatü, für das Janusköpfige der Kunst, und dabei birgt er insgeheim auch die Abgründe der jüngeren deutschen Geschichte in sich.
Hettche gelingt es, die Verzauberung durch Jim Knopf oder den kleinen König Kalle Wirsch zu evozieren, das iPhone in der Hand des Mädchens zu einem märchenhaften Gegenstand zu machen und mit verschiedenen Gefühlsfarben und Erwartungen zu spielen – und gleichzeitig einen unerwarteten Ausschnitt aus der deutschen Zeitgeschichte zu vergegenwärtigen. Reale Personen wie der alte „innere Emigrant“ Ernst Wiechert, Honoratioren der Bayrischen Akademie der schönen Künste wie der SS-Mann der ersten Stunde Hans Egon Holthusen, sowie der Ende der fünfziger Jahre auftretende Schriftsteller Michael Ende sind in dieses Textgewebe so selbstverständlich eingefügt, dass die Zeit außer Kraft gesetzt zu sein scheint. Und am Ende weiß man ein bisschen mehr darüber, was Kleist damals mit „Grazie“ gemeint hat.
Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 288 Seiten, 24 Euro.
Erzählt wird zuerst in einem
einfachen Ton, der auch
Jugendliche erreichen kann
Der Kasperl wird zu einem
großen Symbol, auch für das
Janusköpfige der Kunst
Die Augsburger Puppenkiste spielt hier „Das Sams“.
Foto: Stefan Puchner/dpa
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Hatü und der Horrorkasperl
Mit der Augsburger Puppenkiste in die Abgründe der deutschen Geschichte:
Thomas Hettches erstaunlicher Roman „Herzfaden“
VON HELMUT BÖTTIGER
Zu den schönsten deutschen Prosastücken gehört Heinrich von Kleists kurze Betrachtung über das Marionettentheater, und viele haben sich seither bemüht, herauszufinden, was es mit der von Kleist heraufbeschworenen „Grazie“ dieser Figuren und ihrem „Weg der Seele des Tänzers“ auf sich hat. Diesen Faden nimmt Thomas Hettche jetzt auf und umkreist das alte Geheimnis neu. Da geht es auch wieder um das Verhältnis zwischen Kunst und Leben, zwischen Puppe und Mensch, zwischen Märchen und realer Zeitgeschichte, aber so leichthändig das alles auf den ersten Seiten erscheinen mag, so unentwirrbar verlockend wirkt es am Schluss.
Hettche hat sich ein Sujet dafür ausgesucht, das in der Mediengeschichte der frühen Bundesrepublik eine herausragende Rolle spielt: die „Augsburger Puppenkiste“. Das deutsche Fernsehen war erst seit zwanzig Tagen auf Sendung, da flimmerte diese Institution am 21. Januar 1953 bereits zum ersten Mal auf den damals 5000 Bildschirmen, die das Programm des NWDR empfingen. „Der kleine Prinz“, „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, „Kater Mikesch“ oder „Urmel aus dem Eis“ haben in der Version dieses Fernseh-Marionettentheaters Generationen geprägt. Hettches „Roman der Augsburger Puppenkiste“ erzählt nicht einfach die Geschichte dieses Theaters nach, von den in der Verzweiflung des Zweiten Weltkriegs entstandenen Marionetten des Gründers Walter Oehmichen über die ersten Aufführungen in der Nachkriegszeit bis zum immer größer werdenden Erfolg, sondern er geht weit darüber hinaus. In Form und Inhalt seiner Prosa verwandelt er sich der Ästhetik dieser Kunstform an.
Am Anfang glaubt man noch, ein Kinderbuch zu lesen. Wir erleben ein zwölfjähriges Mädchen, wie es am Ende einer Theateraufführung sich von der Hand seines Vaters losreißt, sich mit ihrem iPhone in der hintersten Ecke des Foyers auf den Boden setzt und neben sich eine kaum sichtbare kleine Tür entdeckt. Als es sie öffnet, gelangt es plötzlich in eine ganz andere Welt – über eine dunkle Treppe hoch, bis zu einem Dachboden, der nur an einer Stelle vom Mondlicht erhellt wird, wo dann immer mehr Marionetten auftauchen, angefangen von der Prinzessin Li Si über einen alten Storch bis zu einer „wunderschönen Frau“, die sich als „Hatü“ vorstellt.
Dann bricht diese Geschichte erst einmal ab. Sie ist im übrigen in roten Buchstaben gedruckt, und jetzt geht es in blauer Farbe und ganz anders weiter. Da befinden wir uns eindeutig nicht mehr in einem Märchen, sondern in der Zeit des Nationalsozialismus, aber es gibt eine Verbindung zu der Eingangsszene in roter Schrift: „Hatü“ taucht auch hier auf, es ist der Kosename von Hannelore Marschall, der Tochter des Gründers und langjährigen Leiterin der Augsburger Puppenkiste. Sie ist gerade acht Jahre alt, und in filmisch-realistischer Weise wird nun ihre Biografie aufgerollt.
Die phantastische Dachstuhl-Szenerie in roter und die Geschichte Hatüs in blauer Schrift wechseln sich in der Folge immer wieder ab, und wie sie sich die Erzähl- und Zeitebenen aufeinander zu bewegen und unmerklich ineinander übergehen, das bildet das ästhetische Zentrum dieses Romans. Er ist unverkennbar selbst ein „Marionettenspiel“, und wenn der Autor in einer kurzen Nachbemerkung feststellt, dass im Grunde jeder Roman ein solches sei, setzt er dieses Spiel nur weiter fort. Die Geschichte von Hatü ist in einem einfachen Ton erzählt, der auch Jugendliche erreichen kann – im Lauf des Geschehens wird aber klar, dass es um komplexe zeitgeschichtliche und ästhetische Fragen geht und die verschiedenen Altersstufen keine Rolle mehr spielen. Die Kindheit im Nationalsozialismus, der Alltag im Zweiten Weltkrieg, das Schweigen der Väter und die Verfolgung der Juden treten in knappen, grellen Passagen ins Blickfeld, und das wird konfrontiert mit der Anziehung, die für Hatü von den ersten vom Vater im Lazarett geschnitzten Marionetten ausgeht – die geheimnisvolle und unauslotbare Kraft der Fiktion. Dieser unsichtbare „Herzfaden“, der den Marionetten zu eigen sein kann, zieht sich durch den gesamten Roman.
Der Autor bringt die Geschehnisse ins Schweben, indem er seine beiden Erzählebenen zeitlich anders inszeniert, als man es erwarten würde. Die unmittelbare Gegenwart, die Begegnung des iPhone-Mädchens mit den Marionetten, wird im Präteritum geschildert, wie ein Märchen. Die jahrzehntelang zurückliegende Vergangenheit aber erscheint im Präsens, in der Sprache kurzer Filmsequenzen. Das ist eine raffinierte Konstruktion, die die Gegensätze aufzuheben scheint. „Die Vergangenheit ist Gegenwart, die Gegenwart ist Vergangenheit“, sagt ein alter Holzschnitzer einmal, den Hatü aufsucht, um etwas über den Umgang mit dem weichen Lindenholz zu erfahren. Dieser scheinbar banale Satz bildet die Essenz dieses Romans.
Der Vater Hatüs hat etwas Charismatisches und gleichzeitig Undurchschaubares, er spricht nicht über seine Konflikte, aber führt die Welt der Marionetten als einen möglichen Ausweg vor. Er ist vom beliebten und vielseitigen Schauspieler zum „Landesleiter der Reichstheaterkammer“ aufgestiegen, ohne Nationalsozialist zu sein, trifft sich mit Freunden, mit denen er eine bürgerlich-kultivierte Welt fingiert, und seine Erfahrungen im Krieg teilen sich der jungen Hatü nur mittelbar mit. Der Alltag im Nationalsozialismus, die Selbstverständlichkeit dieser Umgebung für Heranwachsende, das Erschrecken in der Begegnung mit den wenigen ins Augsburg verbliebenen Juden: dies heute noch angemessen darzustellen, ist eine Herausforderung, und Hettche findet durch seine kurzen Kameraeinstellungen eine Lösung dafür.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es einen Schlüsselmoment, etwas Bedrohlich-Magisches. Hatü versucht während einer Kinderlandverschickung eine Kasperl-Figur zu schnitzen, wie sie sie bei ihrem Vater gesehen hat, und in dieses Kasperl geht unversehens mehr ein, als ihr klar ist. Hatü schneidet sich in den Finger, als sie die Gesichtszüge schnitzt, es entsteht ein breites, aggressives Grinsen, und sie beginnt diese Kasperl-Figur zu hassen. Auch bei den späteren Aufführungen findet sie es „widerlich“, wie der Kasperl sich „mit dem Publikum gemein“ macht. Parallel dazu gerät das Mädchen auf dem Dachboden in eine surreale Auseinandersetzung mit diesem Horrorkasperl, und so verschränken sich die Erzählebenen auf kunstvolle Weise, ohne dass etwas ausdrücklich benannt zu werden braucht. Der Kasperl wird zu einem großen Symbol: er steht für Initialerlebnisse der Puppenschnitzerin Hatü, für das Janusköpfige der Kunst, und dabei birgt er insgeheim auch die Abgründe der jüngeren deutschen Geschichte in sich.
Hettche gelingt es, die Verzauberung durch Jim Knopf oder den kleinen König Kalle Wirsch zu evozieren, das iPhone in der Hand des Mädchens zu einem märchenhaften Gegenstand zu machen und mit verschiedenen Gefühlsfarben und Erwartungen zu spielen – und gleichzeitig einen unerwarteten Ausschnitt aus der deutschen Zeitgeschichte zu vergegenwärtigen. Reale Personen wie der alte „innere Emigrant“ Ernst Wiechert, Honoratioren der Bayrischen Akademie der schönen Künste wie der SS-Mann der ersten Stunde Hans Egon Holthusen, sowie der Ende der fünfziger Jahre auftretende Schriftsteller Michael Ende sind in dieses Textgewebe so selbstverständlich eingefügt, dass die Zeit außer Kraft gesetzt zu sein scheint. Und am Ende weiß man ein bisschen mehr darüber, was Kleist damals mit „Grazie“ gemeint hat.
Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 288 Seiten, 24 Euro.
Erzählt wird zuerst in einem
einfachen Ton, der auch
Jugendliche erreichen kann
Der Kasperl wird zu einem
großen Symbol, auch für das
Janusköpfige der Kunst
Die Augsburger Puppenkiste spielt hier „Das Sams“.
Foto: Stefan Puchner/dpa
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