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Wie wird ein Kind zu einem mitfühlenden sozialen Wesen, wenn es die Verwundbarkeit nicht kennt? Wenn es nicht versteht, wie sehr etwas wehtun kann? In eindringlichen Bildern erzählt Valerie Fritsch von einem Trauma, das über die Generationen weiterwirkt.
Alma und Friedrich bekommen ein Kind, das keinen Schmerz empfinden kann. In ständiger Sorge um ihren Jungen kontrolliert Alma unaufhörlich seine körperliche Unversehrtheit. Halt findet Alma bei ihrer hochbetagten Großmutter, die nach lebenslangem Schweigen zu erzählen beginnt: vom Krieg, von Flucht, Hunger und Entbehrungen. Mit dem Kind auf…mehr

Produktbeschreibung
Wie wird ein Kind zu einem mitfühlenden sozialen Wesen, wenn es die Verwundbarkeit nicht kennt? Wenn es nicht versteht, wie sehr etwas wehtun kann? In eindringlichen Bildern erzählt Valerie Fritsch von einem Trauma, das über die Generationen weiterwirkt.

Alma und Friedrich bekommen ein Kind, das keinen Schmerz empfinden kann. In ständiger Sorge um ihren Jungen kontrolliert Alma unaufhörlich seine körperliche Unversehrtheit. Halt findet Alma bei ihrer hochbetagten Großmutter, die nach lebenslangem Schweigen zu erzählen beginnt: vom Krieg, von Flucht, Hunger und Entbehrungen. Mit dem Kind auf dem Schoß, das keinen Schmerz kennt, sitzt Alma am Bett der alten Frau, die sich nichts mehr wünscht, als ihren Schmerz zu überwinden. Und in den Geschichten der Großmutter findet sie eine Erklärung für jene Gefühle der Schuld, der Ohnmacht und der Verlorenheit, die sie ihr Leben lang begleiten.
Autorenporträt
Valerie Fritsch, geboren 1989, arbeitet als freie Autorin und bereist die Welt. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 wurde sie mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur. Sie lebt in Graz und Wien.
Rezensionen
»In Valerie Fritschs Prosa ist etwas von der kindlichen Verletzlichkeit und dem Erstaunen lebendig, die man sich irgendwann abtrainiert, um überleben zu können.« Juliane Liebert DIE ZEIT 20200716

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2020

Oh Stellvertreterweh!
Vom Schmerz erzählen? Valerie Fritschs Roman "Herzklappen von Johnson & Johnson"

Mit der Erzählkunst sei es endgültig zu Ende, schrieb Walter Benjamin 1936, weil sich nach dem ersten Weltkrieg die Erfahrungsqualität so drastisch verändert habe, dass den Zeugen nur das Schweigen übrig blieb. Ob die österreichische Autorin und Fotokünstlerin Valerie Fritsch Benjamin gelesen hat, darüber kann nur spekuliert werden. Dennoch: Wollte man Benjamins melancholischen Blick auf den Verlust der Mitteilbarkeit von Erfahrung in eine literarische Form gießen, käme vielleicht ein Roman wie "Herzklappen von Johnson & Johnson" dabei heraus.

Dem Personal nach handelt es sich um einen klassischen Familienroman. Da ist der Großvater, der erst den Zweiten Weltkrieg als Soldat, dann die Lagerhaft, wie er meint, nur durch Zufall überlebt hat und der fortan jeden Tag unter dem Auserwähltsein leiden wird. Da ist die Großmutter, die seinem Schweigen einen Reigen an "Stell dir vor"-Geschichten entgegensetzt und in deren Wohnung Zeit und Aufmerksamkeit einer anderen Ordnung gehorchen. Da ist die Mutter, penible Matriarchin in einem klinisch sauberen Zuhause, "in dem sie jeden Dienstag die Regale abstaubte, bevor die Putzfrau jeden Mittwoch kam". Und da ist, im Zentrum des Romans, Alma, die Tochter, eine Kinderbuchillustratorin, die in Momenten zu großer Emotionalität Zitronenbonbons lutscht und die Beine anzieht.

Dieser Hauptfigur ist auch der glückliche Umstand zu verdanken, dass schon nach wenigen Seiten feststeht, dass die Geschichte weniger ein klassischer Familienroman als eine fein gestrickte Parabel auf den Schmerz ist. Alma ist eine kurios dem Leben entrückte Person, der die Erzählstimme des Romans so nah auf den Fersen folgt, dass man manchmal ganz in ihrer Sinnlichkeit versinkt. Ihre Kindheit wird durch das elterliche Schweigen regiert, das vielleicht über das Trauma des Großvaters in die Familie einzog, vielleicht aber auch schon vorher da war. So genau erfährt man es nicht, denn die Geschichte hält sich vom Pathologisieren glücklicherweise fern. Jedenfalls war ihr kindliches Zuhause derart still, dass Alma dachte, wenn das Telefon klingelte, "es läutete im eigenen Kopf". Dazu passt, dass ihr das Umfeld "mitunter beängstigend kulissenhaft" scheint, "brüchig zusammengezimmert", wie ein schlechtes Theaterstück, eigens für sie aufgeführt.

Die Einzige, die noch sprechen mag, ist Almas Großmutter. In ihrem "Hinterzimmeruniversum der Zeit" erzählt sie Erinnerungen aus einer Welt, in der Worte wie "Ausgeliefertsein", "Kannibalismus" und "Einsamkeit", leise geraunt, auf Schicksale vor der eigenen Haustür bezogen waren. Weil sie den Menschen nicht mehr traut, bleibt sie in besserer Gesellschaft allein mit den Dingen in ihrer Wohnung, die ihr wie Freunde geworden sind. Und weil sie diese Wohnung so gut kennt, findet sie auch mit geschlossenen Augen den Weg zum stets gepackten Koffer im Schlafzimmer.

Alma studiert, wie die Sprache ihrer Familie vom Schmerz durchzogen ist. Wie die einen nicht mehr, die anderen zu viel reden, und sie lernt, den Alltag mitzusprechen. Dann bekommt sie einen Sohn, der eine seltene Krankheit hat: Emils Schmerzrezeptoren sind aufgrund eines Gendefekts lahmgelegt, er kann keine Schmerzen fühlen. Eine Kindheit ohne Schmerz bedeutet eine Kindheit im Krankenhaus. Kein warnendes Gefühl, das Blinddarmentzündungen oder Knochenbrüche anzeigt, kein somatischer Selbstschutz vor den anderen Kindern, die den Körper des Jungen als Experimentierfeld der Mutproben und anatomischen Erforschungen nutzen, und vor den Verwandten, die stets eine Spur zu grob an ihm herumzupfen, um zu sehen, ob er nicht doch etwas fühlt. Was dem Jungen nicht gegeben ist, muss Alma ersetzen. Nach jedem Spiel kontrolliert sie seinen Körper auf Prellungen und Wunden oder misst seine Temperatur.

Doch Schmerz ist weit mehr als ein Warnsystem der Vitalfunktionen. Als omnipräsente Metapher strukturieren Krankheit und Schmerz die menschliche Mitteilung, sind Maßstab und Richtwert jedweder Empathiebekundung. Kein Liebeskummer ohne Herzweh, keine Traurigkeit ohne enge Brust. Was eine nüchterne Diagnose sein könnte, wird bei Fritsch zur Poetik eines Defekts, der auch die Sprache befällt. Es war, so heißt es über Emil, "als litte er an einer Körpersprachlosigkeit, die zu den schlimmsten Dingen schwieg. Zu dem Wissen, das jedem Schmerz innewohnt, hatte er keinen Zugang." Alma, die gelernt hat, dem Schweigen des Großvaters und der Beredsamkeit der Großmutter zu lauschen, beginnt, ihrem Sohn den Schmerz zu erklären, errichtet ein sprachliches "Stellvertreterweh".

Was Walter Benjamin einst über den Zivilisationseinschnitt des Kriegs konstatierte, nämlich die aus ihm folgende Unfähigkeit, Erfahrung in Worte zu bringen, ist Hausgesetz in Almas Familie. Die einen reden nicht, weil der Schmerz zu groß ist, der Körperstumme aber benötigt die Sprache, um den Schmerz zu begreifen. Dass physisch und psychisch bedingtes Schweigen in dieser Familie so nahtlos zusammenlaufen, ist eine zugespitzte Metapher, medizinisch wäre die Engführung ein Fass ohne Boden. Doch gerade diese unerklärliche Verbindung erzeugt Almas tiefe Ratlosigkeit. Ihre Sehnsucht nach einer eindeutigen Familienerzählung kann sich nicht erfüllen, es gibt "kein Zeichen, kein erlösendes Gefühl, kein Ende der Geschichte".

Valerie Fritsch hat ein wundersam stilles Büchlein über die Spuren geschrieben, die ein allzu großer und auch ein fehlender Schmerz in einer Familie hinterlassen. Stimmigerweise hat die Geschichte kein eindeutiges Thema, sondern wandert von Motiv zu Motiv, ohne dass ihnen schwere Bedeutsamkeit aufgezwungen würde. Das erinnert in poetologischer Hinsicht an den frühen Peter Handke. Wie stark der Leseeindruck sein kann, wenn alles "kein Hinweis auf etwas andres mehr" ("Die Stunde der wahren Empfindung") ist, sondern nur für sich selbst stehen darf, ist auch bei Fritsch zu spüren. Ihr Stil ist ähnlich geprägt von einer begrifflichen Vagheit, einer semiotisch grundierten Scheu vor dem konkreten Benennen. Deshalb sind ihre Beobachtungen so zärtlich-leise wie ausschweifend. Kein heilsames Buch. Aber eines, das zielsicher von der Schwierigkeit der Weitergabe und des Teilens von Erfahrung zwischen den Generationen erzählt.

MIRYAM SCHELLBACH.

Valerie Fritsch: "Herzklappen von Johnson & Johnson". Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 174 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In einer Doppelrezension bespricht Marie Schmidt zwei Romane, die sich mit dem Nichtvergehen eines Leids beschäftigen, das aus der Nachkriegszeit rührt. Schmidt gefällt, wie Valerie Fritsch das Statische, beinahe Fühllose der älteren Generation, die den Krieg erlebt und gemacht hat, in Sprache gießt. Auf verhaltene Weise ist die Kritikerin überzeugt von den Metaphern des Romans - zum einen in dem tatsächlich gefühllosen Urenkel, der das tiefe Hineinragen der Verdrängung in die Generationenfolge abbilde. Zum anderen ist für die Rezensentin auch die Reise der Enkelin-Familie nach Sibirien, Ort der Kriegsgefangenschaft des Großvaters, als "elegischer" Abschluss eine kräftige Aussage.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2020

Für immer Nachkriegszeit
In Familienromanen von Valerie Fritsch und Oskar Roehler gehen Erinnerung und Verdrängung in die dritte und vierte Generation
Immer, wenn man denkt, jetzt muss die Nachkriegszeit doch mal vorbei sein, drückt sie sich wieder in die Gegenwart. In den ersten Wochen der Pandemie zum Beispiel, als die Vorratshaltung sonst sehr heutiger Mitbürger zur Sprache kam: Immer Konserven für sechs Wochen im Haus, Regale voll eingewecktem Gemüse und kanisterweise Trinkwasser. Ernsthaft? In Zeiten von 24-Stunden-Lieferdiensten und Gewerbegebieten voller Supermärkte? Aber manche Gewohnheiten sind eben unverändert von früher übrig geblieben.
Es wirkt, als hätten das Sicherheitsbedürfnis und die familiären Schweigeabkommen nach dem Krieg und der Vernichtung von sechs Millionen Juden so etwas wie eine eigene Zeitdimension ausgebildet. Und als bestünde diese andere Zeit neben der disruptiv in die Zukunft torkelnden Gegenwart fort wie verkapselt – die Nachkriegszeit als Paralleluniversum. Die Grazer Schriftstellerin Valerie Fritsch hat so etwas in ihrem Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ beschrieben, in dem sie von der Stimmung bei den Großeltern ihrer Hauptfigur erzählt: „Es war ein Haus wie ein Einmachglas, das noch die entferntesten Jahre haltbar gemacht hatte. Ein Behälter für den alten Schmerz.“
Fritsch ist 1989 geboren, und ihr Roman handelt eigentlich nicht vom Erbe am Trauma des Krieges an sich. Sondern von der abstrakteren Form, die die Erinnerung daran über die Generationen hinweg angenommen hat, von einer merkwürdig entrückten Stimmung, in der die Enkelin aufwächst. Sie „sah hinaus in die graue, kleine Welt“, schreibt Fritsch, „und wartete, dass die Zukunft die Gegenwart einholen, es endlich Jetzt werden würde, Jetzt Jetzt Jetzt.“ Aber die Zeit geht nicht weiter.
„Das Leben setzte zu einer seiner endlosen Wiederholungen an“, schreibt auch Oskar Roehler in seinem Roman „Der Mangel“. Darin gibt es einen Jungen, der manisch an kleinsten Routinen festhält: „Es konnte mir zum Beispiel nie passieren, dass ich zur Unzeit abends nach Hause kam und die geliebte Schattenlinie verfehlte, die das Haus gegen die zunehmende Dämmerung warf.“ Die Lichtstimmung eines Augenblicks darf nicht vergehen. Der Erzähler ist da zwischen vier und sechs Jahre alt, die Geschichte spielt Anfang der 1960er-Jahre in Deutschland. Roehler ist 1959 geboren. Am Abstand vom Kriegsende gemessen ist er eine signifikante Generation näher dran als Valerie Fritsch. Aber beide wenden sie noch im Jahr 2020 alle poetischen Mittel auf, um die Starre der ewigen Nachkriegszeit fühlen zu lassen.
Valerie Fritsch schreibt zwar eine Art biografische Skizze ihrer Hauptfigur Alma, aber in deren Leben scheint nichts zu vergehen. Noch in flüchtigsten Momenten schwingt durch das epische Präteritum ein „immer wieder“ mit, als beschreibe sie an- und abschwellende Zustände, die anhalten wie Orgeltöne: „Der Kühlschrank heulte wie ein Ungeheuer, die Weinflaschen klirrten, wann immer man seine Tür zuschlug, auf der eine Postkarte hing, die Dorothy Parker zitierte“, heißt es, oder: „Abends saßen sie einander gegenüber in Bars, tranken Wein aus Wassergläsern, und Alma streckte die Hände aus nach seinen Rauchringen, als wollte sie sich diese um den Arm legen wie Reifen.“ Der Anfang einer Liebe, nicht als atemlose Folge von Verabredungen, sondern als statische Szene.
In Oskar Roehlers Werk ist es eher die zyklische Wiederkehr, die den Eindruck immerwährender Dauer vermittelt. Die Familiengeschichte seiner Eltern, der Schriftsteller Gisela Elsner und Klaus Roehler, und wiederum von deren Eltern schreibt er in seinen Büchern und Filmen mit faszinierender Beharrlichkeit um und um. Den Ort, an dem „Der Mangel“ spielt, hat er in dem autobiografischen Roman „Herkunft“ (2011) schon beschrieben: eine Neubausiedlung auf einer Anhöhe in der fränkischen Provinz. Jetzt wiederholt er diese Geografie als Mythos. Die Straße, an der sich sudetendeutsche und schlesische Vertriebene angesiedelt haben, steigt da so steil und eisig auf, dass die Familien kaum ihre Einkäufe hinauftragen können. Was sie in einem „Gefühl von Ohnmacht und Empörung“ leben lässt. Von oben aber stürzen sich Kinder ekstatisch mit ihren Schlitten von der „Hut“: „Nackt und kahl, wie eine Schädeldecke“ sei der Berg, und durch Schnee und Eis könne man „in das Gehirn der Landschaft hineinsehen“.
Die Figuren des Romans treten jeweils im Plural auf. Roehler erzählt über weite Strecken in Wir-Form. Dieses Wir hat amorphe Konturen, eine Kinderbande, mehrere Familien, die Provinz, die junge Republik als Ganzes könnten darin zu hören sein. Oder doch nur kindlicher Größenwahn. Und auch andere Figuren gibt es nur als Kollektivpersona, besonders „die Väter“: „Unsere Väter rauchten Pall Mall oder Rothändle ohne Filter“, steht da, und: „Sie hatten, wie gesagt, akademische Berufe gehabt, die sie nicht mehr ausüben konnten. Die Ungerechtigkeit nagte an ihren Knochen.“ Im Wirtschaftswunderland habe man ihr Wissen nicht gewollt: „Man ließ sie hart arbeiten. Sie waren keine echten, richtigen Deutschen.“
Da sammelt sich ein chorisches Außenseitermotiv an, das sich im „Wir“ der Söhne zu einer enorm irritierenden Opfer-Identifikation aufschwingt. „Wir sehen aus, als hätte man uns zusammengetrieben“, heißt es an einer Stelle: „Nach und nach hatten wir uns auf diesem Appellplatz müde und mürrisch eingefunden.“ Und man möchte nicht glauben, dass da ein erster Schultag bayerischer Kinder im September 1966 beschrieben wird, so sehr geschieht es in Worten, die aus den Erinnerungen von KZ-Überlebenden zu kommen scheinen. So etwas unterläuft Oskar Roehler natürlich nicht einfach so, er ahmt die Verblendung des deutschen Selbstbilds nach der bedingungslosen Kapitulation nach. Ein Kapitel lang schildert er, wie die Dorfkinder in einer leeren Baugrube buddeln, um eine ziemlich anstößige Umschrift von Paul Celans „Todesfuge“ unterzubringen: „Der warme Schlamm am Abend, der kühle Schlamm am Morgen. Wir schaufelten und schaufelten.“ Hier sprechen aber nicht die Überlebenden des Holocaust, sondern Nachgeborene und, wer weiß, vielleicht Täterenkel. Sie eignen sich, würde man heute sagen, Leid an.
In ihre Reden mischt sich gleichzeitig die Sprache des Dritten Reiches, Begriffe wie „Rotte“, „Fanatismus“, „harte, entbehrungsreiche Arbeit“ kommen vor, wirken in einem Text von heute krass und auffällig. „Als Kind saß sie unter dem Tisch und hörte zu“, heißt es über solches übrig gebliebenes Vokabular bei Valerie Fritsch, „sammelte Begriffe ein, Gewehr und Bombe und Soldat und Frieden, und führte in Gedanken ein kleines Wörterbuch der entrückten Vergangenheit, in dem sie manchmal nachschlug, wenn sie die Gegenwart nicht gut genug verstand.“
Bei Roehler liegt das Erbe des Krieges und der Ideologie der Mörder in der geradezu ekelerregenden Vermischung der Semantiken unsortiert da. Das in diese mentale Lage hineingeborene „Wir“, das sind die Kinder der Sechzigerjahre, die „ab der Milleniumswende“ besinnungslose Konsumisten werden und in einer kleinen Minderheit (wie der zum „Ich“ herangereifte Erzähler) unglückliche Künstler. In Fritschs Erzählung ist die Erbfolge schon zwei Generationen weiter und wirkt stärker durchgearbeitet. Die Großeltern ihres Romans, womöglich ein paar Jahre älter als Roehlers „Väter“, schweigen, die Enkelin nimmt ihre Stimmungen hypernervös in sich auf; und ihr Kind wiederum, das ist die Pointe des Romans, kann keinen Schmerz fühlen. Eine körperliche Störung, die ziemlich lebensgefährlich ist und den Jungen narbenübersät heranwachsen lässt. Eine fast überdeutliche Metapher für die Verdrängung in der Familie.
Über den Großvater heißt es, an seinem Körper sei „keine Narbe eines Schusses oder tiefen Schnittes“ zu sehen gewesen, „aber sie wusste schon, dass es kein äußeres Merkmal für Schuld gab, kein Kennzeichen, das die Biographie auf den ersten Blick freigab“. Dass er im Krieg an Verbrechen beteiligt war, erfährt die Enkelin. Aber erst nach seinem Tod reist sie mit ihrem Mann und dem schmerzlosen Sohn nach Sibirien, wo der Großvater in Kriegsgefangenschaft war, um endlich ein Gefühl mit ihm zu verbinden. Eine Reise, in der der kurze Roman elegisch ausläuft.
Auf den letzten Seiten von Roehlers Roman tritt an die Stelle der mythisch schicksalsgebeugten „Väter“ ein anderer. Wie ein Schock wirkt es, dass es da plötzlich einen „eigenen, leiblichen Vater“ gibt. Zugleich wird eine weitere Vaterfigur, die als bewunderter Mentor das kollektive „Wir“ wie einen kindlichen fränkischen George-Kreis um sich geschart hatte, schlagartig entzaubert: „obwohl er sich später einen vergnüglichen, humanistischen, Rudolf Steiner’schen Anstrich gab, blieb er im Kern ein Faschist“. Darin sei er dem 1928 geborenen leiblichen Vater ähnlich.
Man erkennt in diesem eigenartig hastigen Schluss eine Episode aus Roehlers Lebensgeschichte wieder, die er schon in diversen Versionen erzählt hat: Wie sein Vater Klaus Roehler ihn aus einem Kinderparadies in der Provinz hinein in eine prekäre Berliner Künstlerexistenz geholt hat. Jetzt erzählt er das noch einmal und ohne ein Zeichen von Versöhnlichkeit. Der Schock der Herkunft, scheint es, vergeht nicht. Er hat keine Zeit.
MARIE SCHMIDT
Valerie Fritsch:
Herzklappen von
Johnson & Johnson.
Roman. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2020.
174 Seiten, 22 Euro.
Oskar Roehler:
Der Mangel. Roman.
Ullstein, Berlin 2020.
169 Seiten, 23 Euro.
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