Arizona, um 1890. Ein neuer Morgen eines zu heißen Sommers bricht an für Nora Lark. Ihre Farm ist bedroht von Dürre und mächtigen Viehzüchtern, neuerdings auch, so glaubt ihr kleiner Sohn Toby, von einem monströsen Tier, das draußen umherstreift. Seit Tagen ist Noras Mann verschwunden, nachts sind die beiden älteren Söhne im Streit davongeritten, und irgendwer ist ins Brunnenhaus eingebrochen. Doch Nora stehen noch ganz andere Prüfungen bevor - die über das Schicksal ihrer Familie entscheiden werden.
Das liegt auch an Lurie, Waise eines Einwanderers aus dem Osmanischen Reich, der vom kleinen Ganoven zum verfolgten Outlaw wurde, schließlich einen unerwarteten Gefährten findet und in einem Trupp der U.S. Army untertaucht. In Luries abenteuerlichem Leben verdichten sich das Heldentum und die Niedertracht der Epoche zu einem schrecklichen, prächtigen, epischen Bogen - mit immer überraschenden Wendungen.
Téa Obreht erzählt in ihrer bildhaft leuchtenden, einzigartigenSprache den amerikanischen Gründungsmythos neu. «Herzland» zeigt die Siedlerzeit mit all ihrer Härte und zugleich einen schillernden, unbekannten Wilden Westen - in dem die Konflikte des heutigen Amerika schon aufscheinen.
Das liegt auch an Lurie, Waise eines Einwanderers aus dem Osmanischen Reich, der vom kleinen Ganoven zum verfolgten Outlaw wurde, schließlich einen unerwarteten Gefährten findet und in einem Trupp der U.S. Army untertaucht. In Luries abenteuerlichem Leben verdichten sich das Heldentum und die Niedertracht der Epoche zu einem schrecklichen, prächtigen, epischen Bogen - mit immer überraschenden Wendungen.
Téa Obreht erzählt in ihrer bildhaft leuchtenden, einzigartigenSprache den amerikanischen Gründungsmythos neu. «Herzland» zeigt die Siedlerzeit mit all ihrer Härte und zugleich einen schillernden, unbekannten Wilden Westen - in dem die Konflikte des heutigen Amerika schon aufscheinen.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Für Rezensent Michael Schmidt ist Tea Obrehts zweiter Roman eine Geschichte vom Untergang der Illusionen. Mit historischen Fakten und Humor, mehrschichtig und mitunter wie in einem Brennglas erzählt die Autorin laut Schmidt anhand zweier Randfiguren die Geschichte der Eroberung des Südwestens der USA im späten 19. Jahrhundert. Welche Konflikte im Einwandererland USA schwelten, welche Entbehrungen die Siedler in Arizona aushalten mussten und welche Opfer die ansässigen Navajos zu verzeichnen hatten, davon berichtet Obreht "wie in einer Nussschale", ohne moralische Einlassungen, erläutert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2020Gesellschaft der Umbenannten
Téa Obrehts Debüt war eine Sensation. Im Roman "Herzland" bespielt sie nun eine Westernlandschaft mit geisterhafter Polyphonie.
Téa Obreht ist landein- und westwärts gezogen. Fort von den New Yorker Menschenmengen, die in Zeiten der Pandemie zum Risiko geworden sind, hinein ins amerikanische Herzland, nach dem ihr neuer Roman benannt ist. Quarantänehalber haben sie und ihr Mann sich in die Abgeschiedenheit ihres Zweitwohnsitzes in Wyoming zurückgezogen, dem bevölkerungsärmsten amerikanischen Bundesstaat. Per Videoanruf erreicht man sie nahe dem Zehntausend-Einwohner-Städtchen Jackson, südlich des Yellowstone-Nationalparks. "Am Rande einer riesigen Wildnis", sagt Obreht und dreht die Kamera zum Fenster, durch das der Blick auf schneebedeckte Berge fällt. Sie erzählt von einer Berglöwin, die kürzlich tagelang auf einer nahen Anhöhe gethront habe. Nach dem Gespräch schickt sie noch ein Handyfoto, das Hunderte im Tal überwinternde Elche zeigt.
Wer Obrehts ersten Roman gelesen hat, weiß um die Zentralität der Beziehung zwischen Mensch und Tier in ihren Geschichten. Als "The Tiger's Wife" (deutsch "Die Tigerfrau") 2011 erschien, wurde Obreht als magisch-realistische Erbin von Gabriel García Márquez gefeiert, das Buch verkaufte sich 1,7 Millionen Mal. Eine junge Ärztin aus einem kriegsversehrten Balkanstaat erinnert sich darin an ihren Großvater, dessen Kindheitsdorf von einem Tiger belagert wird, der sich angeblich nachts in einen Mann verwandelt und mit einer Dorfbewohnerin zusammenlebt. Seitdem hat Obreht zwei Romane für die Schublade geschrieben, der dritte aber liegt nun in Bernhard Robbens kunstfertiger Übersetzung vor. Auch "Herzland" lebt von seinen Tieren.
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zog durch den amerikanischen Südwesten eine Kavallerie, die keine war. Die Legende vom "Red Ghost" erzählt von einem riesigen Geisterpferd mit zotteligem roten Fell, in dessen Sattel eine Leiche hängt. Verängstigt berichten die Siedler des spärlich bewohnten Arizona Territory einander von ihren Begegnungen mit dem Untier - bis einer sich ein Herz fasst und es erlegt. Dann stellt er fest: Das Pferd war ein Kamel.
Man kann nur staunen, dass das United States Camel Corps nicht längst zur weithin bekannten Folklore des Wilden Westens gehört, zumal es einen Stoff liefert, wie ihn Amerikaner lieben: Wetterfeste Einwanderer aus der Alten Welt streben der Westgrenze des Kontinents entgegen und werden im Fleiße ihrer Reise selbst zu Amerikanern. Von 1856 bis 1866 zog der aus Dromedaren und Trampeltieren bestehende Lastenträgertrupp, der vom Kriegsministerium mitsamt seiner Reiter aus Ägypten und dem Osmanischen Reich eingeschifft worden war, durch Wüste und Prärie.
"Als ich die Legende vom Red Ghost zum ersten Mal in einem Podcast hörte, war ich fasziniert von ihrem immigrantischen Aspekt", sagt Obreht, "von der Vorstellung eines Cowboys aus dem Balkan, dessen Pferd ein Kamel ist." Ihm, dem Kameltreiber Lurie, ist der erste der beiden Erzählstränge des Romans gewidmet. Dass wir ihn unter diesem Namen kennenlernen, setzt die erste Verlusterfahrung seiner Migration schon voraus. Mit sechs ist er mit seinem Vater Hadziosman Djuric, einem Bosniaken, aus dem Osmanischen Reich nach Amerika ausgewandert. "Wenn ich mich recht erinnere, nannte er sich eine Zeitlang Hodgeman Drury - beerdigt aber wurde er als ,Hodge Lurie', besser wusste unsere Zimmerwirtin den Konsonantenverhau seines Namens nicht zu entwirren, als der Bestatter kam, um seine Leiche abzuholen."
Nach dem Tod seines Vaters schließt der junge Lurie sich einer Gang an und begeht bei einem Postkutschenraub einen Mord. Er flieht vor dem Staat - und landet im Staatsdienst. In Texas verpflichtet ihn das U.S. Camel Corps. Wie sonst der Reiter zu seinem Rappen, entwickelt Lurie ein fast brüderliches Verhältnis zu seinem Kamel Burke, an das er sich als Erzähler in weiten Teilen des Buches richtet. Mit wem spräche er auch sonst? Zwar empfindet er, obwohl weder des Türkischen noch des Arabischen mächtig, so etwas wie Nachbarschaft, als er im Camel Corps von einigen seiner Kameraden Wörter wie "merhaba" und "mashallah" vernimmt. Mehr aber ist auch dort nicht zu finden. Man fühlt sich an den böhmischen Vater aus Willa Cathers Siedlerroman "My Ántonia" (1918) erinnert, der nach der Einwanderung erst wieder das Lachen erlernt, als er zwei Russen in Nebraska ihm vage vertraute Töne sprechen hört.
Den Klang des amerikanischen Westens erfährt man bei Obreht mittels einer Gesellschaft der Verstummung und Umbenennung. "Im Laufe der Jahre sind wir alle mit diesem oder jenem Namen gerufen worden, aber jetzt sind wir, wer wir sind", sagt einmal der Kameltreiber Hadschi Ali. Auch ihn gab es wirklich. 1828 als syrisch-griechischer Christ in Izmir geboren und zum Islam konvertiert, kam er zusammen mit den Kamelen in die Vereinigten Staaten, wo er in Quartzsite, Arizona, beerdigt ist. Auf dem Grabstein ist sein Glaube nicht mehr erkennbar. Aus Hadschi Ali wurde darauf Hi Jolly.
Welche Rolle spielen Namen in der Migration? Obreht, 1985 in Belgrad geboren, heißt eigentlich Bajraktarevic, Sie schreibt jedoch unter dem Namen ihres Großvaters mütterlicherseits, der sie auf dem Sterbebett darum bat, seinen Familiennamen fortzuführen. "Auf dem Balkan sind Ethnien oft in Namen hineinkodiert", sagt sie. "Wenn ich dort ins Restaurant gehe und der Kellner den Namen auf meiner Kreditkarte sieht, zieht er vermutlich alle möglichen Schlüsse darüber, wer ich bin."
Zu Hause sprach Obreht als Kind Serbokroatisch. Mit sieben floh die Familie vor den Jugoslawienkriegen nach Zypern, dann weiter nach Ägypten. In die Vereinigten Staaten kam Obreht mit zwölf. In mancherlei Hinsicht seien ihr Ägypten und seine Erzählkultur näher als Amerika, sagt sie, sogar die Fauna von "Herzland" lernte sie zuerst dort kennen. Ihr Geschichtslehrer organisierte damals eine Exkursion zu den Ruinen von Memphis - auf Kamelen.
Seitenwechsel. Hinein in eine geschlossene Welt. Der zweite Handlungsstrang von "Herzland" spielt an einem einzigen Tag im Örtchen Amargo, im Arizona von 1893, neunzehn Jahre vor der Bundesstaatlichkeit. Die Siedlerin Nora Lark wird geplagt vom schwindenden Wasservorrat, den ihr seit Tagen verschollener Mann längst aufgefrischt haben sollte. Die Lokalzeitung, deren Chefredakteur er ist, kämpft derweil auf verlorenem Posten gegen das Konkurrenzblatt, das von Gnaden des Rinderbarons Merrion Crace agiert. Die ersehnte Eisenbahnanbindung, im amerikanischen Westen des späten neunzehnten Jahrhunderts eine Lebensversicherung, wird deshalb wohl nicht an Amargo gehen, sondern an Craces Ortschaft. "Sie ahnte, dies war die Krux des Lebens: Jeder murkste im grellen Glanz seines Ruins einsam vor sich hin." Zu allem Überfluss besteht Noras quengelnder Jüngster darauf, in der Wildnis ein rotes Ungeheuer gesehen zu haben.
Und dann werden Stimmen laut, deren Inhaber gar nicht existieren. Die Cousine von Noras Mann betätigt sich als Medium, was Nora zunächst als Aberglauben abtut. In stillen Momenten allerdings sucht sie selbst das Gespräch mit ihrer verstorbenen Tochter Evelyn. Deren Tod, stellt sich heraus, umrankt ein Geheimnis, das Nora nicht ganz unschuldig dastehen lässt.
Wie in "Die Tigerfrau", in dem ein "Mann, der nicht sterben kann" vorkommt, weil ihm die Tore in den Tod versperrt sind, ist das Jenseits in "Herzland" selten endgültig. Der Tod im klassischen Western sei oft etwas Mechanistisches, sagt Obreht. Aber müsse es in diesen menschenfeindlichen Gefilden nicht ein Dahinter geben? Die Toten heißen im Roman "die anderen Lebenden". Für Nora wird die Stimme ihrer Tochter zum Ersatzgewissen, Lurie wird vom kleptomanisch-durstigen "Wollen" verstorbener Gefährten heimgesucht. Im Original heißen diese Totenrufe "wants" - also nicht nur "Wollen", sondern auch "Fehlen".
Was fehlt? Wasser. Leben. Eine Gesellschaft. 1890 hatte Arizona weniger als 60 000 Einwohner. Die Geister des Romans treten ungebeten ein in dieses unfertige Soziotop, ohne zu Figuren der Komik oder des Grusels abzuflachen. Sie sind einfach da. Auf den letzten, in zweifachem Sinne begeisternden Seiten wird aus zwei Erzählsträngen einer, und plötzlich erkennt der Leser in der Geschichte nicht nur den Kampf gegen die Natur, sondern das, was die Legende vom Red Ghost wirklich ist: eine Parabel auf die Angst Amerikas vor allem Nichtamerikanischen.
An diesem Ende stehen Lebende neben "anderen Lebenden", Nora, Evelyn, Lurie, das rote Ungeheuer - sogar ein gewisses "neues Haus in Wyoming" taucht dort auf, aus dem Téa Obreht vielleicht gerade nach Deutschland telefoniert. Es ist die Kulmination eines sanften magischen Realismus, der so gut passt in dieses "Herzland", das menschenleer ist und doch traumvoll.
CORNELIUS DIECKMANN
Téa Obreht: "Herzland". Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 512 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Téa Obrehts Debüt war eine Sensation. Im Roman "Herzland" bespielt sie nun eine Westernlandschaft mit geisterhafter Polyphonie.
Téa Obreht ist landein- und westwärts gezogen. Fort von den New Yorker Menschenmengen, die in Zeiten der Pandemie zum Risiko geworden sind, hinein ins amerikanische Herzland, nach dem ihr neuer Roman benannt ist. Quarantänehalber haben sie und ihr Mann sich in die Abgeschiedenheit ihres Zweitwohnsitzes in Wyoming zurückgezogen, dem bevölkerungsärmsten amerikanischen Bundesstaat. Per Videoanruf erreicht man sie nahe dem Zehntausend-Einwohner-Städtchen Jackson, südlich des Yellowstone-Nationalparks. "Am Rande einer riesigen Wildnis", sagt Obreht und dreht die Kamera zum Fenster, durch das der Blick auf schneebedeckte Berge fällt. Sie erzählt von einer Berglöwin, die kürzlich tagelang auf einer nahen Anhöhe gethront habe. Nach dem Gespräch schickt sie noch ein Handyfoto, das Hunderte im Tal überwinternde Elche zeigt.
Wer Obrehts ersten Roman gelesen hat, weiß um die Zentralität der Beziehung zwischen Mensch und Tier in ihren Geschichten. Als "The Tiger's Wife" (deutsch "Die Tigerfrau") 2011 erschien, wurde Obreht als magisch-realistische Erbin von Gabriel García Márquez gefeiert, das Buch verkaufte sich 1,7 Millionen Mal. Eine junge Ärztin aus einem kriegsversehrten Balkanstaat erinnert sich darin an ihren Großvater, dessen Kindheitsdorf von einem Tiger belagert wird, der sich angeblich nachts in einen Mann verwandelt und mit einer Dorfbewohnerin zusammenlebt. Seitdem hat Obreht zwei Romane für die Schublade geschrieben, der dritte aber liegt nun in Bernhard Robbens kunstfertiger Übersetzung vor. Auch "Herzland" lebt von seinen Tieren.
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zog durch den amerikanischen Südwesten eine Kavallerie, die keine war. Die Legende vom "Red Ghost" erzählt von einem riesigen Geisterpferd mit zotteligem roten Fell, in dessen Sattel eine Leiche hängt. Verängstigt berichten die Siedler des spärlich bewohnten Arizona Territory einander von ihren Begegnungen mit dem Untier - bis einer sich ein Herz fasst und es erlegt. Dann stellt er fest: Das Pferd war ein Kamel.
Man kann nur staunen, dass das United States Camel Corps nicht längst zur weithin bekannten Folklore des Wilden Westens gehört, zumal es einen Stoff liefert, wie ihn Amerikaner lieben: Wetterfeste Einwanderer aus der Alten Welt streben der Westgrenze des Kontinents entgegen und werden im Fleiße ihrer Reise selbst zu Amerikanern. Von 1856 bis 1866 zog der aus Dromedaren und Trampeltieren bestehende Lastenträgertrupp, der vom Kriegsministerium mitsamt seiner Reiter aus Ägypten und dem Osmanischen Reich eingeschifft worden war, durch Wüste und Prärie.
"Als ich die Legende vom Red Ghost zum ersten Mal in einem Podcast hörte, war ich fasziniert von ihrem immigrantischen Aspekt", sagt Obreht, "von der Vorstellung eines Cowboys aus dem Balkan, dessen Pferd ein Kamel ist." Ihm, dem Kameltreiber Lurie, ist der erste der beiden Erzählstränge des Romans gewidmet. Dass wir ihn unter diesem Namen kennenlernen, setzt die erste Verlusterfahrung seiner Migration schon voraus. Mit sechs ist er mit seinem Vater Hadziosman Djuric, einem Bosniaken, aus dem Osmanischen Reich nach Amerika ausgewandert. "Wenn ich mich recht erinnere, nannte er sich eine Zeitlang Hodgeman Drury - beerdigt aber wurde er als ,Hodge Lurie', besser wusste unsere Zimmerwirtin den Konsonantenverhau seines Namens nicht zu entwirren, als der Bestatter kam, um seine Leiche abzuholen."
Nach dem Tod seines Vaters schließt der junge Lurie sich einer Gang an und begeht bei einem Postkutschenraub einen Mord. Er flieht vor dem Staat - und landet im Staatsdienst. In Texas verpflichtet ihn das U.S. Camel Corps. Wie sonst der Reiter zu seinem Rappen, entwickelt Lurie ein fast brüderliches Verhältnis zu seinem Kamel Burke, an das er sich als Erzähler in weiten Teilen des Buches richtet. Mit wem spräche er auch sonst? Zwar empfindet er, obwohl weder des Türkischen noch des Arabischen mächtig, so etwas wie Nachbarschaft, als er im Camel Corps von einigen seiner Kameraden Wörter wie "merhaba" und "mashallah" vernimmt. Mehr aber ist auch dort nicht zu finden. Man fühlt sich an den böhmischen Vater aus Willa Cathers Siedlerroman "My Ántonia" (1918) erinnert, der nach der Einwanderung erst wieder das Lachen erlernt, als er zwei Russen in Nebraska ihm vage vertraute Töne sprechen hört.
Den Klang des amerikanischen Westens erfährt man bei Obreht mittels einer Gesellschaft der Verstummung und Umbenennung. "Im Laufe der Jahre sind wir alle mit diesem oder jenem Namen gerufen worden, aber jetzt sind wir, wer wir sind", sagt einmal der Kameltreiber Hadschi Ali. Auch ihn gab es wirklich. 1828 als syrisch-griechischer Christ in Izmir geboren und zum Islam konvertiert, kam er zusammen mit den Kamelen in die Vereinigten Staaten, wo er in Quartzsite, Arizona, beerdigt ist. Auf dem Grabstein ist sein Glaube nicht mehr erkennbar. Aus Hadschi Ali wurde darauf Hi Jolly.
Welche Rolle spielen Namen in der Migration? Obreht, 1985 in Belgrad geboren, heißt eigentlich Bajraktarevic, Sie schreibt jedoch unter dem Namen ihres Großvaters mütterlicherseits, der sie auf dem Sterbebett darum bat, seinen Familiennamen fortzuführen. "Auf dem Balkan sind Ethnien oft in Namen hineinkodiert", sagt sie. "Wenn ich dort ins Restaurant gehe und der Kellner den Namen auf meiner Kreditkarte sieht, zieht er vermutlich alle möglichen Schlüsse darüber, wer ich bin."
Zu Hause sprach Obreht als Kind Serbokroatisch. Mit sieben floh die Familie vor den Jugoslawienkriegen nach Zypern, dann weiter nach Ägypten. In die Vereinigten Staaten kam Obreht mit zwölf. In mancherlei Hinsicht seien ihr Ägypten und seine Erzählkultur näher als Amerika, sagt sie, sogar die Fauna von "Herzland" lernte sie zuerst dort kennen. Ihr Geschichtslehrer organisierte damals eine Exkursion zu den Ruinen von Memphis - auf Kamelen.
Seitenwechsel. Hinein in eine geschlossene Welt. Der zweite Handlungsstrang von "Herzland" spielt an einem einzigen Tag im Örtchen Amargo, im Arizona von 1893, neunzehn Jahre vor der Bundesstaatlichkeit. Die Siedlerin Nora Lark wird geplagt vom schwindenden Wasservorrat, den ihr seit Tagen verschollener Mann längst aufgefrischt haben sollte. Die Lokalzeitung, deren Chefredakteur er ist, kämpft derweil auf verlorenem Posten gegen das Konkurrenzblatt, das von Gnaden des Rinderbarons Merrion Crace agiert. Die ersehnte Eisenbahnanbindung, im amerikanischen Westen des späten neunzehnten Jahrhunderts eine Lebensversicherung, wird deshalb wohl nicht an Amargo gehen, sondern an Craces Ortschaft. "Sie ahnte, dies war die Krux des Lebens: Jeder murkste im grellen Glanz seines Ruins einsam vor sich hin." Zu allem Überfluss besteht Noras quengelnder Jüngster darauf, in der Wildnis ein rotes Ungeheuer gesehen zu haben.
Und dann werden Stimmen laut, deren Inhaber gar nicht existieren. Die Cousine von Noras Mann betätigt sich als Medium, was Nora zunächst als Aberglauben abtut. In stillen Momenten allerdings sucht sie selbst das Gespräch mit ihrer verstorbenen Tochter Evelyn. Deren Tod, stellt sich heraus, umrankt ein Geheimnis, das Nora nicht ganz unschuldig dastehen lässt.
Wie in "Die Tigerfrau", in dem ein "Mann, der nicht sterben kann" vorkommt, weil ihm die Tore in den Tod versperrt sind, ist das Jenseits in "Herzland" selten endgültig. Der Tod im klassischen Western sei oft etwas Mechanistisches, sagt Obreht. Aber müsse es in diesen menschenfeindlichen Gefilden nicht ein Dahinter geben? Die Toten heißen im Roman "die anderen Lebenden". Für Nora wird die Stimme ihrer Tochter zum Ersatzgewissen, Lurie wird vom kleptomanisch-durstigen "Wollen" verstorbener Gefährten heimgesucht. Im Original heißen diese Totenrufe "wants" - also nicht nur "Wollen", sondern auch "Fehlen".
Was fehlt? Wasser. Leben. Eine Gesellschaft. 1890 hatte Arizona weniger als 60 000 Einwohner. Die Geister des Romans treten ungebeten ein in dieses unfertige Soziotop, ohne zu Figuren der Komik oder des Grusels abzuflachen. Sie sind einfach da. Auf den letzten, in zweifachem Sinne begeisternden Seiten wird aus zwei Erzählsträngen einer, und plötzlich erkennt der Leser in der Geschichte nicht nur den Kampf gegen die Natur, sondern das, was die Legende vom Red Ghost wirklich ist: eine Parabel auf die Angst Amerikas vor allem Nichtamerikanischen.
An diesem Ende stehen Lebende neben "anderen Lebenden", Nora, Evelyn, Lurie, das rote Ungeheuer - sogar ein gewisses "neues Haus in Wyoming" taucht dort auf, aus dem Téa Obreht vielleicht gerade nach Deutschland telefoniert. Es ist die Kulmination eines sanften magischen Realismus, der so gut passt in dieses "Herzland", das menschenleer ist und doch traumvoll.
CORNELIUS DIECKMANN
Téa Obreht: "Herzland". Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 512 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf den letzten begeisternden Seiten wird aus zwei Erzählsträngen einer ... Die Kulmination eines sanften magischen Realismus, der so gut passt in dieses 'Herzland', das menschenleer ist und doch traumvoll. Cornelius Dieckmann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20200416