Eine Frau wird von ihrem Mann ins Krankenhaus gebracht, zu einer Herzoperation. Die beiden wirken wie Schlafwandler, keiner scheint den anderen wahrzunehmen. Nach einer erfolgreichen Operation kehrt sie schon nach wenigen Wochen nach Hause zurück. Doch schon bald plagen sie Träume, in denen sie mehr lebt als in ihrem realen Leben. Sie findet in den Alltag vor ihrer Operation nicht mehr zurück. Im Krankenhaus begibt sie sich auf die Suche nach dem Herzspezialisten, ihrem Lebensretter, der ihr Herz berührt hat. In der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart ist Julya Rabinowich eine neue Stimme, die aufhorchen lässt. "Herznovelle" ist ein Text über die große Sehnsucht nach einem Leben vor dem Tod.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2011Organ der Begierde
In ihrer "Herznovelle" zeigt die russischstämmige Autorin Julya Rabinowich mit erschreckender Präzision die verstörende Innenansicht einer Stalkerin.
Man schreibt wieder Novellen in deutschen Landen. In dieser hat die Erzählerin ihr Herz an ihren Herzchirurgen verloren; metaphorisch, versteht sich, denn der Eingriff an der jungen Frau, offenbar eine Routinesache, ist erfolgreich verlaufen. Nun könnte sie zurück in ihr altes Leben mit einem ziemlich langweiligen Gatten - hätte sie sich nicht rasend in ihren Arzt verliebt.
Bei Wilhelm Hauff verliert einer sein Herz an den Holländer-Michel und bekommt ein Ersatzprodukt aus kaltem Stein, hier wird ein Herz nach Manipulation überaktiv, es droht akute Überhitzung. Das Herz, die Liebe, der Schmerz - Julya Rabinowich bringt in den ewigen Gleichklang der Literatur eine neue Note hinein, indem sie das Herz nicht nur als Symbol, sondern als Organ zum Objekt der Begierde macht. "Ich träume wieder / von seiner Hand / die in meinen Brustkorb greift", heißt es in einem der in die Erzählung eingestreuten Gedichte. Überhaupt verlaufen die Grenzen zwischen feuchten Träumen, Wunschträumen und realem Geschehen fließend: Wie weit geht die Gute wirklich beim Herrn Doktor? Die Grenzerfahrung der Herzoperation macht sie furchtlos, treibt sie dem kleinen Tod geradezu in die Arme. Staunend registriert sie selbst, wie Scham und Anstand ihre Rechte verlieren, es ist der Körper, der, einmal mit Aufmerksamkeit bedacht, die seinen rücksichtslos geltend macht.
Stilisierte EKG-Kurven markieren die Abschnitte der Novelle. Es scheint, als erobere der Ärzteroman, in ironischer Verkleidung, die hohe Literatur. Man muss deshalb nicht gleich einen Trend ausrufen, aber merkwürdig ist es schon, dass nun nach Anna-Elisabeth Mayers Ich-Erzählerin im Vorjahr ("Fliegengewicht") eine zweite junge Herzpatientin auf ihren Arzt reflektiert und Rabinowichs Verlagskollege Peter Stephan Jungk mit "Das elektrische Herz" soeben ein Pendant aus männlicher Perspektive vorgelegt hat.
Die Obsession ist in "Herznovelle" in jeder Hinsicht ungesund: Die Patientin provoziert einen Notfall, um wieder auf der Kardiologie zu landen, sie nimmt die dreifache der vorgeschriebenen Medikation, dann wieder gar nichts, um dem vergötterten Arzt, der sich vor ihr versteckt, nur ja wieder vorgeführt zu werden. Sogar in den Ärzteball schummelt sie sich, trifft dort aber nur ihren alten Hausarzt, der ihre jagdlustige Aufmachung peinlich missversteht.
Wenn eine Wiener Autorin ihre Heldin mit erotischen Phantasien ausstattet und auf einen Faschingsball schickt und die Geschichte auch noch "Herznovelle" nennt, sind Assoziationen zu Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" offensichtlich erwünscht. Mindestens ebenso deutliche Spuren führen zu "Fräulein Else", einem Text, der nicht zuletzt von einer masochistischen Lustangst erzählt: Wie Else streift die Frau sich einen Mantel über, um sich, darunter nackt, seiner mit Aplomb zu entledigen. Ihr Adressat ist freilich ein Zwangsbeglückter. Im Gedicht beschreibt das Ich die Situation als Zweikampf, wiederum anspielend auf Schnitzlers "Duell im Morgengrauen": "Mein Begehren ist ein Gewehr / das auf jemanden gerichtet werden will." Hat dieses ziellose Begehren sein Objekt einmal aufs Korn genommen, dann gnade ihm Gott.
"Herznovelle" zeigt mit erschreckender Präzision die Innenansicht einer Stalkerin, die durchaus weiß, was sie da tut. Beschrieben wird eine Verirrung, eine Art libidinöser Haushaltsunfall. In Wahrheit aber lehrt die Geschichte, dass jedes Verliebtsein haarscharf an den Wahnsinn grenzt. Der anvisierte Medizinmann soll für eine Lücke büßen, für die er nichts kann, soll eine Wunde heilen, die er nicht geschlagen hat: "Ich will, dass Sie mich ganz machen." Der Ehemann, "zufrieden mit unserer ruhigen Paarweise", scheint ausgespielt zu haben und wird zuletzt doch noch zum zweifelhaften Joker.
Wie schon in ihrem Romandebut "Spaltkopf" (2008), das ihr den Rauriser Literaturpreis einbrachte, nähert sich die gebürtige Leningraderin den großen Gefühlen mit kleinem Gepäck, ohne Pathoslast, mit Witz und bösem Scharfblick: Das Ich sieht sich als Maschine, der "kleine Ausfälle" gestattet sind. Solange die Mahlzeiten auf dem Tisch stehen und des Gatten Geschäftsfreunde bewirtet werden. "Dazwischen darf ich verhaltensoriginell sein, in unseren vier Wänden, wenn es keiner sieht. Anschließend wird die Maschine mit viel Liebe zum Detail gewartet, und wir fahren die nächsten pannenfreien Kilometer." Rabinowichs beherzt bildreicher Stil macht die Lektüre zum Vergnügen, das durch die eingebettete Herzschmerz-Lyrik der coolen Art nicht merkbar gesteigert wird. Ein wenig fremd und manchmal redundant stehen die Verse zwischen den Prosa-Stücken herum.
DANIELA STRIGL
Julya Rabinowich: "Herznovelle".
Deuticke Verlag, Wien 2011. 158 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrer "Herznovelle" zeigt die russischstämmige Autorin Julya Rabinowich mit erschreckender Präzision die verstörende Innenansicht einer Stalkerin.
Man schreibt wieder Novellen in deutschen Landen. In dieser hat die Erzählerin ihr Herz an ihren Herzchirurgen verloren; metaphorisch, versteht sich, denn der Eingriff an der jungen Frau, offenbar eine Routinesache, ist erfolgreich verlaufen. Nun könnte sie zurück in ihr altes Leben mit einem ziemlich langweiligen Gatten - hätte sie sich nicht rasend in ihren Arzt verliebt.
Bei Wilhelm Hauff verliert einer sein Herz an den Holländer-Michel und bekommt ein Ersatzprodukt aus kaltem Stein, hier wird ein Herz nach Manipulation überaktiv, es droht akute Überhitzung. Das Herz, die Liebe, der Schmerz - Julya Rabinowich bringt in den ewigen Gleichklang der Literatur eine neue Note hinein, indem sie das Herz nicht nur als Symbol, sondern als Organ zum Objekt der Begierde macht. "Ich träume wieder / von seiner Hand / die in meinen Brustkorb greift", heißt es in einem der in die Erzählung eingestreuten Gedichte. Überhaupt verlaufen die Grenzen zwischen feuchten Träumen, Wunschträumen und realem Geschehen fließend: Wie weit geht die Gute wirklich beim Herrn Doktor? Die Grenzerfahrung der Herzoperation macht sie furchtlos, treibt sie dem kleinen Tod geradezu in die Arme. Staunend registriert sie selbst, wie Scham und Anstand ihre Rechte verlieren, es ist der Körper, der, einmal mit Aufmerksamkeit bedacht, die seinen rücksichtslos geltend macht.
Stilisierte EKG-Kurven markieren die Abschnitte der Novelle. Es scheint, als erobere der Ärzteroman, in ironischer Verkleidung, die hohe Literatur. Man muss deshalb nicht gleich einen Trend ausrufen, aber merkwürdig ist es schon, dass nun nach Anna-Elisabeth Mayers Ich-Erzählerin im Vorjahr ("Fliegengewicht") eine zweite junge Herzpatientin auf ihren Arzt reflektiert und Rabinowichs Verlagskollege Peter Stephan Jungk mit "Das elektrische Herz" soeben ein Pendant aus männlicher Perspektive vorgelegt hat.
Die Obsession ist in "Herznovelle" in jeder Hinsicht ungesund: Die Patientin provoziert einen Notfall, um wieder auf der Kardiologie zu landen, sie nimmt die dreifache der vorgeschriebenen Medikation, dann wieder gar nichts, um dem vergötterten Arzt, der sich vor ihr versteckt, nur ja wieder vorgeführt zu werden. Sogar in den Ärzteball schummelt sie sich, trifft dort aber nur ihren alten Hausarzt, der ihre jagdlustige Aufmachung peinlich missversteht.
Wenn eine Wiener Autorin ihre Heldin mit erotischen Phantasien ausstattet und auf einen Faschingsball schickt und die Geschichte auch noch "Herznovelle" nennt, sind Assoziationen zu Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" offensichtlich erwünscht. Mindestens ebenso deutliche Spuren führen zu "Fräulein Else", einem Text, der nicht zuletzt von einer masochistischen Lustangst erzählt: Wie Else streift die Frau sich einen Mantel über, um sich, darunter nackt, seiner mit Aplomb zu entledigen. Ihr Adressat ist freilich ein Zwangsbeglückter. Im Gedicht beschreibt das Ich die Situation als Zweikampf, wiederum anspielend auf Schnitzlers "Duell im Morgengrauen": "Mein Begehren ist ein Gewehr / das auf jemanden gerichtet werden will." Hat dieses ziellose Begehren sein Objekt einmal aufs Korn genommen, dann gnade ihm Gott.
"Herznovelle" zeigt mit erschreckender Präzision die Innenansicht einer Stalkerin, die durchaus weiß, was sie da tut. Beschrieben wird eine Verirrung, eine Art libidinöser Haushaltsunfall. In Wahrheit aber lehrt die Geschichte, dass jedes Verliebtsein haarscharf an den Wahnsinn grenzt. Der anvisierte Medizinmann soll für eine Lücke büßen, für die er nichts kann, soll eine Wunde heilen, die er nicht geschlagen hat: "Ich will, dass Sie mich ganz machen." Der Ehemann, "zufrieden mit unserer ruhigen Paarweise", scheint ausgespielt zu haben und wird zuletzt doch noch zum zweifelhaften Joker.
Wie schon in ihrem Romandebut "Spaltkopf" (2008), das ihr den Rauriser Literaturpreis einbrachte, nähert sich die gebürtige Leningraderin den großen Gefühlen mit kleinem Gepäck, ohne Pathoslast, mit Witz und bösem Scharfblick: Das Ich sieht sich als Maschine, der "kleine Ausfälle" gestattet sind. Solange die Mahlzeiten auf dem Tisch stehen und des Gatten Geschäftsfreunde bewirtet werden. "Dazwischen darf ich verhaltensoriginell sein, in unseren vier Wänden, wenn es keiner sieht. Anschließend wird die Maschine mit viel Liebe zum Detail gewartet, und wir fahren die nächsten pannenfreien Kilometer." Rabinowichs beherzt bildreicher Stil macht die Lektüre zum Vergnügen, das durch die eingebettete Herzschmerz-Lyrik der coolen Art nicht merkbar gesteigert wird. Ein wenig fremd und manchmal redundant stehen die Verse zwischen den Prosa-Stücken herum.
DANIELA STRIGL
Julya Rabinowich: "Herznovelle".
Deuticke Verlag, Wien 2011. 158 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Daniela Strigl macht sich ihren eigenen Reim auf einen möglichen Trend: Der ambitionierte Arztroman ist da! Bei Julya Rabinowich allerdings zunächst in Novellenform mit lyrischen Exkursen. Letztere braucht es laut Strigl gar nicht, um das Herz als Organ und Metapher ins Spiel zu bringen. Die prosaische Geschichte einer Schein-Herzkranken Stalkerin, die hinter ihrem Doktor her ist, führt Strigl ohnehin in die Zwischenbereiche von realem Geschehen und Träumen. Schnitzler grüßt (zumal bei einer aus Wien stammenden Autorin) und ein Witz und eine Präzision im Psychologischen, die Strigl klarmachen: Liebe ist eigentlich der Wahnsinn.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Eine glasklare Erzählung, die sich ihrem hochemotionalen Thema einer traurigen Hysterie mit strenger Pointiertheit nähert." Julia Kospach
"Kleine, triste Geschichte, große Wirkung. Einfache Sätze, die viel sagen. Chirurgie mit Wörtern." Peter Pisa, Kurier, 12.02.11
"Ein wunderbares literarisches Kabinettstück, das eine unerhörte Begebenheit - dass ein Mann im physischen Sinne das Herz einer Frau berührt - zu einer unbeschwerten Hommage an die Novellenkunst Arthur Schnitzlers macht." Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 26.02.11"Auch wenn am Ende nur ein kleines Glück und eine kleine Liebe erreicht werden, bleibt die Hoffnung, nein die Erkenntnis, dass ein verrücktes Herz allemal besser ist als ein kaltes." Stefan Gmünder, Der Standard, 12./13.02.11
"Wie schon in ihrem Romandebut "Spaltkopf" nähert sich die gebürtige Leningraderin den großen Gefühlen mit kleinem Gepäck, ohne Pathoslast, mit Witz und bösem Scharfblick." Daniela Strigl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.2011
"Eine kurzweilig zu lesende, von Traum- und Lyrikfetzen durchsetzte und vor originellen Bildern nur so strotzende kleine Erzählung." Florian Hunger, Jüdische Zeitung, Juli 2011
"Die bedingungslose Konsequenz, mit der hier eine Liebe Raum sucht, ist bestürzend. Und faszinierend ist, mit welch sinnlicher Wucht Julya Rabinowich diese Geschichte erzählt: Ein sehr schönes Buch!" Armin Kratzert, BR-LeseZeichen, 14.11.2011
"Kleine, triste Geschichte, große Wirkung. Einfache Sätze, die viel sagen. Chirurgie mit Wörtern." Peter Pisa, Kurier, 12.02.11
"Ein wunderbares literarisches Kabinettstück, das eine unerhörte Begebenheit - dass ein Mann im physischen Sinne das Herz einer Frau berührt - zu einer unbeschwerten Hommage an die Novellenkunst Arthur Schnitzlers macht." Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 26.02.11"Auch wenn am Ende nur ein kleines Glück und eine kleine Liebe erreicht werden, bleibt die Hoffnung, nein die Erkenntnis, dass ein verrücktes Herz allemal besser ist als ein kaltes." Stefan Gmünder, Der Standard, 12./13.02.11
"Wie schon in ihrem Romandebut "Spaltkopf" nähert sich die gebürtige Leningraderin den großen Gefühlen mit kleinem Gepäck, ohne Pathoslast, mit Witz und bösem Scharfblick." Daniela Strigl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.2011
"Eine kurzweilig zu lesende, von Traum- und Lyrikfetzen durchsetzte und vor originellen Bildern nur so strotzende kleine Erzählung." Florian Hunger, Jüdische Zeitung, Juli 2011
"Die bedingungslose Konsequenz, mit der hier eine Liebe Raum sucht, ist bestürzend. Und faszinierend ist, mit welch sinnlicher Wucht Julya Rabinowich diese Geschichte erzählt: Ein sehr schönes Buch!" Armin Kratzert, BR-LeseZeichen, 14.11.2011