Produktdetails
  • Verlag: Hanser, Carl
  • ISBN-13: 9783446185241
  • ISBN-10: 3446185240
  • Artikelnr.: 24939194
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Korrekte Albträume
P. C. Claussen und sein "Herzwechsel" / Von Wilfried Wiegand

Im Sommer 1993 wurde der Kunsthistoriker Peter Cornelius Claussen, neunundvierzig Jahre alt, am Herzen operiert. Eine Klappe sollte verändert und notfalls durch eine Prothese aus Metall ersetzt werden. Während der Operation erwies sich die chirurgische Reparatur jedoch als unmöglich, nur durch Transplantation eines Spenderherzens konnte sein Leben gerettet werden. Claussen lebt jetzt mit dem fremden Herzen, hält wieder seine Vorlesungen und hat nun über seine Erfahrungen ein Buch geschrieben.

Der weitverbreitete Aberglaube, daß durch ein fremdes Herz wenigstens ein bißchen fremde Seele in den Operierten übergeht, wird hier nicht bestätigt. Claussen zeigt sich sogar einigermaßen erstaunt darüber, daß viele Menschen solchen Frankenstein-Phantasien anhängen. Das fremde Herz, das er in sich trägt, wird nicht von fremden Gefühlen heimgesucht, es scheint eher gar nichts zu empfinden. Da der entscheidende Nerv nicht vernäht werden konnte, bleibt das Herz ohne Kontakt zu den Empfindungszentren im Gehirn, es "spricht" nicht mehr zu seinem Besitzer, sondern verrichtet stumm seine Arbeit. Der Autor hat andere Sorgen: Allerlei körperliche Insuffizienzen, regelmäßige, recht umständliche Nachuntersuchungen und vor allem die beständige Sorge, wie lange das Leben mit einem transplantierten Herzen wohl dauern mag.

Schwere Unfälle und manche lebensbedrohenden Krankheiten lösen ein seelisches Trauma aus. Vor, nach und vielleicht sogar während schwerer Operationen durchlebt der Patient Todesängste, auch wenn sie noch so sehr ins Unbewußte abgedrängt werden. Medikamente und Betäubungsmittel tun ein übriges, den Kranken auf der Intensivstation und manchmal noch Tage später in einen Zustand fiebriger Träumerei und hiflosen Halluzinierens zu versetzen. Das alles ist bekannt und im Prinzip jedem von den Fieberträumen seiner eigenen Kindheit her nachvollziehbar. Nach einer Herzoperation ist es fast normal, derlei intensiv zu erleben.

Claussen, der eine besonders schwere Operation zu verarbeiten hatte, schildert seine Phantasien auf der Intensivstation und in den Tagen danach als "Reisen", die sich in seinem Kof abgespielt haben. Ziemlich schnell, schon nach etwa zwanzig Seiten, kommt er auf diese Kopfreisen zu sprechen, und erst auf Seite 197 wird der Leser wieder auf den Boden der Tatsachen versetzt: Ein recht kluger Essay schildert dann, was sich wirklich im Krankenhaus abgespielt hat, und versucht, die vorher geschilderten Traumwelten zu deuten. Der Autor hält seine Halluzinationen - was man verstehen kann - für äußerst wichtig. Kühn deutet er sie als eine "Gegenwelt", als ein im Innern des Menschen abrufbares "eigenes Programm" des menschlichen Geistes, als "virtuelle Realität", von den Medizinern unterschätzt, erst von ihm richtig bewertet.

Hundertfünfundsiebzig Seiten lang läßt Claussen uns an seinen Kopfreisen teilhaben. Dabei werden Schilderungen der Krankenhausrealität, Rückblenden aus dem Leben des Autors, nachträgliche Kommentare und die Phantasien des Kranken absichtsvoll zu einer Collage zusammenmontiert. Passagen in Kursivschrift, Zwischenüberschriften in kleinen und andere in Großbuchstaben helfen über weite Strecken, die unterschiedlichen Realitäten auseinanderzuhalten. Man kann sich auf diese graphischen Verkehrszeichen aber nicht verlassen. Das Verrätselte dieser Collage wirkt beabsichtigt. Es soll vermeintlich literarische Effekte erzielen. Aber das Buch ist als Ganzes so schlicht komponiert wie ein Kriminalroman von Agatha Christie: Am Anfang eine Tat, dann im Hauptteil viel Verwirrung durch falsche Spuren, am Schluß die ernüchternde Aufklärung. Und wie bei Agatha Christie ist man am Ende etwas enttäuscht, daß der Autor uns so lange an der Nase herumgeführt hat, wo sich doch alles so einfach erklären läßt.

Claussen legt in der Schlußbetrachtung großen Wert darauf, daß seine Kopfreisen keine gewöhnlichen Träume seien. Auch mit seinen "Zwangsvisionen" unmittelbar nach der Operation dürften sie nicht verwechselt werden. Das klingt alles plausibel, aber es bleibt doch akademisch, wie wenn ein Kunsthistoriker an Diapositiven den Unterschied zwischen romanischem und gotischem Stil erläutert. Was Claussens "Kopfkino" von üblichen Fieberphantasien unterscheidet, kann er nur als theoretisierender Systematiker klarmachen. Die ausführlichen Schilderungen seiner Phantasien wirken nicht, als hätte hier endlich einer die Tür zu Unbekanntem aufgestoßen und berichtete von einem jungfräulichen Kontinent im Meer des Unbewußten.

Die Trauminhalte sind überhaupt nicht ungewöhnlich. Beispielsweise erträumt Claussen sich ein Treffen mit zurückgekehrten jüdischen Emigranten seiner Fachrichtung: "Sie rufen nach mir. Nach einigen Anstrengungen bin ich bei ihnen und bemühe mich mitzusingen. Es ist nur Gebrumm. Ich kenne weder Melodie noch Text. Hephaistos in der Rolle des Rabbi. Sie wissen nicht, daß ich kein Jude bin. Wer bin ich eigentlich? . . ." Oder eine Traumphantasie reagiert auf den Krankenhausalltag: "Wie vor dreihundert Jahren schröpft und purgiert man mich, läßt mich zur Ader - Ströme von Blut. Ich weiß, was die Schwestern und Pflegerinnen damit machen. Alle stecken unter einer Decke - auch die männlichen Pfleger, die mich absaugen, weil sie für diesen Dienst von den Schwestern etwas bekommen, sind an dem Komplott beteiligt. Aus meinem Blut werden in den Räumen der Schwestern (die ich an verschiedenen Orten der Intensivstation immer oben rechts lokalisiere) kleine, granulatartige Kekse hergestellt, die ich einige Male selbst probieren durfte . . ." Und natürlich fehlt es auch nicht an erotischen Motiven.

Was Claussen in seinen Träumen der ersten Nächte erlebt, sind vor allem Schuldgefühle: gegenüber der "Armenmedizin" in der Dritten Welt, die ihren Patienten keine vergleichbaren Rettungsmöglichkeiten bieten kann, außerdem "allen Toten gegenüber, die starben, als es solche Rettungstechnologien noch nicht gab", schließlich gegenüber den "Toten des Holocaust". In einer Rückblende schildert Claussen, wo er sich diese Motive zum ersten Mal angeeignet hat: Als Zwölfjähriger in Kassel sah er zum ersten Mal Fotos aus Auschwitz, und "alles Künftige, auch die Liebe, hat von nun an damit zu tun". Das also ist das Neue, was Claussen entdeckt hat: der politisch korrekte Albtraum. Auf dieser Basis läßt sich leicht Kulturkritik treiben. Kohl, "der zu spät Geborene", wird wegen "der zu großen Kollwitz-Mutter" getadelt, und Christos Reichstagsverhüllung war selbstverständlich auch nicht korrekt, symbolisierte sie doch die "Entsorgung in Sachen deutscher Geschichte". Überhaupt die Kunst unserer Zeit, ist sie denn noch mehr als eine Anhäufung von "Belanglosigkeiten"? "Spielereien ohne Spiel", seufzt Claussen, "Glätte ohne Schönheit."

Auf den allerletzten Seiten äußert sich die political correctness dann ungehemmt. Da ist von "BykerInnen" die Rede, es heißt "Mann" statt "man", und einmal ist der Autor gar von "man und frau" umgeben. Auch Buchenwald und Bergen-Belsen, die Kriege in Bosnien und Ruanda werden vereinnahmt. Es sind Zutaten von Claussens Barmixer-Moral.

Peter Cornelius Claussen: "Herzwechsel". Ein Erfahrungsbericht. Carl Hanser Verlag, München 1996. 288 S., geb., 39,80 DM.

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