Produktdetails
- Verlag: Büchergilde Gutenberg (Lizenz Suhrkamp)
- ISBN-13: 9783763259939
- Artikelnr.: 32427841
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.12.2023Der Dichtergott
Bertrand Badious Biografie über Paul Celan ist eine monumentale Leistung,
die kaum zu überschätzen ist. Aber sie neigt zur weihevollen Verklärung –
und tut dem Autor damit keinen Gefallen.
VON ANDREAS BERNARD
Bertrand Badious „Bildbiographie“ über Paul Celan erinnert an Borges’ Kurzgeschichte „Von der Strenge der Wissenschaft“, in der die Erstellung einer Landkarte beschrieben wird, die so groß wie das Reich ist, das sie abbildet. Der Herausgeber der Werke Celans vermisst die Existenz des Dichters in diesem monumentalen Band mit ähnlicher Akribie. Auf knapp 600 Seiten Großformat, entlang von unzähligen Fotos, Zeitungsausschnitten, Manuskriptseiten, Brief-, Tagebuch- und Kalenderblatt-Faksimiles, rekonstruiert Badiou, wie man in Anlehnung an vergleichbare Goethe-Biografien sagen könnte, Celans Leben von Tag zu Tag.
Der Materialreichtum und die editorische Sorgfalt des Bandes sind bewundernswert, und vor allem die erste Hälfte von Celans Leben, in der er noch Paul Antschel hieß, wird durch Badious Funde in oft schwer zu ertragender Detailtreue anschaulich. Czernowitz in der Bukowina, das „Klein-Wien“ an der ehemaligen Ostgrenze der Habsburgermonarchie, ist kurz vor Celans Geburt 1920 in rumänischem Territorium aufgegangen, doch ein Drittel der Stadtbevölkerung besteht weiterhin aus deutschsprachigen Juden. Kindheit und Jugend Paul Antschels scheinen von einem engen Verhältnis zu den Eltern geprägt zu sein; nach Beginn eines Medizinstudiums in Frankreich kehrt er im Sommer 1939 sogar in seine Heimatstadt zurück, um dort die Ferien zu verbringen.
Doch mit Beginn des Kriegs ist die Rückkehr nach Frankreich unmöglich. Im Juni 1940 besetzt die sowjetische Armee Czernowitz; ein Jahr später tritt Rumänien an der Seite Deutschlands in die Kampfhandlungen ein, und spätestens diese Allianz löst die Ur-Erschütterung im Leben und Werk des Dichters aus, die Errichtung des „Judenghettos“ in der Stadt, die Ermordung der Eltern Ende 1942 bei Massenerschießungen, seine eigene, zwei Jahre währende Zwangsarbeit in rumänischen Straflagern, die ihm zumindest das Leben rettet. Im Frühling 1945 geht Paul Antschel nach Bukarest und veröffentlicht dort zwei Jahre später zum ersten Mal unter dem neuen, umgestürzten Namen sein unmittelbar nach der Lagerhaft entstandenes Gedicht „Todesfuge“, das zu dem Zeitpunkt noch „Todestango“ heißt.
Badiou stellt diese Ereignisse, den konstitutiven Bruch im Leben Celans, anhand einer Vielzahl bislang unbekannter Fotos und Dokumente dar, wobei sich der Blick auf Czernowitz für den Leser zwischen dem Zusammenstellen und dem Erscheinen des Bandes auf jähe Weise verändert hat. Die Hauptstadt der Bukowina, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowjetisch, seit 1991 ukrainisch, war für das deutsche oder französische Publikum der vergangenen Jahrzehnte so weit entfernt, dass sich ein museales, literaturtouristisch getöntes Bild der Geburtsstadt Paul Celans verfestigt hat. Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist diese sentimentale Distanz verschwunden: Czernowitz hat sich in der Perspektive Mitteleuropas wieder in einen eminent gegenwärtigen Ort zurückverwandelt.
Von 1948 bis zu seinem Selbstmord 1970 lebt Paul Celan in Paris, und auch diese zweite Lebenshälfte, von literarischem Ruhm und ab Anfang der Sechzigerjahre von gesundheitlichen Problemen und Psychiatrieaufenthalten geprägt, legt Bertrand Badiou in seiner mikrobiografischen Arbeit offen. Abgesehen von der Frage, ob es tatsächlich die Aufgabe der Editionsphilologie ist, die zunehmenden Wahnvorstellungen und paranoiden Störungen Celans (von den Plagiatsvorwürfen der Witwe Yvan Golls wohl verschärft), in aller Ausführlichkeit zu dokumentieren, wird in diesem zweiten Teil des Bandes ein Tonfall in den kommentierenden Texten vollends deutlich, der auch schon in Passagen des einleitenden „Geleitworts“ auffällt.
Badious Annäherung an den Dichter ist von einem weihevollen, hagiografischen Sound durchzogen, der von vornherein klarmacht, dass die ungeheure Anstrengung, die er in jahrzehntelanger Archiv- und Interpretationsarbeit auf sich genommen hat, sowohl einem singulären Dichter als auch einem singulären Menschen gilt. „Wie ein Midas“, schreibt er, „verwandelt Celan alles, was er berührt. Ob im Bereich der Sprache oder des Eros, alles wird bei ihm zu etwas Eigenem, Celanhaftem.“ Diese Einzigartigkeit des Dichters erfordert es, dass auch Celans Notizkalender und die Bücher, die er mit dem Bleistift las, mit dem gleichen hermeneutischen Ernst begutachtet werden müssen wie seine Gedichte. Ein Kalenderblatt vom 1. Dezember 1950, dem Geburtstag der Mutter, unterzieht Badiou einer strukturanalytischen Lektüre und schreibt etwa über Celans schlichten Eintrag „Mama“, es sei „zu bemerken, dass auf die unterstrichene intime Notiz ein stark abtrennender Strich folgt“.
Celans Lektürespuren in Heideggers „Sein und Zeit“ von 1953 an wiederum widmet der Herausgeber eine solche Aufmerksamkeit, dass er sogar die Anstreichungen in dem Buch zusammenzählt: „Mehr als eintausend Mal“, heißt es, „hat er mit dem Bleistift in der Hand über dem, was er liest, innegehalten“, und Badiou fügt an: „Tatsächlich verleihen die Unterstreichungen und Hervorhebungen, die den Text unterteilen (…), diesen einen eindeutig ,celanschen‘ Anschein.“ Der Dichter Paul Celan – und auch das verbindet den Band mit der Epoche Goethes – erscheint als beinahe heilige Gestalt, die alles, was sie umgibt, unweigerlich in Sinn und Fülle verwandelt, getreu protokolliert von einem verspäteten Eckermann. Vergleichbare Autoritäten der Weltgeschichte sind allenfalls andere Dichter, wie Badiou im Hinblick auf die Bibliophilie Paul Celans und dessen regelmäßige Antiquariatstouren in Paris bemerkt: „Für Celan ist das gezielte Sammeln von seltenen Ausgaben mehr als eine Liebhaberei: Er ist stolz auf seine Funde, weil er sie als Begegnungen mit seinen befreundeten Schriftstellern deutet und sich durch sie in seiner literarisch-ethischen Berufung bestätigt fühlt. Jeden Fund nimmt er als ein an ihn gerichtetes Zeichen des Schicksals war.“
Für das Anliegen, den letzten viel gelesenen Lyriker deutscher Sprache fünfzig Jahre nach seinem Tod einem neuen Publikum nahezubringen, ist dieser mystische Ton vermutlich kontraproduktiv. Celans Gedichte könnten heute gerade in dem Maße ihre Intensität entfalten, indem man sie so wörtlich wie möglich liest, indem man, wie es ein Teil der Interpreten seit Längerem tun, auf die überraschend vielen buchstäblichen, konkret historischen Referenzen in diesem auf den ersten Blick so hermetischen Werk hinweist. Badious Hagiografie droht eine solche Öffnung und Zugänglichkeit eher zu versperren.
Stärker als von diesem poetologischen Einwand wird die Lektüre der „Bildbiographie“, das Staunen über das spektakuläre Maß an editorischer Arbeit, aber von etwas Zweitem getrübt. Wenn Badiou im Geleitwort schreibt, dass bei Celan nicht nur sprachlich, sondern auch „im Bereich des Eros“ alles „zu etwas Eigenem“ wird, bringt diese Überführung von poetischer in sexuelle Aura irritierende Passagen hervor. Badiou schreibt etwa über die Totgeburt des ersten Sohnes von Celan und Gisèle Lestrange im Oktober 1953, nach einem über dreißigstündigen Versuch, das Kind zu entbinden. Badiou zitiert Briefe Celans über dieses katastrophale Ereignis, das offenbar auch die Mutter in Lebensgefahr gebracht hat. Auf der nächsten Seite dann schreibt der Herausgeber in einem neuen Abschnitt gemessenen Tones: „Am Tag des Todes seines Sohnes erlebt Celan seine erste erotische Begegnung mit der Schwester des österreichischen Schriftstellers Herbert Eisenreich“, und er referiert feinfühlig über das „Signalzeichen“ ihrer Liebe, „ein Stück weißes Tuch“ am Fenster von Brigitta Eisenreichs Wohnung im sechsten Stock, „um ihrem Liebhaber ihre Anwesenheit und Verfügbarkeit anzuzeigen“. Während Gisèle Lestrange, so ließe sich anfügen, in einem Kreißsaal in der Nähe um ihr Leben kämpft.
Es sind Stellen wie diese, die das unbestreitbar epochale Verdienst des Bandes für die Celan-Forschung relativieren. Die unterwürfige Haltung der literarischen Hermeneutik, ihre Feier des auratischen Dichters, lähmt das Werk und verzerrt den Autor.
Unmittelbar nach
der Lagerhaft
schreibt Celan
die „Todesfuge“
Ihre Intensität
entfalten die
Gedichte, wenn man
sie wörtlich liest
Wie eine beinahe heilige Gestalt, die alles, was sie umgibt, unweigerlich in Sinn und Fülle verwandelt: Paul Celan in seiner Pariser Bibliothek, als Schüler in Czernowitz und bei der Hochzeit mit Gisèle Lestrange
.
Fotos: Privatbesitz von Éric Celan
Bertrand Badiou:
Paul Celan.
Eine Bildbiographie. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2023.
584 Seiten, 68 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bertrand Badious Biografie über Paul Celan ist eine monumentale Leistung,
die kaum zu überschätzen ist. Aber sie neigt zur weihevollen Verklärung –
und tut dem Autor damit keinen Gefallen.
VON ANDREAS BERNARD
Bertrand Badious „Bildbiographie“ über Paul Celan erinnert an Borges’ Kurzgeschichte „Von der Strenge der Wissenschaft“, in der die Erstellung einer Landkarte beschrieben wird, die so groß wie das Reich ist, das sie abbildet. Der Herausgeber der Werke Celans vermisst die Existenz des Dichters in diesem monumentalen Band mit ähnlicher Akribie. Auf knapp 600 Seiten Großformat, entlang von unzähligen Fotos, Zeitungsausschnitten, Manuskriptseiten, Brief-, Tagebuch- und Kalenderblatt-Faksimiles, rekonstruiert Badiou, wie man in Anlehnung an vergleichbare Goethe-Biografien sagen könnte, Celans Leben von Tag zu Tag.
Der Materialreichtum und die editorische Sorgfalt des Bandes sind bewundernswert, und vor allem die erste Hälfte von Celans Leben, in der er noch Paul Antschel hieß, wird durch Badious Funde in oft schwer zu ertragender Detailtreue anschaulich. Czernowitz in der Bukowina, das „Klein-Wien“ an der ehemaligen Ostgrenze der Habsburgermonarchie, ist kurz vor Celans Geburt 1920 in rumänischem Territorium aufgegangen, doch ein Drittel der Stadtbevölkerung besteht weiterhin aus deutschsprachigen Juden. Kindheit und Jugend Paul Antschels scheinen von einem engen Verhältnis zu den Eltern geprägt zu sein; nach Beginn eines Medizinstudiums in Frankreich kehrt er im Sommer 1939 sogar in seine Heimatstadt zurück, um dort die Ferien zu verbringen.
Doch mit Beginn des Kriegs ist die Rückkehr nach Frankreich unmöglich. Im Juni 1940 besetzt die sowjetische Armee Czernowitz; ein Jahr später tritt Rumänien an der Seite Deutschlands in die Kampfhandlungen ein, und spätestens diese Allianz löst die Ur-Erschütterung im Leben und Werk des Dichters aus, die Errichtung des „Judenghettos“ in der Stadt, die Ermordung der Eltern Ende 1942 bei Massenerschießungen, seine eigene, zwei Jahre währende Zwangsarbeit in rumänischen Straflagern, die ihm zumindest das Leben rettet. Im Frühling 1945 geht Paul Antschel nach Bukarest und veröffentlicht dort zwei Jahre später zum ersten Mal unter dem neuen, umgestürzten Namen sein unmittelbar nach der Lagerhaft entstandenes Gedicht „Todesfuge“, das zu dem Zeitpunkt noch „Todestango“ heißt.
Badiou stellt diese Ereignisse, den konstitutiven Bruch im Leben Celans, anhand einer Vielzahl bislang unbekannter Fotos und Dokumente dar, wobei sich der Blick auf Czernowitz für den Leser zwischen dem Zusammenstellen und dem Erscheinen des Bandes auf jähe Weise verändert hat. Die Hauptstadt der Bukowina, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowjetisch, seit 1991 ukrainisch, war für das deutsche oder französische Publikum der vergangenen Jahrzehnte so weit entfernt, dass sich ein museales, literaturtouristisch getöntes Bild der Geburtsstadt Paul Celans verfestigt hat. Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist diese sentimentale Distanz verschwunden: Czernowitz hat sich in der Perspektive Mitteleuropas wieder in einen eminent gegenwärtigen Ort zurückverwandelt.
Von 1948 bis zu seinem Selbstmord 1970 lebt Paul Celan in Paris, und auch diese zweite Lebenshälfte, von literarischem Ruhm und ab Anfang der Sechzigerjahre von gesundheitlichen Problemen und Psychiatrieaufenthalten geprägt, legt Bertrand Badiou in seiner mikrobiografischen Arbeit offen. Abgesehen von der Frage, ob es tatsächlich die Aufgabe der Editionsphilologie ist, die zunehmenden Wahnvorstellungen und paranoiden Störungen Celans (von den Plagiatsvorwürfen der Witwe Yvan Golls wohl verschärft), in aller Ausführlichkeit zu dokumentieren, wird in diesem zweiten Teil des Bandes ein Tonfall in den kommentierenden Texten vollends deutlich, der auch schon in Passagen des einleitenden „Geleitworts“ auffällt.
Badious Annäherung an den Dichter ist von einem weihevollen, hagiografischen Sound durchzogen, der von vornherein klarmacht, dass die ungeheure Anstrengung, die er in jahrzehntelanger Archiv- und Interpretationsarbeit auf sich genommen hat, sowohl einem singulären Dichter als auch einem singulären Menschen gilt. „Wie ein Midas“, schreibt er, „verwandelt Celan alles, was er berührt. Ob im Bereich der Sprache oder des Eros, alles wird bei ihm zu etwas Eigenem, Celanhaftem.“ Diese Einzigartigkeit des Dichters erfordert es, dass auch Celans Notizkalender und die Bücher, die er mit dem Bleistift las, mit dem gleichen hermeneutischen Ernst begutachtet werden müssen wie seine Gedichte. Ein Kalenderblatt vom 1. Dezember 1950, dem Geburtstag der Mutter, unterzieht Badiou einer strukturanalytischen Lektüre und schreibt etwa über Celans schlichten Eintrag „Mama“, es sei „zu bemerken, dass auf die unterstrichene intime Notiz ein stark abtrennender Strich folgt“.
Celans Lektürespuren in Heideggers „Sein und Zeit“ von 1953 an wiederum widmet der Herausgeber eine solche Aufmerksamkeit, dass er sogar die Anstreichungen in dem Buch zusammenzählt: „Mehr als eintausend Mal“, heißt es, „hat er mit dem Bleistift in der Hand über dem, was er liest, innegehalten“, und Badiou fügt an: „Tatsächlich verleihen die Unterstreichungen und Hervorhebungen, die den Text unterteilen (…), diesen einen eindeutig ,celanschen‘ Anschein.“ Der Dichter Paul Celan – und auch das verbindet den Band mit der Epoche Goethes – erscheint als beinahe heilige Gestalt, die alles, was sie umgibt, unweigerlich in Sinn und Fülle verwandelt, getreu protokolliert von einem verspäteten Eckermann. Vergleichbare Autoritäten der Weltgeschichte sind allenfalls andere Dichter, wie Badiou im Hinblick auf die Bibliophilie Paul Celans und dessen regelmäßige Antiquariatstouren in Paris bemerkt: „Für Celan ist das gezielte Sammeln von seltenen Ausgaben mehr als eine Liebhaberei: Er ist stolz auf seine Funde, weil er sie als Begegnungen mit seinen befreundeten Schriftstellern deutet und sich durch sie in seiner literarisch-ethischen Berufung bestätigt fühlt. Jeden Fund nimmt er als ein an ihn gerichtetes Zeichen des Schicksals war.“
Für das Anliegen, den letzten viel gelesenen Lyriker deutscher Sprache fünfzig Jahre nach seinem Tod einem neuen Publikum nahezubringen, ist dieser mystische Ton vermutlich kontraproduktiv. Celans Gedichte könnten heute gerade in dem Maße ihre Intensität entfalten, indem man sie so wörtlich wie möglich liest, indem man, wie es ein Teil der Interpreten seit Längerem tun, auf die überraschend vielen buchstäblichen, konkret historischen Referenzen in diesem auf den ersten Blick so hermetischen Werk hinweist. Badious Hagiografie droht eine solche Öffnung und Zugänglichkeit eher zu versperren.
Stärker als von diesem poetologischen Einwand wird die Lektüre der „Bildbiographie“, das Staunen über das spektakuläre Maß an editorischer Arbeit, aber von etwas Zweitem getrübt. Wenn Badiou im Geleitwort schreibt, dass bei Celan nicht nur sprachlich, sondern auch „im Bereich des Eros“ alles „zu etwas Eigenem“ wird, bringt diese Überführung von poetischer in sexuelle Aura irritierende Passagen hervor. Badiou schreibt etwa über die Totgeburt des ersten Sohnes von Celan und Gisèle Lestrange im Oktober 1953, nach einem über dreißigstündigen Versuch, das Kind zu entbinden. Badiou zitiert Briefe Celans über dieses katastrophale Ereignis, das offenbar auch die Mutter in Lebensgefahr gebracht hat. Auf der nächsten Seite dann schreibt der Herausgeber in einem neuen Abschnitt gemessenen Tones: „Am Tag des Todes seines Sohnes erlebt Celan seine erste erotische Begegnung mit der Schwester des österreichischen Schriftstellers Herbert Eisenreich“, und er referiert feinfühlig über das „Signalzeichen“ ihrer Liebe, „ein Stück weißes Tuch“ am Fenster von Brigitta Eisenreichs Wohnung im sechsten Stock, „um ihrem Liebhaber ihre Anwesenheit und Verfügbarkeit anzuzeigen“. Während Gisèle Lestrange, so ließe sich anfügen, in einem Kreißsaal in der Nähe um ihr Leben kämpft.
Es sind Stellen wie diese, die das unbestreitbar epochale Verdienst des Bandes für die Celan-Forschung relativieren. Die unterwürfige Haltung der literarischen Hermeneutik, ihre Feier des auratischen Dichters, lähmt das Werk und verzerrt den Autor.
Unmittelbar nach
der Lagerhaft
schreibt Celan
die „Todesfuge“
Ihre Intensität
entfalten die
Gedichte, wenn man
sie wörtlich liest
Wie eine beinahe heilige Gestalt, die alles, was sie umgibt, unweigerlich in Sinn und Fülle verwandelt: Paul Celan in seiner Pariser Bibliothek, als Schüler in Czernowitz und bei der Hochzeit mit Gisèle Lestrange
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Fotos: Privatbesitz von Éric Celan
Bertrand Badiou:
Paul Celan.
Eine Bildbiographie. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2023.
584 Seiten, 68 Euro.
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