Wo individuelle Nutzenkalküle und geteilte Erwartungen enden, beginnt das Terrain der Kunstfertigkeit. Unter der Annahme, dass politisches Entscheiden als pragmatischer Problemlösungs- und Abwägungsprozess zu betrachten ist, rollen die Beiträge dieses interdisziplinär angelegten Bandes die Frage neu auf, wie in der Politik unter Bedingungen begrenzter Rationalität Handlungsalternativen entworfen, verhandelt und ausgewählt werden. Die Pandemie hat diesem Anliegen eine ungeahnte Dramatik verliehen, eingeübte Grundsätze, Entscheidungsarenen und Praktiken der Politik stehen mehr denn je zur Disposition. Es ist an der Zeit, diese neu zu vermessen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Ariane Leendertz hätte sich einen genaueren Blick auf die politischen Akteure gewünscht, wenn die Autoren in dem von Karl-Rudolf Korte, Gert Scobel und Taylan Yildiz herausgegebenen Band der Entscheidungsfindung in komplexen politischen Prozessen auf die Spur zu kommen versuchen. Befunde aus Verhaltensökonomie und Kognitionsforschung kommen im Band vor, stellt Leendertz fest. Darüber hinaus erfährt der Leser laut Rezensentin, welcher heuristischen Hilfsmittel (Funktionswissen, Narrative, Routine, Intuition, Nachahmung etc.) sich Politiker bedienen. Wie genau und ob diese Techniken letztlich zur Lösung führen, darüber hätte Leendertz gern von den "real handelnden Individuen" mehr erfahren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2022Entscheiden auf unsicherer Wissensbasis
Strategien für politisches Handeln in Krisensituationen
Folgt man den Beiträgen dieses Sammelbands, sind die politischen Entscheidungsträger in unserem Land wahrlich nicht zu beneiden. Tagtäglich gilt es, unter erheblichem Zeitdruck einen Überblick über hochkomplexe Situationen zu gewinnen, Informationen zu beschaffen, zu bewerten und Entscheidungen mit immenser gesellschaftlicher Tragweite zu fällen. Als besondere Herausforderung präsentiert sich die verzwickte Komplexität vieler Probleme, die einerseits - wie im Fall der Klimakrise - schon seit Langem bekannt und analytisch durchdrungen sind und die andererseits - wie die Finanzkrise und die Corona-Pandemie - in kurzen Abständen aufpoppen und rasches Handeln verlangen.
Bei den langfristigen Problemlagen haben es die politischen Entscheidungsträger zumeist mit einem Informationsüberfluss zu tun, aus dem sie die relevanten Erkenntnisse für konkrete Lösungsansätze herausfiltern müssen. Hier ist es möglich, sich Zeit für die demokratische Deliberation und Mehrheitsfindung zu nehmen - oder sich in politischer Prokrastination vor der Festlegung auf eine Entscheidung zu drücken. Die in schneller Folge auftretenden Krisen zeichnen sich hingegen durch eine begrenzte und sich rapide verändernde Informationslage aus. Hier müssen unter den Bedingungen unsicheren Wissens Entscheidungen her, ohne dass zuvor ein längerer Abwägungsprozess hätte stattfinden können.
Wie kann es unter diesen Bedingungen überhaupt möglich sein, "gute" und "richtige" Entscheidungen zu treffen? Die Komplexitäts- und Krisendiagnosen, die den Band dominieren, sind eher ernüchternd. Trotzdem besteht Hoffnung: Die politischen und bürokratischen Spitzenakteure verfügen über verschiedene heuristische Strategien, die es ihnen ermöglichen, auch unter Zeitdruck rational kontrollierte Entscheidungen zu treffen.
Die Herausgeber greifen damit Befunde der Verhaltensökonomie und der psychologischen Kognitionsforschung auf. Wie Gerd Gigerenzer und andere gezeigt haben, bedienen sich Menschen in Situationen von Ungewissheit und kognitiver Überforderung aus einer Art adaptivem Werkzeugkasten, arbeiten selektiv mit vereinfachenden Faustregeln, Schätzungen, Nachahmung und Erfahrungswerten - und erzielen damit zufriedenstellende Lösungen. Im Feld der Vorhersagen beispielsweise erreichen Modelle, die auf derartigen einfachen Heuristiken basieren, in vielen Anwendungsfeldern mindestens genauso gute Ergebnisse wie mit riesigen Datenmengen gefütterte Algorithmen.
Karl-Rudolf Korte, Gert Scobel und Taylan Yildiz wollen wissen, welche heuristischen Hilfsmittel beim politischen Entscheiden zum Tragen kommen. Das explorative verbinden sie mit einem normativen Programm: Zugleich gelte es zu klären, wie "in Zeiten der Krise und Transformation" gute politische Entscheidungen getroffen werden können. Politik muss, da sind sich alle einig, in der Lage sein, "rational" Probleme zu lösen, allzeit bestmöglich informiert sein, im Zweifelsfall "klug" und "weise" entscheiden und dabei transparent und demokratisch verfahren. Das sind einigermaßen hohe Erwartungen. Aus den Beiträgen, die sich teils analytisch, teils eher frei assoziierend mit dem Titelthema auseinandersetzen, lässt sich herausfiltern, dass Heuristiken letztlich in allen politischen Entscheidungsprozessen und Krisensituationen zum Einsatz kommen.
Politische Heuristiken können demnach zum einen bestimmte "Biases" sein, die die Vielfalt der möglichen Entscheidungen bereits im Vorhinein reduzieren. Taylan Yildiz identifiziert drei Grundtypen: Akteure orientieren sich an den etablierten Verfahren und vorhandenem Funktionswissen, folgen der Routine, die bekannten Vorgaben werden nicht hinterfragt (Nachahmung). Andere gehen die Sache im Modus der kritischen Reflexion an, decken bisherige Unzulänglichkeiten auf, um es dann besser zu machen (Korrektion). Der dritte Typus misstraut grundsätzlich allen vermeintlichen Gewissheiten und empfiehlt, genau das Gegenteil des Vorgegebenen zu tun (Abwanderung).
Zum anderen sind politische Entscheidungen offenbar immer in Erzählungen eingebettet, seien es christliche Narrative in der Ethikberatung, wie Andreas Lob-Hüdepohl zeigt, oder narrativ vermittelte Zukunftsvorstellungen, mit denen sich Jens Beckert und Richard Bronk befassen. Folgt man Albrecht Koschorke, ist das Erzählen eine unabdingbare heuristische Praktik, die politischen Entscheidungen vorausgeht, der dann der gewählten Option den Boden bereitet, sie bekräftigt und im Nachhinein legitimiert. Dabei werden alle rhetorischen Register gezogen. Politisches Entscheiden, so fasst Karl-Rudolf Korte zusammen, kennzeichne letztlich immer eine Mischung aus Reflexion und Intuition. Und so rational eine Entscheidung auch sein mag: In der Demokratie brauchen die Entscheider in der Regel eine Mehrheit, und sie müssen die Durchsetzbarkeit von vornherein mitbedenken. Korte zieht dabei als einziger Selbstzeugnisse von Spitzenpolitikern heran, die ihre Entscheidungsfindung zu erklären suchen.
Und das ist ja eigentlich die Kernfrage, will man politischen Heuristiken auf die Spur kommen: Wie gelangen individuelle Akteure in der Politik letztlich zu ihrer Entscheidung? Bei hohem Abstraktionsniveau vermisst man in vielen Beiträgen die realen handelnden Individuen. Der schwierigen Frage, ob die heuristischen Abkürzungen letztlich auch in der Politik zu zufriedenstellenden Ergebnissen führen, gehen die meisten Autoren aus dem Weg. In Sachen Corona-Pandemie sind sie sich zumindest fundamental uneinig. Für Gert Scobel zeigte sich hier das Versagen der bürokratietypischen Nachahmungsheuristik, die nicht in der Lage war, sich systemisch flexibel an die neuartige Situation anzupassen. Für Korte hingegen bewährten sich verschiedene Mechanismen der Krisenheuristik: die kontinuierliche Antizipation von Veränderungen, offene Lernprozesse, reversible Entscheidungen und der Versuch, trotz aller Unsicherheit evidenzbasiert zu handeln. ARIANE LEENDERTZ
Karl-Rudolf Korte / Gert Scobel / Taylan Yildiz (Hrsg.): Heuristiken des politischen Entscheidens.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
404 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Strategien für politisches Handeln in Krisensituationen
Folgt man den Beiträgen dieses Sammelbands, sind die politischen Entscheidungsträger in unserem Land wahrlich nicht zu beneiden. Tagtäglich gilt es, unter erheblichem Zeitdruck einen Überblick über hochkomplexe Situationen zu gewinnen, Informationen zu beschaffen, zu bewerten und Entscheidungen mit immenser gesellschaftlicher Tragweite zu fällen. Als besondere Herausforderung präsentiert sich die verzwickte Komplexität vieler Probleme, die einerseits - wie im Fall der Klimakrise - schon seit Langem bekannt und analytisch durchdrungen sind und die andererseits - wie die Finanzkrise und die Corona-Pandemie - in kurzen Abständen aufpoppen und rasches Handeln verlangen.
Bei den langfristigen Problemlagen haben es die politischen Entscheidungsträger zumeist mit einem Informationsüberfluss zu tun, aus dem sie die relevanten Erkenntnisse für konkrete Lösungsansätze herausfiltern müssen. Hier ist es möglich, sich Zeit für die demokratische Deliberation und Mehrheitsfindung zu nehmen - oder sich in politischer Prokrastination vor der Festlegung auf eine Entscheidung zu drücken. Die in schneller Folge auftretenden Krisen zeichnen sich hingegen durch eine begrenzte und sich rapide verändernde Informationslage aus. Hier müssen unter den Bedingungen unsicheren Wissens Entscheidungen her, ohne dass zuvor ein längerer Abwägungsprozess hätte stattfinden können.
Wie kann es unter diesen Bedingungen überhaupt möglich sein, "gute" und "richtige" Entscheidungen zu treffen? Die Komplexitäts- und Krisendiagnosen, die den Band dominieren, sind eher ernüchternd. Trotzdem besteht Hoffnung: Die politischen und bürokratischen Spitzenakteure verfügen über verschiedene heuristische Strategien, die es ihnen ermöglichen, auch unter Zeitdruck rational kontrollierte Entscheidungen zu treffen.
Die Herausgeber greifen damit Befunde der Verhaltensökonomie und der psychologischen Kognitionsforschung auf. Wie Gerd Gigerenzer und andere gezeigt haben, bedienen sich Menschen in Situationen von Ungewissheit und kognitiver Überforderung aus einer Art adaptivem Werkzeugkasten, arbeiten selektiv mit vereinfachenden Faustregeln, Schätzungen, Nachahmung und Erfahrungswerten - und erzielen damit zufriedenstellende Lösungen. Im Feld der Vorhersagen beispielsweise erreichen Modelle, die auf derartigen einfachen Heuristiken basieren, in vielen Anwendungsfeldern mindestens genauso gute Ergebnisse wie mit riesigen Datenmengen gefütterte Algorithmen.
Karl-Rudolf Korte, Gert Scobel und Taylan Yildiz wollen wissen, welche heuristischen Hilfsmittel beim politischen Entscheiden zum Tragen kommen. Das explorative verbinden sie mit einem normativen Programm: Zugleich gelte es zu klären, wie "in Zeiten der Krise und Transformation" gute politische Entscheidungen getroffen werden können. Politik muss, da sind sich alle einig, in der Lage sein, "rational" Probleme zu lösen, allzeit bestmöglich informiert sein, im Zweifelsfall "klug" und "weise" entscheiden und dabei transparent und demokratisch verfahren. Das sind einigermaßen hohe Erwartungen. Aus den Beiträgen, die sich teils analytisch, teils eher frei assoziierend mit dem Titelthema auseinandersetzen, lässt sich herausfiltern, dass Heuristiken letztlich in allen politischen Entscheidungsprozessen und Krisensituationen zum Einsatz kommen.
Politische Heuristiken können demnach zum einen bestimmte "Biases" sein, die die Vielfalt der möglichen Entscheidungen bereits im Vorhinein reduzieren. Taylan Yildiz identifiziert drei Grundtypen: Akteure orientieren sich an den etablierten Verfahren und vorhandenem Funktionswissen, folgen der Routine, die bekannten Vorgaben werden nicht hinterfragt (Nachahmung). Andere gehen die Sache im Modus der kritischen Reflexion an, decken bisherige Unzulänglichkeiten auf, um es dann besser zu machen (Korrektion). Der dritte Typus misstraut grundsätzlich allen vermeintlichen Gewissheiten und empfiehlt, genau das Gegenteil des Vorgegebenen zu tun (Abwanderung).
Zum anderen sind politische Entscheidungen offenbar immer in Erzählungen eingebettet, seien es christliche Narrative in der Ethikberatung, wie Andreas Lob-Hüdepohl zeigt, oder narrativ vermittelte Zukunftsvorstellungen, mit denen sich Jens Beckert und Richard Bronk befassen. Folgt man Albrecht Koschorke, ist das Erzählen eine unabdingbare heuristische Praktik, die politischen Entscheidungen vorausgeht, der dann der gewählten Option den Boden bereitet, sie bekräftigt und im Nachhinein legitimiert. Dabei werden alle rhetorischen Register gezogen. Politisches Entscheiden, so fasst Karl-Rudolf Korte zusammen, kennzeichne letztlich immer eine Mischung aus Reflexion und Intuition. Und so rational eine Entscheidung auch sein mag: In der Demokratie brauchen die Entscheider in der Regel eine Mehrheit, und sie müssen die Durchsetzbarkeit von vornherein mitbedenken. Korte zieht dabei als einziger Selbstzeugnisse von Spitzenpolitikern heran, die ihre Entscheidungsfindung zu erklären suchen.
Und das ist ja eigentlich die Kernfrage, will man politischen Heuristiken auf die Spur kommen: Wie gelangen individuelle Akteure in der Politik letztlich zu ihrer Entscheidung? Bei hohem Abstraktionsniveau vermisst man in vielen Beiträgen die realen handelnden Individuen. Der schwierigen Frage, ob die heuristischen Abkürzungen letztlich auch in der Politik zu zufriedenstellenden Ergebnissen führen, gehen die meisten Autoren aus dem Weg. In Sachen Corona-Pandemie sind sie sich zumindest fundamental uneinig. Für Gert Scobel zeigte sich hier das Versagen der bürokratietypischen Nachahmungsheuristik, die nicht in der Lage war, sich systemisch flexibel an die neuartige Situation anzupassen. Für Korte hingegen bewährten sich verschiedene Mechanismen der Krisenheuristik: die kontinuierliche Antizipation von Veränderungen, offene Lernprozesse, reversible Entscheidungen und der Versuch, trotz aller Unsicherheit evidenzbasiert zu handeln. ARIANE LEENDERTZ
Karl-Rudolf Korte / Gert Scobel / Taylan Yildiz (Hrsg.): Heuristiken des politischen Entscheidens.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
404 S., 24,- Euro.
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»Alle Beiträge verhandeln ein so komplexes wie theoretisch wenig erforschtes Problem: wie man gute Entscheidungen für möglichst viele Menschen trifft.« Jutta Person Philosophie Magazin 20220624