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Produktdetails
  • Verlag: Zürich : Ammann
  • ISBN-13: 9783250104261
  • ISBN-10: 3250104264
  • Artikelnr.: 09543113
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2001

Das Kind der Eisheiligen
Texte einer Ausstellung: Manfred Peter Heins Gedichte

Wer eine Reise in die Provinzen der internationalen Lyrik der Moderne unternehmen will, stößt bald auf Texte von Manfred Peter Hein. Mit eigenen Gedichten und mit Übersetzungen aus dem Finnischen und Lettischen ist er im "Atlas der neuen Poesie", der lyrischen Weltkarte von Joachim Sartorius, verzeichnet, und als Übersetzer von Gedichten des finnischen Lyrikers Paavo Haavikko hat er zu Harald Hartungs Anthologie "Luftfracht" beigetragen. Als Lyriker und als Übersetzer hat sich Manfred Peter Hein unübersehbar in die Geschichte der modernen Weltpoesie eingeschrieben.

Seit fast vierzig Jahren lebt er in Finnland, und seither ist er auch als Vermittler der finnischen Literatur, insbesondere der Lyrik, tätig. Ohne ihn wüßten wir kaum etwas über Pentii Saarikoski, Veijo Meri, Pentii Haanpää und Antii Hyry, deren Bücher er ins Deutsche übersetzt hat. Seine erste Sammlung moderner finnischer Lyrik erschien bereits 1962, weitere folgten. Aber seine Vermittlertätigkeit beschränkt sich nicht auf die Übersetzungsarbeit und nicht auf Finnland. Sechs Jahre lang gab er das Jahrbuch "Trajekt" heraus, das "Beiträge zur finnischen, finnlandschwedischen, lappischen, estnischen und litauischen Literatur" enthielt. Darüber hinaus hat Manfred Peter Hein seit den siebziger Jahren aus dem Tschechischen übersetzt und Gedichte etwa von Frantisek Halas in Deutschland bekannt gemacht.

Vor einem Jahrzehnt erschien die Anthologie "Auf der Karte Europas ein Fleck. Gedichte der osteuropäischen Avantgarde 1910 bis 1930", mit der Hein die längst fällige Ost-Erweiterung des europäischen Moderne-Selbstverständnisses einleitete. Diese Anthologie enthält Originaltexte und deren Übersetzungen aus vierzehn Sprachen Mittel- und Osteuropas. Vor allem mit dieser Anthologie hat Hein die in Deutschland versäumte Moderne nach- und heimgeholt. Daß er mit seinen eigenen Poesien in diesen Kanon hineingehört, bestätigt sein soeben erschienener Gedichtband "Hier ist gegangen wer" aufs neue. Dazu qualifiziert ihn vor allem das von Hein konsequent weiterentwickelte Verfahren des synchronen Sprechens: Geschichte und Gegenwart, Ferne und Nähe, Naturbeobachtung und politische Reflexion, Bild-, Begriffs- und Alltagssprache werden auf engstem Raum ohne Interpunktion miteinander kombiniert - das Gegensätzlichste will nicht voneinander getrennt, sondern als miteinander unlösbar verbunden verstanden werden - eine nicht immer leichte Aufgabe für Leser.

Für seine eigenen Gedichte erhielt Hein 1984 den damals neugeschaffenen Peter-Huchel-Lyrik-Preis. Die Auszeichnung galt dem 1983 in zweiter, erweiterter Auflage erschienenen Band "Gegenzeichnung", einer Sammlung der seit 1962 im Anschluß an seine frühen Gedichtbände "Ohne Geleit" und "Taggefälle" entstandenen Gedichte. Mit Huchel verbindet Hein in der Tat manches: die umfassende Kenntnis der europäischen Moderne, die Außenseiterposition, vor allem aber die unaufdringliche Codierung der Naturlyrik. In Heins eigenen Texten geistern Huchel-Allusionen herum: auf die geschichtsträchtigen "Chausseen" beispielsweise und auf den Ölbaum im Garten ("Frachtbrief"). Auch Beziehungen zu Celan, Bobrowski und Mandelstam lassen sich in seinen Texten entdecken.

Man hat sich an die stille, aber nachdrückliche Stimme dieses Dichters aus dem Nordosten Europas gewöhnt, ohne weiter nach den Gründen für seine Abwesenheit oder gar Abwendung von Deutschland zu fragen. Sein ferner Wohnort wurde als bemerkenswerte Eigentümlichkeit notiert, gewissermaßen als Markenzeichen, das als solches keines weiteren Kommentars bedurfte. In seiner autobiographischen Erzählung "Fluchtfährte" hat er vor zwei Jahren selbst diese Gründe offengelegt: 1931 im ostpreußischen Darkehmen als Sohn eines überzeugt nationalsozialistischen Vaters geboren und selbst in einer "Napola" ("Nationalpolitische Erziehungsanstalt") erzogen, gelang Hein erst während seiner Studienzeit allmählich die Loslösung vom dominanten Vater und dessen Ideologie.

"Fluchtfährte" ist auch ein "Vaterbuch", ähnlich rigoros wie Christoph Meckels "Suchbild". Aber der jugendliche Hein ist sehr viel stärker und länger als der junge Meckel geprägt von dem allgegenwärtigen Vater und seinen faschistischen Grundsätzen, die bis weit in die Nachkriegszeit fortwirken. Schon der Vierjährige trägt die HJ-Uniform, und noch der Gymnasiast in Bad Wildungen trägt (um 1950) seinen Mitschülern schwitzend den novellistischen "Ostlandritt" vor, wobei immer noch der Osten, "wie ihn der Vater sieht", gemeint ist. Das Aufregende und wirklich Brisante der Entscheidung Heins für Finnland wird erst vor diesem Hintergrund sichtbar: "Ich bin in Finnland gelandet, weil es der Osten war", hat er in einem Interview geäußert. Der Flucht aus dem Osten folgte die Flucht in den Osten, ins "Asyl": eine Kehrtwendung exakt in die Richtung, die von der nationalsozialistischen Ostland-Ideologie präokkupiert war und die dementsprechend belastet ist mit dem ganzen Gewicht entsprechender Befürchtungen.

Das Lebenswerk Manfred Peter Heins, soweit es bis heute überschaubar ist, besteht darin, die Geschichte des Ostens vom Osten her völlig neu geschrieben zu haben, unbekümmert um jede politische Korrektheit und weit entfernt von jedem reaktionären Revisionismus. Es gibt neben ihm, sieht man von Günter Grass und Johannes Bobrowski ab, wohl keinen deutschen Autor, der mit so großem Nachdruck und aus so großer existentieller Nähe den eigenen Blick und den Blick seiner Leser nach Osten gerichtet hat.

Der doppelte Fluchtweg, den diese autobiographische Erzählung in dichter Sprache eher beschwört als beschreibt, kann in zwei Editionen nachgelesen werden: Der Ausgabe im Ammann-Verlag (1999) ist eine empfehlenswerte faksimilierte Typoskript-Edition (Regensburg 1998) mit einem ausgezeichneten Kommentar von Andreas F. Kelletat vorangegangen, der auch manches zur Dechiffrierung der Gedichte Heins beiträgt.

Jedenfalls erschließen sich nach der Lektüre der "Fluchtfährte" viele der älteren und jüngeren Gedichte Manfred Peter Heins neu, und es wird deutlich erkennbar, welchen Stellenwert die Entscheidung für Finnland im Werk Heins einnimmt. Sie ist allenfalls vergleichbar mit Alfred Anderschs Desertionstrauma oder mit den Renegaten-Erfahrungen zahlreicher Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Wiederholte Positionsbestimmungen, Beschreibungen der Kälte und Kommunikationslosigkeit, Reflexionen auf die unheilvolle deutsche und europäische Geschichte sind den Gedichten abzulesen. Sie sind oft mit dem dürftigen Etikett der "Hermetik" versehen worden, das freilich zutrifft, wenn damit die Verfahrensweise der Verschlüsselung gemeint ist. In der Tat sind Heins Gedichte in aller Regel "verschlossen" und nicht ohne weiteres lesbar; der Leser ist angewiesen auf Entschlüsselungssignale. Mit beliebigen Assoziationen ist den Gedichten nicht beizukommen.

Zum Kennenlernen empfehlen sich die "Ausgewählten Gedichte 1956-1986". An sie schließen die Gedichtbände "Über die dunkle Fläche" (1993) und "Hier ist gegangen wer" (2001) an, letzterer ist versehen mit einem einfallsreichen und nützlichen Nachwort von Andreas F. Kelletat. Es präsentiert und erläutert die Texte als "Gedichte einer (fiktiven) Ausstellung", zu deren Besuch der Leser eindringlich eingeladen wird. Beim Rundgang begegnet man Künstler- und Naturgedichten, geschichtlichen Themen, kritischen Beobachtungen und selbstkritischen Reflexionen. Viel Trauer findet man in diesen Versen, die häufiger Fragen stellen als Antworten geben: "Was hab ich / getan daß ich lebe?" "Was ist geblieben?" "Wohin mit uns?" "Wo komm ich hin?" In Frage steht auch die Poesie selbst. Was kann sie erreichen, und wen kann sie erreichen? Auffallend oft ist von den Buchstaben und Worten, von Sprache und Schrift, von Zeilen und Versen die Rede, von der Poesie also. So auch in dem Gedicht "Himmelsbleiche": "Ich zähle auf nichts / der drei Eisheiligen Kind / Mai einunddreißig / und dahin das Jahrtausend / mein Zeuge Baumbruder Baum / Diese Silben noch Verse / Hoffnung ins Blaue / Vor schwärzestem Schwarz des Lichts."

Ein illusions-, aber doch nicht trostloses Resümee zu Beginn des neuen Jahrtausends. Manfred Peter Hein bezieht sich dabei ("der Eisheiligen Kind / Mai einunddreißig") auf seinen eigenen Geburtstag: Heute vor siebzig Jahren wurde er geboren. Höchste Zeit, ihm zu sagen: Wir zählen auf ihn.

WULF SEGEBRECHT.

Manfred Peter Hein: "Hier ist gegangen wer". Gedichte 1993-2000. Mit einem Nachwort von Andreas F. Kelletat. Ammann Verlag, Zürich 2001. 112 S., geb., 34,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wulf Segebrecht bietet in seiner Rezension auch einen Überblick über Heins Lebenswerk und Biografie, um dem Leser einige wichtige Hintergrundinformationen zu diesem Gedichtband an die Hand zu geben. So spielt nach Segebrecht Heins Liebe zu den skandinavischen und baltischen Staaten - bedingt durch Heins Erziehung als Sohn eines glühenden Nationalsozialisten - eine besondere Rolle in seinem Werk, wie der Leser erfährt. Der Blick Heins "nach Osten" ist nach Ansicht des Rezensent von einer Intensität, die sonst in der deutschen Literatur nur von Günter Grass und Johannes Bobrowski bekannt ist. "Wiederholte Positionsbestimmungen, Beschreibung der Kälte und Kommunikationslosigkeit, Reflexionen auf die unheilvolle deutsche und europäische Geschichte" werden, so der Rezensent, hier spürbar. Doch erfordern die Gedichte nach Segebrecht vom Leser auch gehörige Anstrengung und sind nicht leicht zu "entschlüsseln". Antworten geben die Gedichte nach Einschätzung des Rezensenten nicht, es werden lediglich Fragen aufgeworfen. Stilistisch lobt Segebrecht vor allem die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen, etwa von "Geschichte und Gegenwart, Ferne und Nähe, Naturbeobachtung und politischer Reflexion", was Hein hervorragend in einer Art "synchronen Sprechens" miteinander verbinde.

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