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Ein Kunsthistoriker in Gerlamoos
Es ist ein beruhigendes Gefühl, wenn einem bald alles egal sein kann. Doch bevor es soweit ist, macht der Wirt von Gerlamoos, einem Weiler in Oberkärnten, einen Kunsthistoriker aus Wien mit all seinem Wissen und seiner Sicht der Dinge des Lebens vertraut.

Produktbeschreibung
Ein Kunsthistoriker in Gerlamoos

Es ist ein beruhigendes Gefühl, wenn einem bald alles egal sein kann. Doch bevor es soweit ist, macht der Wirt von Gerlamoos, einem Weiler in Oberkärnten, einen Kunsthistoriker aus Wien mit all seinem Wissen und seiner Sicht der Dinge des Lebens vertraut.
Autorenporträt
Alois Brandstetter, am 5. Dezember 1938 in Pichl in Oberösterreich geboren, ist Germanist und Historiker und lehrt heute als Professor für Deutsche Philologie an der Universität Klagenfurt. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Kulturpreis des Landes Oberösterreich 1980, Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig 1984, Kulturpreis des Landes Kärnten 1991, Heinrich-Gleißner-Preis (1994), Ehrenbürger von Pichl/Österreich (1998), Adalbert-Stifter-Preis und Großer Kulturpreis des Landes Oberösterreich (2005).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.1995

Wenn die Mure kommt
Hier spricht der Wirt: Alois Brandstetters Gastronomensuada

Gerlamoos ist ein Kaff in Kärnten, das innerhalb der österreichischen Landesgrenzen aus zwei Gründen Weltruhm erlangt hat. Zum einen ging dort am 20. Juli 1993 eine Mure ab, was auf hochdeutsch bedeutet, daß der Ort durch einen Erdrutsch verwüstet wurde. Zweitens liegt im Fichtenwald oberhalb von Gerlamoos "ein unscheinbares Kirchlein, das doch das Ziel vieler Kunstfreunde ist". Das Gotteshaus birgt nämlich einen Freskenzyklus des Thomas von Villach, eines spätgotischen Meisters, der an der Schwelle zur Renaissance lebte. Seine Bilder begeistern laut Knaurs Kunstführer "durch die Zeichnung, die Beherrschung der Raumdarstellung wie auch vor allem durch die Nuancierung der Farben. Leider ist das Gold oxydiert, man muß sich goldschimmernde Heiligenscheine vorstellen."

Neben diesen beiden Hauptgründen gibt es noch einen Nebengrund, warum tout le monde Gerlamoos im Oberen Drautal kennt. Dieser Nebengrund heißt Alois Brandstetter. In seinem neuen Buch, das vom Residenz Verlag fälschlich als Roman bezeichnet wird, verschafft Brandstetter in Gerlamoos einem Wirt literarisches Heimatrecht, einem sehr redseligen Wirt, der selbstherrlich über den Schlüssel zu der erwähnten Kirche verfügt. Als ihn nun eines Tages ein Wiener Kunsthistoriker besucht, rückt der Wirt nicht etwa den Schlüssel heraus, sondern näher an den Gast heran und überfällt ihn mit einem stundenlangen Vortrag. Im Klappentext heißt es, die Rede des Wirtes breche "über den ahnungslosen Gast-Hörer ähnlich elementar herein wie die Mure", der legendäre Erdrutsch, der Gerlamoos unter sich begrub. In der Tat wäre es grundfalsch zu behaupten, der Wirt rede wie ein Wasserfall; nein, zähflüssig ist seine Suada, zähflüssig und chaotisch, und gelegentlich bleibt man beim Lesen knietief im Schlamm stecken.

Alois Brandstetter hat mit dem Wirt von Gerlamoos ein formidables Monster geschaffen. Zwar neigt man auf den ersten Blick dazu, ihn lediglich als kauzig zu charakterisieren. Aber wie eine Rasierklinge sich unter dem Elektronenmikroskop als wüste Gebirgslandschaft erweist und wie ein Floh sich bei tausendfacher Vergrößerung zu einem grauenerregenden Ungeheuer aufbläht - so nimmt auch die Kauzigkeit dieses Wirtes mit der Zeit schreckliche Ausmaße an. Brandstetter schnalzt den Kronkorken von der Bierflasche, und schon wabert der Geist aller Stammtische durch das Buch: ein kulturkritischer Dschinn, der sich über die Unfälle auf der Drautalbundesstraße sowie das Waldsterben echauffiert und die Einwohner von Mauthausen bedauert, weil sie durch den Namen ihres Ortes "wirklich abgestempelt" seien.

Ein Ressentimentbündel ist also dieser Wirt von Gerlamoos, ein Wutpaket, das durch eine auffällig bigotte Variante der Volksfrömmigkeit zusammengeschnürt wird. So unterhält er sich regelmäßig mit dem toten Thomas von Villach und jammert ihm etwas über die Sittenverderbnis der modernen Zeiten vor. Mit alpenländischer Gemächlichkeit und in Kärntner Mundart buchstabiert er sich durch das vertraute zivilisationskritische Alphabet: von A wie amerikanischer Schnellfraß (abzulehnen, weil er uns der einheimischen Küche entwöhnt) bis Z wie Zeitgeist (ebenfalls abzulehnen, denn die amerikanische "Musicalkultur" ist nicht mit Schnadahüpfeln zu vereinbaren).

Die Suada des Wirtes kulminiert in der Mahnung, "Österreich und Kärnten und alle anderen Bundesländer" müßten sich "auf ihre Tradition und die Tradition überhaupt besinnen, wenn sie nicht im allgemeinen Amerikanismus der sogenannten europäischen Einigung untergehen wollen, diesem Einheitsbrei, diesem Eintopf aus der großen amerikanischen Regimentskanone". Der Wirt redet sich dermaßen in Rage, daß er bald klingt wie Alain de Benoist persönlich: "Ich bin", sagt er, "ein großer Freund fremder Völker und Kulturen, aber für mich beginnt die ,Interkulturalität' halt bei der eigenen Kultur, der jeweils eigenen Kultur der Völker."

Etwa in der Mitte des Buches beginnt der Leser, sich bang zu fragen, ob Alois Brandstetter das alles womöglich ernst meint. Das wäre aber gar nicht lustig. Keine kabarettistische Glanzleistung wäre zu feiern; ein kulturkritisches Geraunze wäre zu beklagen. Nicht über eine Kreation des Autors - über den Autor selbst müßte man sich dann wundern. Doch könnte man Alois Brandstetter im Ernst zutrauen, daß er ein so witzloses Buch geschrieben hat?

Der Titel seines Werks ist übrigens: "Hier kocht der Wirt". Ins Hochdeutsche übersetzt, heißt das ungefähr: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Also genießen wir die traditionellen Kärntner Speisen: Ritschert, Scheadlan, Plateln, Flecknwazan - und vergessen wir nicht die berühmten Suppen dieser Gegend, die so sauer sind, daß sie nie und nimmer schlecht werden: Villacher Kirchtagssuppe, Gegendtaler Gelbe Suppe, Unterdrautaler Silvestersuppe. Augen zu und durch; genießen wir, während der Wirt munter weiterredet, und verscheuchen wir mannhaft die Vision einer Schinkensemmel. HANNES STEIN

Alois Brandstetter: "Hier kocht der Wirt". Roman. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1995. 245 S., geb., 39,- DM.

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