Die politische Philosophie und die Psychoanalyse teilen ein Problem, das sowohl für das Leben der Menschen als auch für die Gesellschaft eine Gefährdung darstellt: die dumpfe Unzufriedenheit, diese Bitterkeit, die unter die Haut gehen kann - das Ressentiment. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury begibt sich in ihrem gefeierten Buch auf die Suche nach den Ursprüngen und dem innersten Wesen des Ressentiments. Was können wir tun, um in unseren Demokratien dessen bedrohliche Impulse einzudämmen? Wie können wir Ressentiments heilen? Eine faszinierende Untersuchung an der Schnittstelle von Philosophie, Psychoanalyse und Politik.
»Fleury hat ein hochkomplexes Buch geschrieben, verschwenderisch ausgestattet mit Zitaten, Anspielungen und Assoziationen, es ist eine Achterbahnfahrt durch die Geschichte der Moderne. Und es trifft mitten hinein in das drängendste Problem unserer Zeit: die wachsende Macht des sozialen Ressentiments.« Nils Minkmar Süddeutsche Zeitung 20230710
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Jens Balzer empfiehlt wärmstens das Buch der Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury. Nicht etwa, weil es vom Ressentiment zu heilen vermag, wie im Untertitel versprochen, sondern weil die Autorin sehr klug und infomiert über die Bitterkeit in der Gesellschaft und die politischen Folgen schreibt, wie Balzer feststellt. Wie Fleury das Ressentiment von allen Seiten betrachtet, mit der psychoanalytischen, der philosophischen und der soziologischen Brille, findet Balzer nicht unbedingt einfach, aber inspirierend. Macht Balzer große Lust, die behandelten Texte von Freud, Nietzsche, Fanon und Deleuze (neu) zu lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2023Genuss und Halt finden im Hass
Mehr Differenzierung hätte nicht geschadet: Cynthia Fleury analysiert den Menschen des Ressentiments
Nicht selten werden populistische Bewegungen, ob von links oder rechts, als ressentimentgeladen beschrieben. Die viel zitierten Unterscheidungen zwischen denen "da unten" und denen "da oben", zwischen dem einfachen Volk und den korrupten Eliten, den ländlichen Peripherien und den urbanen Zentren - all diese Unterscheidungen sind getragen und strukturiert, so heißt es dann, von dem starken Ressentiment, das die Schwachen, die Abgehängten und die wenig Mobilen gegenüber den Starken, den wirtschaftlich Erfolgreichen und den Beweglichen hegen. Wie plausibel diese Annahme ist, bleibt allerdings meist unklar, da Ressentiment nicht gerade ein Gefühl ist, das sich leicht erforschen lässt, auch als Bezeichnung für eigene psychische Befindlichkeiten wird der Begriff eher selten verwendet.
Die französische Psychoanalytikerin und Philosophin Cynthia Fleury hat nun dem Ressentiment eine Studie mit dem schönen Titel "Hier liegt Bitterkeit begraben" gewidmet, die den vielfältigen Facetten des Phänomens auf den Grund gehen will. Eine handliche Definition des Ressentiments findet sich dabei nicht, das Buch nähert sich dem Thema auf verschiedenen Wegen, die zentralen Stichworte finden sich bei Nietzsche, Freud und Max Scheler.
Der Mensch des Ressentiments fühlt sich in seinen Ansprüchen, seinen Rechten oder seinen Gleichheitsforderungen verletzt, er durchlebt diese Verletzung immer wieder, frisst sich hinein in sie, kaut wieder und wieder an ihr herum, verbittert zunehmend, will Wiedergutmachung, die zugleich als unmöglich betrachtet wird, weil das Geschehene letztlich nicht wiedergutzumachen ist. Fleury spricht vom in das Ressentiment "verliebten Subjekt", und das ist vielleicht die entscheidende Wendung ihrer Deutung. Weil die Realität ihm unerträglich ist, flieht der Mensch des Ressentiments in seinen Hass auf alles und jeden, genießt diesen Hass förmlich und verzichtet so auf jeden Versuch, an seiner misslichen Lage etwas zu ändern.
So ist der Mensch des Ressentiments handlungsunfähig wie Hamlet, er ist das ewige Opfer, die anderen sind die ewig Schuldigen. "Sich für das Ressentiment zu entscheiden", so Fleury in existenzialistischer Manier, "besteht genau darin, sich für die Nicht-Tat zu entscheiden, im Imaginären und nicht im Realen ein Kompensationssystem zu installieren."
Genau an diesem Punkt bricht sich dann auch die Hoffnung, Fleurys Ansatz könne Hilfestellungen für die politischen Polarisierungen der Gegenwart liefern. Schon die Betonung der Nichttat lässt die Frage entstehen, ob ihre Deutung des Ressentiments populistische Bewegungen entschlüsseln kann. Was immer der Populismus ist und wie immer man ihn einschätzt, eine Bewegung der Nichttat ist er nicht. Im Gegenteil, er tut, er agitiert, er hasst, er manipuliert, er lügt, er vereinfacht - kommt er an die Macht, zögert er nicht und tut alles, um Gegenkräfte dauerhaft zum Schweigen zu bringen.
So spielen politische Aspekte bei Fleury nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn im zweiten Kapitel des Buchs der Faschismus als eine "politische Übersetzung" des Ressentiments vorgestellt wird. Das ist sicherlich ein überzeugender Vorschlag, denn wie sollte man den Faschismus nicht als Wunsch verstehen, den vermeintlichen Feind, das unentwegt imaginierte Andere, tatsächlich (und nicht nur imaginär) zu zerstören? Dass dieser Destruktionstrieb, der das vermeintlich Eigene von allen fremden Stoffen reinigen will, zu Handlungen führt, leugnet auch Fleury nicht, aber sie rettet ihre Deutung, indem sie aus dem typischen Faschisten einen Menschen macht, der nur in der Masse reagiert und keinerlei Verantwortung für sich selbst und sein Tun übernimmt. Er handelt und handelt nicht, er delegiert gleichsam die Handlung an die große Masse und natürlich an die Persönlichkeit des Führers, der den generalisierten Hass in sich bündelt.
Die Schwierigkeit der politischen Lektüre ergibt sich vielleicht auch aus der Tatsache, dass Fleury die Quellen des Ressentiments nicht selten im Vagen lässt. Wen genau ergreift das Ressentiment? Wer fügt die Verletzungen zu? Auch hier spielt das Buch gelegentlich mit politischen Erklärungen, etwa mit der These Tocquevilles, wonach in zunehmend an Gleichheit orientierten Gesellschaften kleinste Unterschiede kränkend wirken können. Doch so plausibel Fleury dieser Gedanke erscheint, am Ende spricht sie vom Ressentiment als "strukturell" im Menschen angelegt, es kann offenbar jeden jederzeit treffen, und sei es nur, weil wir einmal die Geborgenheit der elterlichen Fürsorge verlassen und uns trennen müssen, wovon wir uns nicht trennen wollen.
Man hätte sich hier an manchen Punkten mehr Kraft zur Differenzierung gewünscht. Wenn nämlich Ressentiment zur psychologischen Grundeinstellung wird, zur Urpsychose des Menschen, die einzig therapeutisch gebrochen werden kann, dann müssen die vielfältigen sozialen, politischen oder, ja, psychologischen Quellen des Ressentiments zwangsläufig schwammig werden.
So überrascht es nicht, dass Fleury im dritten Kapitel, das die möglichen Auswege aus dem Ressentiment thematisiert, Frantz Fanon in den Mittelpunkt stellt. Zwar hätte man vermuten können, dass mit Fanon ein Kronzeuge postkolonialen Widerstands zu Wort kommt, also ein Autor, der Auskunft über die politischen und kulturellen Quellen der Entstehung von Ressentiment geben kann. Aber selbst wenn sie diesen Aspekt des Werks von Fanon erwähnt, gilt das eigentliche Interesse von Fleury dem Psychiater Fanon, der in seiner therapeutischen Praxis und Theorie den "farbigen Menschen von sich selbst" befreien will. Man muss die pathologische Bindung an den vermeintlichen Feind überwinden, dessen Hass das eigene Selbst tief affiziert. Man muss sich ins Offene stellen, den "Weg der Individuation" wagen, sich der Masse entfremden und "einfach ein Mensch" werden.
Hier wird ein Universalismus als Humanismus eingefordert, der Theorien des Postkolonialen verdächtig sein dürfte. Und tatsächlich: Wie soll es möglich sein, sich von einem Selbst zu trennen, das ganz und gar durchdrungen ist von Blicken und Praktiken der Verachtung? Fleurys Ausweg ist individualistisch, er ist therapiezentriert, und er sieht die kreative und sublimierende Kraft der Kunst als weitere Quelle der Befreiung vom Ressentiment. Ja, im Einzelfall mag es gelingen, in hartnäckiger therapeutischer Analyse das Ressentiment zu brechen. Wie aber das kollektive Ressentiment besiegt werden soll, das Fleury durchaus eindrücklich beschreibt, wird damit nicht beantwortet. Am Ende brauchten wir wohl für jede Pathologie eine Therapie. MARTIN HARTMANN
Cynthia Fleury: "Hier liegt Bitterkeit begraben". Über Ressentiments und ihre Heilung.
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 316 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mehr Differenzierung hätte nicht geschadet: Cynthia Fleury analysiert den Menschen des Ressentiments
Nicht selten werden populistische Bewegungen, ob von links oder rechts, als ressentimentgeladen beschrieben. Die viel zitierten Unterscheidungen zwischen denen "da unten" und denen "da oben", zwischen dem einfachen Volk und den korrupten Eliten, den ländlichen Peripherien und den urbanen Zentren - all diese Unterscheidungen sind getragen und strukturiert, so heißt es dann, von dem starken Ressentiment, das die Schwachen, die Abgehängten und die wenig Mobilen gegenüber den Starken, den wirtschaftlich Erfolgreichen und den Beweglichen hegen. Wie plausibel diese Annahme ist, bleibt allerdings meist unklar, da Ressentiment nicht gerade ein Gefühl ist, das sich leicht erforschen lässt, auch als Bezeichnung für eigene psychische Befindlichkeiten wird der Begriff eher selten verwendet.
Die französische Psychoanalytikerin und Philosophin Cynthia Fleury hat nun dem Ressentiment eine Studie mit dem schönen Titel "Hier liegt Bitterkeit begraben" gewidmet, die den vielfältigen Facetten des Phänomens auf den Grund gehen will. Eine handliche Definition des Ressentiments findet sich dabei nicht, das Buch nähert sich dem Thema auf verschiedenen Wegen, die zentralen Stichworte finden sich bei Nietzsche, Freud und Max Scheler.
Der Mensch des Ressentiments fühlt sich in seinen Ansprüchen, seinen Rechten oder seinen Gleichheitsforderungen verletzt, er durchlebt diese Verletzung immer wieder, frisst sich hinein in sie, kaut wieder und wieder an ihr herum, verbittert zunehmend, will Wiedergutmachung, die zugleich als unmöglich betrachtet wird, weil das Geschehene letztlich nicht wiedergutzumachen ist. Fleury spricht vom in das Ressentiment "verliebten Subjekt", und das ist vielleicht die entscheidende Wendung ihrer Deutung. Weil die Realität ihm unerträglich ist, flieht der Mensch des Ressentiments in seinen Hass auf alles und jeden, genießt diesen Hass förmlich und verzichtet so auf jeden Versuch, an seiner misslichen Lage etwas zu ändern.
So ist der Mensch des Ressentiments handlungsunfähig wie Hamlet, er ist das ewige Opfer, die anderen sind die ewig Schuldigen. "Sich für das Ressentiment zu entscheiden", so Fleury in existenzialistischer Manier, "besteht genau darin, sich für die Nicht-Tat zu entscheiden, im Imaginären und nicht im Realen ein Kompensationssystem zu installieren."
Genau an diesem Punkt bricht sich dann auch die Hoffnung, Fleurys Ansatz könne Hilfestellungen für die politischen Polarisierungen der Gegenwart liefern. Schon die Betonung der Nichttat lässt die Frage entstehen, ob ihre Deutung des Ressentiments populistische Bewegungen entschlüsseln kann. Was immer der Populismus ist und wie immer man ihn einschätzt, eine Bewegung der Nichttat ist er nicht. Im Gegenteil, er tut, er agitiert, er hasst, er manipuliert, er lügt, er vereinfacht - kommt er an die Macht, zögert er nicht und tut alles, um Gegenkräfte dauerhaft zum Schweigen zu bringen.
So spielen politische Aspekte bei Fleury nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn im zweiten Kapitel des Buchs der Faschismus als eine "politische Übersetzung" des Ressentiments vorgestellt wird. Das ist sicherlich ein überzeugender Vorschlag, denn wie sollte man den Faschismus nicht als Wunsch verstehen, den vermeintlichen Feind, das unentwegt imaginierte Andere, tatsächlich (und nicht nur imaginär) zu zerstören? Dass dieser Destruktionstrieb, der das vermeintlich Eigene von allen fremden Stoffen reinigen will, zu Handlungen führt, leugnet auch Fleury nicht, aber sie rettet ihre Deutung, indem sie aus dem typischen Faschisten einen Menschen macht, der nur in der Masse reagiert und keinerlei Verantwortung für sich selbst und sein Tun übernimmt. Er handelt und handelt nicht, er delegiert gleichsam die Handlung an die große Masse und natürlich an die Persönlichkeit des Führers, der den generalisierten Hass in sich bündelt.
Die Schwierigkeit der politischen Lektüre ergibt sich vielleicht auch aus der Tatsache, dass Fleury die Quellen des Ressentiments nicht selten im Vagen lässt. Wen genau ergreift das Ressentiment? Wer fügt die Verletzungen zu? Auch hier spielt das Buch gelegentlich mit politischen Erklärungen, etwa mit der These Tocquevilles, wonach in zunehmend an Gleichheit orientierten Gesellschaften kleinste Unterschiede kränkend wirken können. Doch so plausibel Fleury dieser Gedanke erscheint, am Ende spricht sie vom Ressentiment als "strukturell" im Menschen angelegt, es kann offenbar jeden jederzeit treffen, und sei es nur, weil wir einmal die Geborgenheit der elterlichen Fürsorge verlassen und uns trennen müssen, wovon wir uns nicht trennen wollen.
Man hätte sich hier an manchen Punkten mehr Kraft zur Differenzierung gewünscht. Wenn nämlich Ressentiment zur psychologischen Grundeinstellung wird, zur Urpsychose des Menschen, die einzig therapeutisch gebrochen werden kann, dann müssen die vielfältigen sozialen, politischen oder, ja, psychologischen Quellen des Ressentiments zwangsläufig schwammig werden.
So überrascht es nicht, dass Fleury im dritten Kapitel, das die möglichen Auswege aus dem Ressentiment thematisiert, Frantz Fanon in den Mittelpunkt stellt. Zwar hätte man vermuten können, dass mit Fanon ein Kronzeuge postkolonialen Widerstands zu Wort kommt, also ein Autor, der Auskunft über die politischen und kulturellen Quellen der Entstehung von Ressentiment geben kann. Aber selbst wenn sie diesen Aspekt des Werks von Fanon erwähnt, gilt das eigentliche Interesse von Fleury dem Psychiater Fanon, der in seiner therapeutischen Praxis und Theorie den "farbigen Menschen von sich selbst" befreien will. Man muss die pathologische Bindung an den vermeintlichen Feind überwinden, dessen Hass das eigene Selbst tief affiziert. Man muss sich ins Offene stellen, den "Weg der Individuation" wagen, sich der Masse entfremden und "einfach ein Mensch" werden.
Hier wird ein Universalismus als Humanismus eingefordert, der Theorien des Postkolonialen verdächtig sein dürfte. Und tatsächlich: Wie soll es möglich sein, sich von einem Selbst zu trennen, das ganz und gar durchdrungen ist von Blicken und Praktiken der Verachtung? Fleurys Ausweg ist individualistisch, er ist therapiezentriert, und er sieht die kreative und sublimierende Kraft der Kunst als weitere Quelle der Befreiung vom Ressentiment. Ja, im Einzelfall mag es gelingen, in hartnäckiger therapeutischer Analyse das Ressentiment zu brechen. Wie aber das kollektive Ressentiment besiegt werden soll, das Fleury durchaus eindrücklich beschreibt, wird damit nicht beantwortet. Am Ende brauchten wir wohl für jede Pathologie eine Therapie. MARTIN HARTMANN
Cynthia Fleury: "Hier liegt Bitterkeit begraben". Über Ressentiments und ihre Heilung.
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 316 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main