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Longlist - nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019
»Dikranian. Abovyan. Petrosian. Mazavian. Mein Nachname war plötzlich in phonetischer Gesellschaft. Bisher hatte ich ihn getragen wie ein unpassendes Kleidungsstück, wie einen verbeulten Hut, den ich auch zum Essen nicht abnahm.«
1915: Die alte Bibel einer armenischen Familie an der Schwarzmeerküste ist das Einzige, was den Geschwistern Anahid und Hrant auf ihrer Flucht bleibt. Hundert Jahre später in Jerewan wird der Restauratorin Helen eine Bibel anvertraut. »Hrant will nicht aufwachen«, hat jemand an den Rand einer Seite…mehr

Produktbeschreibung
Longlist - nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019

»Dikranian. Abovyan. Petrosian. Mazavian. Mein Nachname war plötzlich in phonetischer Gesellschaft. Bisher hatte ich ihn getragen wie ein unpassendes Kleidungsstück, wie einen verbeulten Hut, den ich auch zum Essen nicht abnahm.«

1915: Die alte Bibel einer armenischen Familie an der Schwarzmeerküste ist das Einzige, was den Geschwistern Anahid und Hrant auf ihrer Flucht bleibt. Hundert Jahre später in Jerewan wird der Restauratorin Helen eine Bibel anvertraut. »Hrant will nicht aufwachen«, hat jemand an den Rand einer Seite gekritzelt. Helen taucht ein in die Rätsel des alten Buches, in das moderne Armenien und in eine Geschichte vom Exil, vom Verlorengehen und vom Schmerz, der Generationen später noch nachhallt. Und sie bricht auf zu einer Reise an die Schwarzmeerküste und zur anderen Seite des Ararat.
Autorenporträt
Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt 'In einer Nacht, woanders' folgte 'Vielleicht Marseille' und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht 'Hinter Sibirien'. Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für 'Hier sind Löwen' erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2021 wurde sie mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. Mit 'Zukunftsmusik' stand Katerina Poladjan auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 und wurde mit dem Rheingau Literatur Preis 2022 ausgezeichnet.Literaturpreise: - Trophée Littéraire des Nouvelles d'Arménie 2023 (für die französischsprachige Ausgabe von 'Hier sind Löwen')- Rheingau Literatur Preis 2022- Chamisso-Preis Dresden 2022- Nelly-Sachs-Preis 2021- Alfred-Döblin-Stipendium 2019- Stipendium Deutscher Literaturfonds 2016/2017- Residenzstipendium Kulturakademie Tarabya Istanbul 2016- Stipendium der Stiftung Preussische Seehandlung 2016- Shortlist für den European Union Prize for Literature 2016- Nominierung für den Alfred-Döblin-Preis 2015- Literaturpreis 'Der kleine Hai' der Buchhandlung Wist, Potsdam 2015- Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015- Senatsstipendium der Stadt Berlin 2015- Alfred-Döblin-Stipendium 2014- Grenzgänger Stipendium der Robert Bosch Stiftung 2014- Stipendium der Neuen Gesellschaft für Literatur 2003
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Helen wird im Zentralarchiv Jerewans bei einem Gastaufenthalt eine 300 Jahre alte Familienbibel zur Restauration zugeteilt. Bevor sie sich an die armenische Bindung wagen darf, entziffert sie Randnotizen; die Bruchstücke einer unbekannten Familiengeschichte lassen sie nicht los. Gleichzeitig trägt Helen ein Foto eigener armenischer Vorfahren bei sich. Unsicher, ob sie mehr erfahren will, beginnt Helen spät mit der Suche nach Verwandten, die sie auf die andere Seite des Berges Ararat führt und mit den Geschehnissen ab 1915, als Armenier verfolgt wurden, in Berührung bringt. Außerdem übt der Sohn ihrer Chefin ungewollte Faszination auf Helen aus; Telefonate mit ihrem Freund in Deutschland aber sind kurz. Mal durch Distanzierung, mal durch Annäherung lotet Helen ihr Verhältnis zu Menschen, die sie umgeben, und der Geschichte, die jeder mit sich trägt, neu aus. Die gut recherchierte Erzählung wechselt immer wieder mit der Geschichte hinter den Randnotizen der Familienbibel. Buchbindung und Restauration als Bewahrung sind treffende Metaphern für die Erzählung über den (eigenen) Umgang mit (Familien-)Geschichte. Elegant verflechtet hier nicht nur die Protagonistin Buchabschnitte neu, sondern auch die Autorin verschiedene Haltungen zu Geschichte und deren Aufarbeitung.

© BÜCHERmagazin, Melanie Schippling

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2019

Und, sollte ich jetzt gerührt sein?

Das Geschichte einer Herkunft: Katerina Poladjans neuer Roman "Hier sind Löwen" führt eine Buchrestauratorin nach Armenien und vor Fragen ihrer familiären Gegenwart und Vergangenheit.

Kinder verstehen einfach noch nicht, dass wir Menschen nicht nur in der Natur leben, sondern auch in der Geschichte: So tröstet sich Kevork, vor mehr als hundert Jahren Wirt eines Restaurants in Ordu, nachdem er auf seine Mahnung hin, dem Leben und Gott die Treue zu halten, in verständnislose Kinderaugen geblickt hat. Der Leser von Katerina Poladjans neuem Roman "Hier sind Löwen" ahnt allenfalls, gerade ein paar Dutzend Seiten tief im Buch, welchen Hallraum die Autorin mit diesem Satz noch zum Klingen bringen wird.

Und was ahnt der armenische Wirt selbst, der am liebsten das ganze Osmanische Reich auf seiner Terrasse am Schwarzen Meer in der heutigen Türkei versammelt sieht? Kurz darauf brennt es in der Stadt, Fensterscheiben werden eingeworfen, Gendarmen kommen in die Häuser der Armenier und holen die Männer ab, auch Kevork und seinen Ältesten, später die beiden Kleinen, nur Hrant und Anahid bleiben übrig, fliehen schließlich, weil die Aufforderung dazu - "lauft endlich, lauft!" - das Letzte ist, was ihre Mutter schreien kann.

Alles, was die beiden Kinder, sechs und vierzehn Jahre alt, auf ihrer Flucht dabeihaben, die eher ein Umherirren ist, ein Stolpern, ist die jahrhundertealte handgeschriebene Bibel der Familie. Abermals gut hundert Jahre später schlägt die Buchrestauratorin Helene Mazavian sie in Jerewan, fünfhundert Kilometer weiter östlich, wieder auf. Ein Austauschprogramm hat die Deutsche mit dem hier so vertraut klingenden Nachnamen in die armenische Hauptstadt geführt, in der Absicht, den Umgang mit der speziellen Buchbindetechnik des Landes zu lernen - und mit einem Foto im Gepäck, das ihr die Mutter vor der Abreise noch zugesteckt hatte. Dreizehn Personen mit ernsten Gesichtern sind darauf zu sehen, auf der Rückseite ein Ort und eine Jahreszahl notiert, Artaschat 1957. "Es sind Mitglieder der Familie, wer noch lebt, weiß ich nicht. Fahr hin, sprich mit ihnen."

Es ist Helene, die Katerina Poladjan in ihrem dritten Roman erzählen lässt, und natürlich lebt auch sie in der Geschichte - in ihrer eigenen, durch wenige Schlaglichter auf die Kindheit und kurze Telefonate mit dem Freund zu Hause erhellt, immer stärker in der Geschichte ihrer bislang unbekannten Familie, in der eines ihr bislang fremden Landes und in der Geschichte der beiden Kinder, auf deren Notizen sie in der Bibel stößt, die ihr als Übungsstück anvertraut wurde. "Anahid Anahid Anahid" ist auf eine Seite gekritzelt, auf eine andere ein Gebet: "Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass er aufwacht."

Noch bevor Poladjan in lose eingestreuten Kapiteln von den fliehenden Kindern zu erzählen beginnt, deutet sie mit einem Assoziationssprung in eine antike Anekdote an, dass ihre Helene durchaus phantasiebegabt ist. Entspringt auch die Geschichte von Anahid und Hrant letztlich ihrer Vorstellungskraft? Oder kann sie all das auf einer Reise erfahren haben, die sie schließlich von Jerewan in die Türkei, nach Ordu, führt und von dort aus weiter in den Osten, nach Kars, an die türkisch-armenische Grenze?

Als sie sich dort nach stundenlanger Fahrt zwischen Geröll und kargem Gestrüpp wiederfindet, einen leichten, hellen Knochen in der Hand, ein menschliches Schlüsselbein vielleicht, weiß sie nicht einmal mehr eine Antwort auf die Frage ihres heimischen Führers, ob es sich ihrer Ansicht nach wohl um armenische, türkische oder kurdische Knochen handele. Aber "Hier sind Löwen" ist auch kein Buch der Erkenntnis, sondern ein Buch der Suche und des Eingeständnisses, was alles ungewusst, unbedacht, unerkannt ist. "Hic sunt leones" stand in alten Karten über dem ungezeichnet, ansonsten unbeschriftet gelassenen unerkundeten Gebiet. Ob sie auf der Suche nach den weißen Flecken auf ihrer eigenen Landkarte sei, fragt ein Freund. Auch das weiß sie nicht.

Ihr armenischer Geliebter trägt ebenfalls den Löwen im Namen. Als sie nach der ersten Nacht mit Levon morgens vom Klingeln seines Telefons geweckt wird und eine helle Stimme hört, fragt sie nach der Mutter dieses Kindes. "Man will Liebe und macht alles falsch", ist seine Antwort. Ein andermal fragt sie ihren Danil zu Hause am Telefon: "Was macht der Oleander auf dem Balkon?" Er sei vertrocknet. "Gut."

Ihre Beziehungen - in Deutschland wie in Armenien - führt Helene mit einer schönen Mischung aus Lakonie und Leidenschaft. Es bleibt ausreichend Platz zwischen den Zeilen und ausreichend Gelegenheit, die Bewegtheit der Erzählerin unter ihrer Sprödigkeit zu sehen, ohne dass sie dem Leser aufgedrängt würde. "Es gibt Abertausende Schichten, und ich kratze an der Oberfläche herum, schabe Schmutz, löse Verklebungen", erzählt sie Danil einmal, und ob sie damit ihre Arbeit an der alten Handschrift meint oder ihr eigenes Verhältnis zum Land ihrer Vorfahren mütterlicherseits mit seinem nationalen Trauma, dem Völkermord am Ende des Osmanischen Reiches, kann sie ruhig offenlassen.

Die Sorgfalt, mit der die Bilder dieses Romans gezeichnet sind und eingesetzt werden, zeigt sich am Beispiel des alten Buchs ganz gut: In mühevoller Kleinarbeit dringt Helene vor, das Handwerk mit Messer, Nadel und Faden wird ergänzt um nahezu alchemistische Verfahren der Farbgewinnung oder der Reinigung von Illustrationen. Soll die Restauratorin die Ausrisse ersetzen oder lediglich die Risskanten sichern? Denkt man sich Antworten auf die schmerzlichen Fragen der Geschichte besser aus, oder erträgt man eher, dass es manchmal keine erlösende Antwort geben kann?

In Katerina Poladjans eigenem Leben, so erzählt ein Radio-Feature, das Andreas Kebelmann 2015 auf einer Reise mit der Schriftstellerin nach Armenien gemacht hat, war es der Vater Michail, ein Künstler, der ihr ein Foto mit dreizehn Personen darauf in die Hand gedrückt hat. Dessen Assemblagen, in denen der Völkermord eine große Rolle spielt, hängen auch in der Nationalgalerie in Jerewan. Ob der Ortsname auf der Rückseite des Fotos Artaschat oder Aschtarak heißt, lässt sich nicht sagen. Die eine Stadt liegt nördlich, die andere südlich von Jerewan. Mit dieser Verwechslung arbeitet Poladjan auch im Roman: Helene sitzt schon bei Mazavians auf dem Sofa, isst Pralinen und wird von einem Mann gleichen Alters gefragt, ob der jetzt gerührt sein müsste. "Nicht unbedingt", ist ihre Antwort, "jedenfalls nicht sofort." Als auffällt, dass Helene im falschen Städtchen gesucht hat, gibt es das Angebot, einfach wiederzukommen, falls sich in Artaschat niemand finden lässt.

"In Armenien macht man sich mehr Sorgen um die Vergangenheit als um die Zukunft", kriegt Helene einmal zu hören. Ein andermal: "In Armenien nimmt man Fragen der Verwandtschaft sehr ernst." Aber einmal auch, der Punkt, an dem sich diese beiden Mentalitätsaspekte aneinander wundreiben: "Wo immer du Armenier triffst, hier oder irgendwo in der Diaspora - alle werfen sich gegenseitig vor, keine richtigen Armenier zu sein."

Es ist die syrische Armenierin Ano, die das sagt. Sie wird als unlängst Geflüchtete in Jerewan beargwöhnt. Als erinnerte - das bleibt im Roman angenehm unausgeführt - die Grausamkeit, aus der sie sich gerade erst gerettet hat, nicht an das erlittene Leid des Volkes hundert Jahre zuvor und gemahnte so zu besonderem Mitgefühl. Auch die Figuren des Romans hat Katerina Poladjan mit Bedacht gewählt. Dass sie nicht nur in der Geschichte ihre Rolle spielen, sondern auch ein Set an Perspektiven, Fragen, Haltungen komplettieren, sieht der Leser erst auf den zweiten Blick.

FRIDTJOF KÜCHEMANN

Katerina Poladjan:

"Hier sind Löwen".

Roman. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 288 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Jürgen Deppe kann Katerina Poladjans Fleißarbeit nicht als guten Roman bezeichnen. Eine Buchrestauratorin in Erewan, umgeben von den Untoten der Geschichte und den Emotionen heutiger Armenier, auf der Suche nach der Geschichte eines Geschwisterpaars, dessen Familie dem türkischen Völkermord an den Armeniern zum Opfer fiel, und nach den eigenen Wurzeln, dazu eine Liebesgeschichte - für Deppe ein bisschen viel. Schlimmer wiegt für den Rezensenten allerdings die Unfähigkeit der Autorin, das alles anders als didaktisch und durchschaubar aufzubereiten. Ein lehrreiches Buch, aber so mechanisch wie Buchbindetechnik, findet Deppe.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2019

Die Bibel und das blank geputzte Gewehr
In Katerina Poladjans Roman „Hier sind Löwen“ reist eine empfindsame Buchrestauratorin nach Armenien
Dieses Buch, das es auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2019 geschafft hat, beginnt so: „Ich schalte das Deckenlicht ein. Auf mehreren Tischen liegen Papierstapel und Pergamentrollen ausgebreitet. Ich rieche Erde, Ei und Pilz, Holzstaub und altes Tier.“ Noch ist nichts geschehen, noch weiß keiner, worum es gehen wird, da ist schon eine Erwartung geschaffen. In der Folge wird man es nicht nur mit einem empfindsamen, sondern auch mit einem schreibwütigen Menschen zu tun haben. Da beobachtet jemand sich selbst, mit dem Vorsatz, nicht nur wahrzunehmen, sondern sich bei der Wahrnehmung auch zu beobachten, nicht nur zu empfinden, sondern diese Empfindungen auch festzuhalten, in schriftlicher Form.
Ein verbreitetes Missverständnis besagt, aus der Verbindung von Empfindsamkeit, Selbstbeobachtung und Schriftlichkeit gehe Literatur hervor. Das ist zwar ein Irrtum, aber so lässt es sich weiterschreiben, über viele Seiten hinweg, bis sich, weil alles ein Ende haben und das Ende rund sein muss, der Anfang wiederholt: „Ich schaltete das Deckenlicht ein und setzte mich an meinen Arbeitsplatz. Ich roch Erde, Ei und Pilz.“ Weil aber eine Rezension kein Roman ist, sei festgehalten, dass solche Anfänge und Schlüsse in literarischer Hinsicht nichts Gutes verheißen.
Das Buch „Hier sind Löwen“, in dem gleich zu Beginn das Deckenlicht eingeschaltet wird, im Präsens, und das mit dem Einschalten des Deckenlichts endet, im Präteritum, ist der dritte Roman der Berliner Schauspielerin und Schriftstellerin Katerina Poladjan. Sein Titel ist eine Referenz, nicht nur auf römische und mittelalterliche Karten, in denen die unbekannten Teile der Welt mit diesem Satz bezeichnet wurden, sondern auch auf Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ aus dem Jahr 1980. Als William von Baskerville, der Held dieses Buches, endlich den geheimen Teil der Klosterbücherei erreicht, wird er vom Bibliothekar darauf hingewiesen, sich jetzt in einer Art Jenseits zu befinden: „Hic sunt leones.“ Von einer solchen Gegend handelt dieses Buch, wobei das Jenseits, in das Katerina Poladjan ihre Heldin, eine Ich-Erzählerin namens Helene reisen lässt, nicht nur geografisch, sondern auch spirituell und psychologisch bestimmt ist.
Denn die Berliner Buchrestauratorin soll, ausgestattet mit einem deutschen Stipendium, in Armenien besondere Techniken der Erhaltung und Wiederherstellung historischer Werke erlernen. Wie es sich für einen empfindsamen Roman empfiehlt, ist dieses Armenien zugleich die Heimat der Ahnen, so dass die Löwen nicht nur eine ferne Gegend, sondern auch die Tiefen des eigenen Ichs bewohnen.
Es gibt Berufe, die sich für empfindsame Romane besonders zu eignen scheinen: Floristinnen gehen eine solchen Arbeit nach, weil man es dabei vermeintlich nur mit Gebilden von zarter, überaus vergänglicher Schönheit zu tun hat. Geigenbauerinnen gehen einer solchen Arbeit nach, weil sie mit kleinsten Werkzeugen an kostbaren Tönen feilen. Kein Beruf allerdings verfügt über ein so großes Potential zur Empfindsamkeit wie die Buchrestauratorin, zumal wenn sie an einer alten Familienbibel arbeitet: Wie viele Wunden, wieviel Geschichte werden da repariert, wieviel an imaginärer Wiedergutmachung erfährt die Vergangenheit, wenn die Spuren von Vernachlässigung und Gewalt getilgt werden, und um wieviel bedeutsamer noch wird diese Tätigkeit, wenn sie in Armenien und an einer armenischen Bibel ausgeübt wird, im Innersten einer frühen, aber märchenhaft entlegenen christlichen Kultur, die vom Glauben an die Heilige Schrift zusammengehalten wird, über Jahrhunderte von Unterdrückung und Verfolgung hinweg. Ein Glück scheint es angesichts von so viel Schicksal zu sein, wenn Helene, die Restauratorin, zwar Russisch und Türkisch spricht, aber kein Armenisch: So kann sie angeblich das Heilige an dieser Schrift gleichsam unverstellt, als reine Spiritualität, erfahren.
Wenn die Glut des frommen Empfindens dennoch nicht auf den Leser überspringen will, liegt das nicht daran, dass sich Spiritualität nicht in Worte fassen ließe. Es liegt daran, dass Katerina Poladjan über zu viele Wörter verfügt und vor allem: über die falschen. „Ich betrachtete Vater und Tochter wie ein Gemälde“, „ich schaute aus dem Fenster und zählte die übriggebliebenen Blätter an den kahlen Ästen“, „ich musste an eine Bluse mit Puffärmeln denken, die ich als Kind besessen und nie gemocht hatte“. Es gibt viele solcher Sätze in diesem Buch, und sie alle erzählen davon, wie sich ein empfindsamer Mensch vor alle Gegenstände und Ereignisse schiebt, von denen es etwas zu erzählen gäbe. So entsteht ein Totalitarismus des Gefühls, an dem sich alles bricht, das Politische, das Historische und das Religiöse.
In diesem Buch stehen Sätze wie: „Alle Armenier sind traurig. Immer.“ Und keiner widerspricht. Es gibt Dialoge wie diesen: „,Was gibt es Schöneres und Wichtigeres als Bücher?‘ – ,Ein blankgeputztes Gewehr.‘“ Gewiss, so etwas kann in einem Roman stehen, als harter Stoff, als ein Satz, an dem sich andere Sätze stoßen und der zu einem Gedanken führt. In diesem Buch aber dienen solche Sätze als leere Pathosformeln, die von einem unablässig vor sich hin blubbernden Gefühlsgenerator ausgestoßen werden.
Eingewoben in die Erzählung von der Rückkehr der Berliner Buchrestauratorin in das Land ihrer Ahnen ist eine Hänsel-und-Gretel-Geschichte, die sich während des Ersten Weltkriegs zuträgt, in der unmittelbaren Folge des von osmanischen Soldaten verübten Massenmords an den Armeniern. Ein Geschwisterpaar, ein Mädchen von vierzehn und ein Junge von sechs Jahren, überlebt das Massaker und zieht durch das Land, irgendwie dem Meer entgegen. Als einzige Erinnerung an die Familie wie an das heimatliche Dorf tragen die Kinder eine Bibel mit sich.
Katerina Poladjan hüllt den Zusammenhang in ein wenig poetischen Nebel, vielleicht, weil sie bemerkt, dass er, offen ausgesprochen, von in Schmalz gemeißelter Subtilität wäre. Aber verraten muss sie es doch: Selbstverständlich sind die Kinder mit eben der Bibel unterwegs, die Helene in Jerewan restauriert, und selbstverständlich muss Helene die Geschichte dieser Kinder rekonstruieren, so wie sie die eigene Familiengeschichte wiederherstellen muss. Selig müssen die Zeiten gewesen sein, als man noch wusste, was Kitsch ist.
Katerina Poladjans Roman „Hier sind Löwen“ erinnert in mehrfacher Hinsicht an Fatih Akins missratenen Film „The Cut“ aus dem Jahr 2014, in dem sie selbst eine Nebenrolle spielte. So völlig befreit von Geschichte und Politik der Regisseur in diesem Werk vom Schicksal der Armenier im frühen zwanzigsten Jahrhundert erzählte, so erbarmungslos verwandelt Katerina Poladjan dieses Land im Kaukasus, irgendwo zwischen Europa und Asien gelegen, in einen Ort der wahren Gefühle.
Und so unverwandt groß- und braunäugig der Held jenes Films durch die Landschaften des Schreckens zieht, ohne dass er dadurch auf irgendeine Weise verändert würde, so einfühlsam und letztlich charakterlos wandert Helene durch das winterliche Jerewan und richtet eine alte Bibel her, die ein Buch des wahren Lebens sein soll, aber eigentlich nur die Projektionsfläche eines hemmungslos humanen deutschen Exotismus ist, mit Erde, Ei und Pilz.
THOMAS STEINFELD
„Alle Armenier sind traurig.
Immer.“ Und es ist niemand
da, der widerspricht
Dieser Roman verwandelt das
Land im Kaukasus in einen
Ort der wahren Gefühle
Katerina Poladjan.
Foto: Andreas Labes
Katerina Poladjan: Hier sind Löwen. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019.
288 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Stark in den Dialogen, prägnant in den Menschenskizzen. Katerina Poladjan beherrscht die Kunst der Auslassung. Und doch ist alles Atmosphäre in ihren Romanen. Meike Fessmann Der Tagesspiegel 20191005