Es sieht nicht alles schlimm aus in den achtziger Jahren. Aber vieles. Es ist das Jahrzehnt der explodierenden Dauerwellen und Pornoschnauzbärte, der aufgepumpten Schulterpolsterjacketts und schrillen Herumprotzerei; in den Achtzigern werden die Yuppies zu Vorreitern einer neuen Egoistenkultur. Doch gleichzeitig herrscht die Angst vor der Apokalypse, vor dem Atomtod und der Umweltzerstörung; die Menschen sehnen sich nach Utopien und Zukunft, nach neuer Gemeinschaft und Wärme. Helmut Kohl lässt die «geistig-moralische Wende» ausrufen, aber Hunderttausende demonstrieren auch für Frieden und Abrüstung, die Grünen etablieren sich als politische Kraft. Die Popkultur wird zum Schauplatz der feministischen und schwulen Emanzipation, mit dem Hip-Hop erhalten Minderheiten eine Stimme, die bis dahin fast unsichtbar waren. Eine ganze Generation lernt am Commodore 64 das Programmieren und begibt sich auf den Weg in die digitale Gesellschaft. Am Ende des Jahrzehnts fällt die Berliner Mauer, eine Umwälzung, die unsere Welt bis heute prägt. Jens Balzer bringt die Widersprüche der Achtziger zum Leuchten, ihre befremdlichen Moden und bizarren Lebensstile ebenso wie ihren Revolutionsdrang, in dem die Wurzeln unserer Gegenwart liegen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Claudia Mäder lässt sich von Jens Balzer kenntnisreich zurück in die 80er Jahre beamen. Anregend findet sie, wie der Kulturjournalist sein Panorama der Alltags- und Popkultur einer Epoche entwickelt. Einerseits wird für Mäder die angstvolle Atmosphäre von damals spürbar, die sich für Balzer in Filmen wie "The Day After" oder in Subkulturen wie Goth und Punk niederschlug, andererseits zieht der Autor in seiner Geschichte keinen allzu engen Rahmen und verweist auf längerfristige Tendenzen und Entwicklungen und die Vielzahl unterschiedlicher Strömungen, wie Mäder erfreut feststellt. Ein Kapitel über das angenehm fluide Phänomen der Schulterpolster macht Mäder besondere Freude, auch wenn der Autor die Herstellung von Gegenwartsbezügen weitgehend dem Leser überlässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.07.2021Und dann hörten wir die Smiths
Als die Aerobic-Welle anrollte: Jens Balzer unternimmt einen abwechslungsreichen Streifzug durch Politik, Gesellschaft und Kultur der achtziger Jahre.
Mit den Frisuren explodierten die Fantasien, ob sie nun vom nahen Weltuntergang oder von berauschter Disco-Ekstase handelten. Dass Ängste wie Hoffnungen in den achtziger Jahren irrational übersteigert waren, ist so wenig neu wie die Einordnung der Epoche als Interim, eingeklemmt zwischen den Kollektivismus-Utopien der Siebziger und dem egozentrischen Neoliberalismus der Neunziger. Dennoch ist beides überzeugend, zumal wenn man dafür so schlagende Beispiele findet wie Jens Balzer in seiner Biographie des "pulsierenden Jahrzehnts".
Wer in den Achtzigern aufgewachsen ist, dürfte sich freilich nicht nur an Neonklamotten oder das Kulturleben zwischen Underground und Mainstream erinnern, auch nicht nur an die Panik vorm Waldsterben oder das im Rückblick so erdrückend wirkende Gewicht der Historie (respektive ihres Endes, wie Francis Fukuyama meinte). Im Gedächtnis bleibt vor allem eine endlose Langeweile, die einem kein Commodore-Computer und kein Smiths-Album von den Schultern nahm: das Hineinfläzen in eine No-Future-Melancholie.
Für den eine ganze Generation prägenden Ennui, das mit großem Ernst praktizierte Gammeln (plus Kiffen), interessiert sich Balzer wenig. Auch die herrlich irrsinnigen Architekturverbrechen dieser Jahre kommen im Buch nicht vor. Das ist aber auch schon alles, was sich vermissen lässt, denn ansonsten ist dem Berliner Journalisten ein weit über die allfälligen Erinnerungen an Schulterpolster und Pornoschnauzer hinausgehendes Charakterporträt eines Zeitalters gelungen.
Vor allem an eine nachgeborene Generation gerichtet, werden sämtliche Codes in Mode, Popmusik, Film und Aktivismus entschlüsselt und markante Ausprägungen des Zeitgeists ("Schwarzwaldklinik", "Terminator", Modern Talking, Aerobic-Welle) mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen wie der von Helmut Kohl, Margaret Thatcher und Ronald Reagan angestrebten "geistig-moralischen Wende" zurück zu alten Werten oder dem entgegengesetzten Aufstieg der Grünen zusammengedacht.
Es erstaunt, wie viele der heute virulenten Themen in dieser Umbruchzeit vorgeprägt wurden, etwa die Digitalisierungsdebatte, die gleich mit den ersten Personal Computern anhob, oder die auf Michel Foucault und Judith Butler rekurrierende Trennung von "Wahrheit" und "Sexualität" im Gender-Diskurs. Der Sänger Prince gilt Balzer als Paradebeispiel einer Haltung, die die sexuelle Identität als Ergebnis eines schöpferischen Prozesses ansieht. Das war in den Achtzigern nicht weniger radikal als heute, wurde aber, diese Auffassung scheint durch, glamouröser und musikalisch genialer vertreten. Stark ist das Kapitel zur Überfremdungsangst durch "Multikulti", in dem der Autor mit Details aufwartet, die vergessen sein dürften: dass etwa der Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes, Hans-Jürgen Schilling, schon 1980 so klang wie später Thilo Sarrazin (aufgrund "hoher Fruchtbarkeit vieler Gastarbeiter" drohe eine "ethnische Spaltung") oder dass "Türküola" aus Köln, spezialisiert auf türkischsprachige Musik, zwar eines der umsatzstärksten Plattenlabels der Bundesrepublik war, aber vor dem Siegeszug des Raps kein einziger türkischer Star in Deutschland Berühmtheit erlangte.
Überhaupt wird das Buch immer dann am spannendsten, wenn es um den Pop in Musik, Film, Comics oder Games geht: Sei es eine Analyse der Wirkung Michael Jacksons oder des Energielevels von Patrick Cowleys Power-Disco-Musik, sei es eine Untersuchung, welchen Einfluss der Videorekorder auf die Gestaltung von Pornos und Horrorfilmen hatte, oder welche Bedeutung dem teuren Fairlight-Synthesizer für die Sampling-Kultur zukommt. Etwas konventioneller wirken da kulturanthropologische Überlegungen etwa zur Aids-Epidemie, mit der für den Autor bei allem Schmerz immerhin auch das Sprechen über Sex vereinfacht worden sei.
Es gelingt dem bildstark geschriebenen Buch, die sehr eigene Atmosphäre dieses eingeklemmten Jahrzehnts zu evozieren: Pogo-Punks, Gothics, Disco-Queers, systemtreue Popper mit Scheitelfrisur, frühe Yuppies und eine auf dem maoistischen wie dem antisemitischen Auge blinde Linke verausgaben sich noch einmal mit ganzer Hingabe, um uns zu beweisen, wie sehr es sich bei dieser Dekade trotz des endlosen Kohl-Regimes vor allem um eine der Jugendkultur handelte. Balzer nähert sich seinem Gegenstand unvoreingenommen, hier und da auch persönlich anekdotisch, aber doch mit dem moralischen Blick von heute, sodass er auch die "kulturelle Aneignung" durch Dreadlocks oder den stumpfen, sich zum Teil für linksanarchisch haltenden Rassismus in Filmen von Thomas Gottschalk oder Otto Waalkes ("Herr Bimbo") thematisiert.
Auch das sagt viel über die Achtziger aus, die ebenso weit vom Dritten Reich entfernt waren wie von unserer Gegenwart - und in denen doch schon "Schlussstriche" unter der "Schulddebatte" gefordert wurden. Etwas zu engagiert wirkt einzig Balzers Brandmarkung jener Szene in "Zurück in die Zukunft", in der Marty McFly Chuck Berry über Bande den von Berry erfundenen Rock 'n' Roll beibringt. Eine "rassistische Umdeutung der Popgeschichte"? Es regen sich Zweifel. Schließlich ist der Witz, dass McFly diesen Stil von Berry kannte und so ein alogischer Loop konstruiert wird: eine über Hautfarbenwechsel hinweggehende Herauslösung einer ganzen Epoche aus dem Geschichtsverlauf. Damit hätte man hier doch eher ein schönes Sinnbild gefunden für dieses letztlich auch nur in und auf sich selbst begründete Jahrzehnt, das glaubte, das letzte zu sein. Und sich deshalb so hemmungslos gehen ließ.
OLIVER JUNGEN.
Jens Balzer: "High Energy". Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 400 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als die Aerobic-Welle anrollte: Jens Balzer unternimmt einen abwechslungsreichen Streifzug durch Politik, Gesellschaft und Kultur der achtziger Jahre.
Mit den Frisuren explodierten die Fantasien, ob sie nun vom nahen Weltuntergang oder von berauschter Disco-Ekstase handelten. Dass Ängste wie Hoffnungen in den achtziger Jahren irrational übersteigert waren, ist so wenig neu wie die Einordnung der Epoche als Interim, eingeklemmt zwischen den Kollektivismus-Utopien der Siebziger und dem egozentrischen Neoliberalismus der Neunziger. Dennoch ist beides überzeugend, zumal wenn man dafür so schlagende Beispiele findet wie Jens Balzer in seiner Biographie des "pulsierenden Jahrzehnts".
Wer in den Achtzigern aufgewachsen ist, dürfte sich freilich nicht nur an Neonklamotten oder das Kulturleben zwischen Underground und Mainstream erinnern, auch nicht nur an die Panik vorm Waldsterben oder das im Rückblick so erdrückend wirkende Gewicht der Historie (respektive ihres Endes, wie Francis Fukuyama meinte). Im Gedächtnis bleibt vor allem eine endlose Langeweile, die einem kein Commodore-Computer und kein Smiths-Album von den Schultern nahm: das Hineinfläzen in eine No-Future-Melancholie.
Für den eine ganze Generation prägenden Ennui, das mit großem Ernst praktizierte Gammeln (plus Kiffen), interessiert sich Balzer wenig. Auch die herrlich irrsinnigen Architekturverbrechen dieser Jahre kommen im Buch nicht vor. Das ist aber auch schon alles, was sich vermissen lässt, denn ansonsten ist dem Berliner Journalisten ein weit über die allfälligen Erinnerungen an Schulterpolster und Pornoschnauzer hinausgehendes Charakterporträt eines Zeitalters gelungen.
Vor allem an eine nachgeborene Generation gerichtet, werden sämtliche Codes in Mode, Popmusik, Film und Aktivismus entschlüsselt und markante Ausprägungen des Zeitgeists ("Schwarzwaldklinik", "Terminator", Modern Talking, Aerobic-Welle) mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen wie der von Helmut Kohl, Margaret Thatcher und Ronald Reagan angestrebten "geistig-moralischen Wende" zurück zu alten Werten oder dem entgegengesetzten Aufstieg der Grünen zusammengedacht.
Es erstaunt, wie viele der heute virulenten Themen in dieser Umbruchzeit vorgeprägt wurden, etwa die Digitalisierungsdebatte, die gleich mit den ersten Personal Computern anhob, oder die auf Michel Foucault und Judith Butler rekurrierende Trennung von "Wahrheit" und "Sexualität" im Gender-Diskurs. Der Sänger Prince gilt Balzer als Paradebeispiel einer Haltung, die die sexuelle Identität als Ergebnis eines schöpferischen Prozesses ansieht. Das war in den Achtzigern nicht weniger radikal als heute, wurde aber, diese Auffassung scheint durch, glamouröser und musikalisch genialer vertreten. Stark ist das Kapitel zur Überfremdungsangst durch "Multikulti", in dem der Autor mit Details aufwartet, die vergessen sein dürften: dass etwa der Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes, Hans-Jürgen Schilling, schon 1980 so klang wie später Thilo Sarrazin (aufgrund "hoher Fruchtbarkeit vieler Gastarbeiter" drohe eine "ethnische Spaltung") oder dass "Türküola" aus Köln, spezialisiert auf türkischsprachige Musik, zwar eines der umsatzstärksten Plattenlabels der Bundesrepublik war, aber vor dem Siegeszug des Raps kein einziger türkischer Star in Deutschland Berühmtheit erlangte.
Überhaupt wird das Buch immer dann am spannendsten, wenn es um den Pop in Musik, Film, Comics oder Games geht: Sei es eine Analyse der Wirkung Michael Jacksons oder des Energielevels von Patrick Cowleys Power-Disco-Musik, sei es eine Untersuchung, welchen Einfluss der Videorekorder auf die Gestaltung von Pornos und Horrorfilmen hatte, oder welche Bedeutung dem teuren Fairlight-Synthesizer für die Sampling-Kultur zukommt. Etwas konventioneller wirken da kulturanthropologische Überlegungen etwa zur Aids-Epidemie, mit der für den Autor bei allem Schmerz immerhin auch das Sprechen über Sex vereinfacht worden sei.
Es gelingt dem bildstark geschriebenen Buch, die sehr eigene Atmosphäre dieses eingeklemmten Jahrzehnts zu evozieren: Pogo-Punks, Gothics, Disco-Queers, systemtreue Popper mit Scheitelfrisur, frühe Yuppies und eine auf dem maoistischen wie dem antisemitischen Auge blinde Linke verausgaben sich noch einmal mit ganzer Hingabe, um uns zu beweisen, wie sehr es sich bei dieser Dekade trotz des endlosen Kohl-Regimes vor allem um eine der Jugendkultur handelte. Balzer nähert sich seinem Gegenstand unvoreingenommen, hier und da auch persönlich anekdotisch, aber doch mit dem moralischen Blick von heute, sodass er auch die "kulturelle Aneignung" durch Dreadlocks oder den stumpfen, sich zum Teil für linksanarchisch haltenden Rassismus in Filmen von Thomas Gottschalk oder Otto Waalkes ("Herr Bimbo") thematisiert.
Auch das sagt viel über die Achtziger aus, die ebenso weit vom Dritten Reich entfernt waren wie von unserer Gegenwart - und in denen doch schon "Schlussstriche" unter der "Schulddebatte" gefordert wurden. Etwas zu engagiert wirkt einzig Balzers Brandmarkung jener Szene in "Zurück in die Zukunft", in der Marty McFly Chuck Berry über Bande den von Berry erfundenen Rock 'n' Roll beibringt. Eine "rassistische Umdeutung der Popgeschichte"? Es regen sich Zweifel. Schließlich ist der Witz, dass McFly diesen Stil von Berry kannte und so ein alogischer Loop konstruiert wird: eine über Hautfarbenwechsel hinweggehende Herauslösung einer ganzen Epoche aus dem Geschichtsverlauf. Damit hätte man hier doch eher ein schönes Sinnbild gefunden für dieses letztlich auch nur in und auf sich selbst begründete Jahrzehnt, das glaubte, das letzte zu sein. Und sich deshalb so hemmungslos gehen ließ.
OLIVER JUNGEN.
Jens Balzer: "High Energy". Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 400 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jens Balzer, einer der profiliertesten deutschen Popjournalisten, hat tatsächlich die Kulturgeschichte einer Dekade geschrieben. Juliane Liebert Süddeutsche Zeitung 20210701