Produktdetails
- Verlag: Canongate
- ISBN-13: 9781841950051
- Artikelnr.: 51360133
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.1999Berge helfen groß werden und Bücher verkaufen
8848 - das war bis vor kurzem eine magische Zahl. Jetzt hat die National Geographic Society in Washington dafür gesorgt, dass man umdenken muss. Der höchste Berg der Welt, der Mount Everest, ist nach neuesten Satelliten-Vermessungen zwei Meter höher. Also 8850. In den auch in diesem Jahr zahlreich erschienenen Büchern, die den Leser in schwindelnde Höhen führen, ist diese Zahl noch nicht zu finden. Seit Jon Krakauers Schilderung des Everest-Unglücks vor drei Jahren hat dieses Genre Hochkonjunktur. Bislang bodenständige Freunde kennen sich plötzlich im Karakorum aus, können alle Achttausender in Nepal und Tibet aufsagen.
Weil Krakauer offenbar für weniger Kenntnisreiche das Markenzeichen geworden ist, muss sein Name unter Umschlagtexte oder Vorworte. Auch wenn die Autoren diese Verkaufsförderung nicht nötig haben, die Verlage wollen anscheinend auf Nummer sicher gehen. Das ist so bei David Breashears und auch beim Autorenduo Conrad Anker/David Roberts, das in "Verschollen am Everest" der packenden Frage nachgeht, ob George Mallory und Andrew Irvine 1924 vor ihrem Tod schon den Everest-Gipfel erreicht hatten, 29 Jahre vor Edmund Hillary und Tensing Norgay. Conrad Anker war es, der am 1. Mai dieses Jahres Mallorys Leiche entdeckte und damit neue Rätsel aufwarf.
Der Amerikaner Breashears schreibt in "Bis zum Äußersten" über seine beiden Leidenschaften: Gipfelexpeditionen und Filmarbeit unter Extrembedingungen. "Everest - Gipfel ohne Gnade", der Imax-Film, ist Breashears bekannteste Arbeit. In seinem mitreißenden Buch berichtet er natürlich auch über die von Krakauer beschriebene Katastrophe. Breashears erlebte sie als Retter hautnah mit. Dass der Hilfseinsatz ihm in der Tragödie wichtiger war als das Filmprojekt, mag für Flachländler selbstverständlich sein, ist aber bemerkenswert. Denn: "Oberhalb von 8000 Metern ist nicht der Ort, wo man sich so etwas wie Moral leisten kann."
Diesen Satz hat der Südtiroler Hans Kammerlander in seinem schonungslosen Buch "Bergsüchtig" protokolliert. Im Mai 1996 erlebte Kammerlander an der Nordseite des Everest dramatische Augenblicke, während auf der Südseite die kommerziellen Expeditionen von Rob Hall und Scott Fischer scheiterten und die beiden Bergführer starben. Kammerlander ist der Einzige, der bislang vom Gipfel des Everest mit Ski abgefahren ist. Doch er ist kein verrückter Abenteurer. Jederzeit nachdenklich und selbstkritisch stellt er sein Berg-Leben dar. "Glück, immer wieder Glück. Doch wann ist das Potential an Glück ausgeschöpft? Wenn Können, Risikobereitschaft und Mut nicht mehr im Einklang stehen?", fragt sich Kammerlander, der am Manaslu zwei Freunde verlor, selbst aber dem Wetter-Inferno entkam.
Über die Lust an der Herausforderung, vielleicht sogar an der Angst, haben schon zahllose Bergsteiger berichtet. Aus welchen Gründen auch immer sie die Gefahr suchen, sie profitieren offenbar davon. Überwältigende Glücksgefühle seien nicht der einzige Lohn. Die Erfahrungen am Berg, in existenziell bedrohlichen Grenzbereichen, würden ihnen auch im Alltagsleben helfen. Und hätten sie sich nicht freiwillig diesen extremen Risiken ausgesetzt, sie wären andere Menschen geworden, behaupten alle. Die Berge hätten ihr Sein und ihr Bewusstsein verändert. Reinhard Karl, 1978 der erste Deutsche auf dem Mount Everest, schrieb schon vor knapp zwanzig Jahren in seinem Buch "Erlebnis Berg - Zeit zum Atmen": "Ich ahne, daß auch der Everest nur ein Vorgipfel ist, den wirklichen Gipfel werde ich nie erreichen." Leider ist dieses Buch mit herausragenden Fotos (derzeit) nur in Bibliotheken zu finden. Es kann sich neben den aktuellen Bänden gut sehen lassen. Das beweist auch der 1989 erstmals veröffentlichte und nun wieder aufgelegte Bericht von Joe Simpson über seinen Überlebenskampf in den Anden ("Sturz ins Leere"), der keinen Vergleich mit jüngsten Büchern zu scheuen braucht.
Reinhard Karl, 1982 am Cho Oyu in Nepal durch eine Eislawine ums Leben gekommen, schrieb kurz vor seinem Tod: "Beim Durchlesen meiner Zeilen wurde mir eigentlich erst klar, was für harte Zeiten ich am Berg auszuhalten hatte. Trotzdem bin ich bei meinem Umweg über die Berge viel weiter gekommen, als wenn ich den flachen Pfaden gefolgt wäre. Ich ahne, wie Leistungsbergsteigen auch nur eine Phase im Leben sein kann. Vielleicht die letzte Stufe vor dem Erwachsenwerden. Vielleicht ist es mit dem Kampf am Berg so wie mit dem Aufstieg. Weil es so anstrengend ist, nach oben zu kommen, bleibt es stark im Bewusstsein. Mit dem Glück ist es so wie mit dem Abstieg. Leicht und schnell ist man wieder unten, vergessen. Es ist egal, welchen Berg man besteigt, oben wird man immer weiter sehen. Was man da oben sucht, ich weiß es nicht."
JÖRG HAHN
Besprochene Bücher: Hans Kammerlander (mit Walther Lücker): "Bergsüchtig", 346 Seiten, 141 Abbildungen, Piper Verlag, München, 49,80 Mark; David Breashears: "Bis zum Äußersten", 352 Seiten, viele Abbildungen, Diana Verlag, München, 39,80 Mark; Conrad Anker/David Roberts: "Verschollen am Mount Everest", 280 Seiten, viele Abbildungen, Heyne Verlag, München, 36 Mark; Joe Simpson: "Sturz ins Leere", 270 Seiten mit Abbildungen, Heyne-Taschenbuch, 14,80 Mark.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
8848 - das war bis vor kurzem eine magische Zahl. Jetzt hat die National Geographic Society in Washington dafür gesorgt, dass man umdenken muss. Der höchste Berg der Welt, der Mount Everest, ist nach neuesten Satelliten-Vermessungen zwei Meter höher. Also 8850. In den auch in diesem Jahr zahlreich erschienenen Büchern, die den Leser in schwindelnde Höhen führen, ist diese Zahl noch nicht zu finden. Seit Jon Krakauers Schilderung des Everest-Unglücks vor drei Jahren hat dieses Genre Hochkonjunktur. Bislang bodenständige Freunde kennen sich plötzlich im Karakorum aus, können alle Achttausender in Nepal und Tibet aufsagen.
Weil Krakauer offenbar für weniger Kenntnisreiche das Markenzeichen geworden ist, muss sein Name unter Umschlagtexte oder Vorworte. Auch wenn die Autoren diese Verkaufsförderung nicht nötig haben, die Verlage wollen anscheinend auf Nummer sicher gehen. Das ist so bei David Breashears und auch beim Autorenduo Conrad Anker/David Roberts, das in "Verschollen am Everest" der packenden Frage nachgeht, ob George Mallory und Andrew Irvine 1924 vor ihrem Tod schon den Everest-Gipfel erreicht hatten, 29 Jahre vor Edmund Hillary und Tensing Norgay. Conrad Anker war es, der am 1. Mai dieses Jahres Mallorys Leiche entdeckte und damit neue Rätsel aufwarf.
Der Amerikaner Breashears schreibt in "Bis zum Äußersten" über seine beiden Leidenschaften: Gipfelexpeditionen und Filmarbeit unter Extrembedingungen. "Everest - Gipfel ohne Gnade", der Imax-Film, ist Breashears bekannteste Arbeit. In seinem mitreißenden Buch berichtet er natürlich auch über die von Krakauer beschriebene Katastrophe. Breashears erlebte sie als Retter hautnah mit. Dass der Hilfseinsatz ihm in der Tragödie wichtiger war als das Filmprojekt, mag für Flachländler selbstverständlich sein, ist aber bemerkenswert. Denn: "Oberhalb von 8000 Metern ist nicht der Ort, wo man sich so etwas wie Moral leisten kann."
Diesen Satz hat der Südtiroler Hans Kammerlander in seinem schonungslosen Buch "Bergsüchtig" protokolliert. Im Mai 1996 erlebte Kammerlander an der Nordseite des Everest dramatische Augenblicke, während auf der Südseite die kommerziellen Expeditionen von Rob Hall und Scott Fischer scheiterten und die beiden Bergführer starben. Kammerlander ist der Einzige, der bislang vom Gipfel des Everest mit Ski abgefahren ist. Doch er ist kein verrückter Abenteurer. Jederzeit nachdenklich und selbstkritisch stellt er sein Berg-Leben dar. "Glück, immer wieder Glück. Doch wann ist das Potential an Glück ausgeschöpft? Wenn Können, Risikobereitschaft und Mut nicht mehr im Einklang stehen?", fragt sich Kammerlander, der am Manaslu zwei Freunde verlor, selbst aber dem Wetter-Inferno entkam.
Über die Lust an der Herausforderung, vielleicht sogar an der Angst, haben schon zahllose Bergsteiger berichtet. Aus welchen Gründen auch immer sie die Gefahr suchen, sie profitieren offenbar davon. Überwältigende Glücksgefühle seien nicht der einzige Lohn. Die Erfahrungen am Berg, in existenziell bedrohlichen Grenzbereichen, würden ihnen auch im Alltagsleben helfen. Und hätten sie sich nicht freiwillig diesen extremen Risiken ausgesetzt, sie wären andere Menschen geworden, behaupten alle. Die Berge hätten ihr Sein und ihr Bewusstsein verändert. Reinhard Karl, 1978 der erste Deutsche auf dem Mount Everest, schrieb schon vor knapp zwanzig Jahren in seinem Buch "Erlebnis Berg - Zeit zum Atmen": "Ich ahne, daß auch der Everest nur ein Vorgipfel ist, den wirklichen Gipfel werde ich nie erreichen." Leider ist dieses Buch mit herausragenden Fotos (derzeit) nur in Bibliotheken zu finden. Es kann sich neben den aktuellen Bänden gut sehen lassen. Das beweist auch der 1989 erstmals veröffentlichte und nun wieder aufgelegte Bericht von Joe Simpson über seinen Überlebenskampf in den Anden ("Sturz ins Leere"), der keinen Vergleich mit jüngsten Büchern zu scheuen braucht.
Reinhard Karl, 1982 am Cho Oyu in Nepal durch eine Eislawine ums Leben gekommen, schrieb kurz vor seinem Tod: "Beim Durchlesen meiner Zeilen wurde mir eigentlich erst klar, was für harte Zeiten ich am Berg auszuhalten hatte. Trotzdem bin ich bei meinem Umweg über die Berge viel weiter gekommen, als wenn ich den flachen Pfaden gefolgt wäre. Ich ahne, wie Leistungsbergsteigen auch nur eine Phase im Leben sein kann. Vielleicht die letzte Stufe vor dem Erwachsenwerden. Vielleicht ist es mit dem Kampf am Berg so wie mit dem Aufstieg. Weil es so anstrengend ist, nach oben zu kommen, bleibt es stark im Bewusstsein. Mit dem Glück ist es so wie mit dem Abstieg. Leicht und schnell ist man wieder unten, vergessen. Es ist egal, welchen Berg man besteigt, oben wird man immer weiter sehen. Was man da oben sucht, ich weiß es nicht."
JÖRG HAHN
Besprochene Bücher: Hans Kammerlander (mit Walther Lücker): "Bergsüchtig", 346 Seiten, 141 Abbildungen, Piper Verlag, München, 49,80 Mark; David Breashears: "Bis zum Äußersten", 352 Seiten, viele Abbildungen, Diana Verlag, München, 39,80 Mark; Conrad Anker/David Roberts: "Verschollen am Mount Everest", 280 Seiten, viele Abbildungen, Heyne Verlag, München, 36 Mark; Joe Simpson: "Sturz ins Leere", 270 Seiten mit Abbildungen, Heyne-Taschenbuch, 14,80 Mark.
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