Hiltu, die Tochter von Jussi Toivala, kommt als Dienstmädchen ins Haus der Rektorsfrau Palmerus. Die misstrauische Dame des Hauses kann sich kein zuverlässigeres Mädchen wu nschen als Hiltu, und schon bald hat sie so viel Vertrauen zu ihr geschöpft, dass sie es sogar wagt, sie alleine zu lassen und eine Nacht außer Haus zu verbringen. Mit im Haushalt lebt allerdings auch der lebensdurstige Ragnar, der noch nicht ganz erwachsene Sohn des Hauses, der auf der Suche nach jugendlichen Abenteuern ist. Eine für Hiltu fatale Konstellation: Als die Rektorsfrau eine Nacht verreist ist, lädt Ragnar ein paar Freunde zu sich nach Hause, wo sie ein Zechgelage veranstalten. Hiltu ist die einzige Frau im Haus, und die verhängnisvolle Nacht nimmt ihren Lauf.
"Er besitzt eine seltene Fähigkeit, das Wesen des Menschen aus dem mythischen Dunkel seines Urzustandes ans Licht zu bringen", schrieb der finnische Literaturkritiker Lauri Viljanen einmal u ber Frans Eemil Sillanpääs Erzählkunst, und in "Hiltu und Ragnar" ist das aufs Schönste zu sehen. Sillanpää bedient alle Register seines Könnens, zeigt die Unausweichlichkeit menschlicher Begegnungen, erzeugt in der Geschichte wie auch in der Sprache eine schmerzliche Schönheit, die immer geprägt ist von großer mitfu hlender Menschlichkeit.
"Hiltu und Ragnar" beschreibt eine vermeintlich kleine tragische Liebesgeschichte von wenig mehr als 100 Seiten, die ihre Größe dadurch erlangt, dass sie direkt und ohne ablenkende Ausschmu ckungen zu einer existenziellen Unausweichlichkeit vordringt. Man fühlt mit Hiltu, bangt um sie, wünscht sich nichts sehnlicher, als dass alles ein gutes Ende nimmt.
"Er besitzt eine seltene Fähigkeit, das Wesen des Menschen aus dem mythischen Dunkel seines Urzustandes ans Licht zu bringen", schrieb der finnische Literaturkritiker Lauri Viljanen einmal u ber Frans Eemil Sillanpääs Erzählkunst, und in "Hiltu und Ragnar" ist das aufs Schönste zu sehen. Sillanpää bedient alle Register seines Könnens, zeigt die Unausweichlichkeit menschlicher Begegnungen, erzeugt in der Geschichte wie auch in der Sprache eine schmerzliche Schönheit, die immer geprägt ist von großer mitfu hlender Menschlichkeit.
"Hiltu und Ragnar" beschreibt eine vermeintlich kleine tragische Liebesgeschichte von wenig mehr als 100 Seiten, die ihre Größe dadurch erlangt, dass sie direkt und ohne ablenkende Ausschmu ckungen zu einer existenziellen Unausweichlichkeit vordringt. Man fühlt mit Hiltu, bangt um sie, wünscht sich nichts sehnlicher, als dass alles ein gutes Ende nimmt.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sylvia Staude sieht vieles unverändert, was Frans Eemil Sillanpää in seiner 1923 veröffentlichten Erzählung über ein Frauenschicksal beschreibt. Von den Belästigungen eines Dienstmädchens durch ihren Dienstherrn liest sie hier, ebenso wie vom verzweifelten Versuch einer Selbstbehauptung in autoritären Strukturen. Der Rezensentin entgeht nicht die Distanz des Autors zu seinen Figuren, aber auch seine genaue Psychologie seiner verwirrten Figuren, die sich mitunter im "Gleichgewicht der Gedankenlosigkeit" verlieren. Den Text in seiner ironisch durchzogenen Nüchternheit findet sie kongenial übertragen von Reetta Karjalainen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2016Das muss von Finnen kommen
Frans Eemil Sillanpää gewann 1939 den Literaturnobelpreis. Seine großartige Novelle "Hiltu und Ragnar" gibt es nun auf Deutsch
Sechs Jahre war Sebastian Guggolz Lektor bei Matthes & Seitz. Nach einem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Hamburg zog er nach Berlin, bekam ein Verlagspraktikum angeboten und wurde bald die rechte Hand des Verlegers Andreas Rötzer. Bei ihm hat er alles gelernt, was er brauchte, um sich 2014 mit einem eigenen Verlag selbständig zu machen. Einem sehr ungewöhnlichen Verlag.
Zwei Titel pro Saison. Nicht etwa von vielversprechenden Newcomern, die erste Preise abgeräumt haben, nicht von fremdsprachigen Bestsellerautoren, von denen Guggolz meistbietend die Übersetzungsrechte erworben hat. Nein, der 33-jährige Verleger interessiert sich ausschließlich für bereits tote Autoren aus Nord- und Osteuropa, aus kleinen Sprachen also, dem Weißrussischen, Estnischen, Färöischen etwa, Autoren, die in ihrer Heimat nicht nur bekannt, sondern entscheidend für die Entwicklung der Literatur waren, in Deutschland aber kaum rezipiert wurden oder längst in Vergessenheit geraten sind.
So wie der Finne Frans Eemil Sillanpää. Er erhielt 1939, als Letzter vor dem Zweiten Weltkrieg, den Literaturnobelpreis, eine Ehrung, die ihm jedoch nach dem Krieg nicht half, in der literarischen Welt Europas und Amerikas wieder Fuß zu fassen. Die nordische Literatur hatte ihre große Zeit am Ende des 19. und bis in die Dreißiger des 20. Jahrhunderts. Ibsen, Strindberg, Nexö, Björnson, Lagerlöf wurden in den Theatern gespielt und viel gelesen. Die deutschen Realisten und Naturalisten bewunderten die feine psychologische Zeichnung, die Kritik an Geschlechterverhältnissen, Bigotterie und Bourgeoisie. Sie wollten ebenso lebensnah, unromantisch, pathosarm schreiben wie die Autoren aus dem Norden, waren den neuen sozialen Bewegungen gegenüber aufgeschlossen und an den wirklichen Lebensund Liebesverhältnissen der Menschen interessiert; aller Menschen, auch dem der Bauern, Mägde, Dienstmädchen und Tagelöhner. Sie waren oft die Hauptfiguren bei den skandinavischen Erzählern. Die aber kamen ohne die Verkitschungen und Verklärungen, die Sentimentalität und Rührseligkeit aus, die die Gattung der Dorfgeschichte und des Bauernromans in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts durchgemacht hatte.
Die finnisch (nicht schwedisch) schreibenden Finnen aber hatten in der Rezeption der nordischen Literatur nie eine große Rolle gespielt. Das lag natürlich an der Sprache, die fremder war und größere Hürden für Übersetzungen und Verlage darstellte. Aber es lag auch an Finnland. Anders als in Dänemark und Norwegen entstand in Finnland, das seit dem Mittelalter eine Region zwischen zwei rivalisierenden Mächten, Schweden und Russland, gewesen war, erst spät eine bürgerliche Schicht. Die zumeist ländliche Bevölkerung war arm, unvorstellbar arm. Durch den Konfirmandenunterricht kamen zwar viele in den Genuss minimaler Bildung, aber nur den wenigsten war der Besuch einer weiterführenden Schule, gar der Universität vergönnt. Und dort, in den gebildeteren Kreisen, sprach man meist Schwedisch. Wie auch die Literatursprache bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Schwedisch war.
Das änderte sich erst mit Aleksis Kivi, der 1870 seinen Roman "Die sieben Brüder" veröffentlichte. Er gilt als der Begründer der finnischen Nationalliteratur. Finnland gehörte damals zu Russland, widersetzte sich aber zunehmend den Zentralisierungsbestrebungen Zar Nikolaus' II. und strebte die Unabhängigkeit an. Zunächst erkämpften sich die Finnen jedoch mit einem landesweiten Generalstreik im Zuge der Revolution von 1905 nur größere Autonomie und ein nichtständisches Parlament. Die Unabhängigkeit erklärte das Land erst nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1917. Folge war der finnische Bürgerkrieg, in dem Rote und Weiße gegeneinander kämpften. Anders als in Russland siegten schließlich die Weißen und gründeten eine bürgerliche Republik.
In dieser Umbruchszeit von Industrialisierung und sozialen Unruhen, erwachendem finnischen Nationalbewusstsein und seiner Radikalisierung, von beginnender Urbanisierung und dem Anschluss der Künste an die europäische Moderne wuchs Frans Eemil Sillanpää auf. Trotz großer Armut schicken ihn die Eltern in die Schule, später aufs Gymnasium nach Tampere, die immerhin drittgrößte Stadt des Landes. Als die Eltern die Kosten nicht mehr tragen können, verschafft ihm der Direktor eine Hauslehrerstelle bei einem reichen Industriellen. 1908, mit zwanzig Jahren, geht Sillanpää zum Studium nach Helsinki.
In Helsinki findet er Anschluss an eine Künstlergruppe, zu der unter anderen der Maler Pekka Halonen, der Komponist Jean Sibelius und der Schriftsteller Juhani Aho gehören - arrivierte Berufskünstler, die sich in der Künstlerkolonie am Tuusulanjärvi, einem See in Südfinnland, treffen. Dort hatte schon Aleksis Kivi die letzten Lebensmonate in einer kleinen Hütte verbracht. Künstlerisch hochaufgeladene Gegend also, in der der junge Sillanpää mit allem in Berührung kommt, was sein Herz aufwühlen und seine künstlerischen Ambitionen beflügeln muss. Kein Wunder, dass er hier, am Tuusulanjärvi, entscheidet, Schriftsteller zu werden.
Das Medizinstudium bricht er nach fünf Jahren ab und kehrt 1913 ins Haus seiner Eltern zurück. Er verliebt sich, er heiratet, er schreibt. Gleich die ersten Skizzen und Erzählungen erregen Aufsehen. Mit seinen beiden Romanen "Sonne des Lebens" und "Frommes Elend" wird er zur Hoffnung der jungen finnischen Literatur. "Frommes Elend" gehört zu den ersten beiden Bänden, die Sebastian Guggolz im Herbst 2014 herausbringt. Und er hat Glück: Finnland wird Gastland der Buchmesse, Guggolz hat als Einziger den Literaturnobelpreisträger im Programm. Eins seiner Hauptwerke, den Roman "Frommes Elend", in neuer Übersetzung von Reetta Karjalainen und Anu Katariina Lindemann. Der Roman verkauft sich gut, das finnische Fernsehen berichtet.
Inzwischen ist ein zweiter Sillanpää erschienen, eine längere Erzählung, zum ersten Mal ins Deutsche übertragen: "Hiltu und Ragnar". Eine klassische Novelle. Im Ton ganz anders als der Roman, der das Leben des Kätnerbauern Toivola-Jussi erzählt, sachlich und dennoch einfühlsam, bisweilen von sarkastischem Humor, schwarz und bitter angesichts des Elends, von dem da erzählt wird, einem Leben, das niemals den Kopf auch nur halb aus dem Dreck gehoben bekommt und dem nach dem Sieg der Weißen über die Roten aus reiner Langeweile und Überdruss mit einer Kugel ein Ende gesetzt wird. Wer das gelesen hat, glaubt, Sillanpää zu kennen. Aber dann diese Erzählung.
Da ist eine Zartheit, eine Einfühlung in menschliches Empfinden, die an Schnitzler erinnert, während die Schilderung der erstickenden bürgerlichen Verhältnisse, zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern, auf wenigen Seiten die Intensität eines Ibsenschen Dramas entwickelt. Der 20-jährige Ragnar Palmerus, einziger Spross einer Rektorenwitwe, lebt mit seiner Mutter in einer Villa außerhalb der Stadt, in der er das Polytechnikum besucht. Nachdem das letzte Dienstmädchen, Lempi, wegen einer Liebelei aus dem Haus gejagt wurde, trifft Hiltu ein, ein blutjunges Mädchen vom Land, aus ärmlichsten Verhältnissen - ihr Vater ist eben der Toivola-Jussi aus dem "Frommen Elend" -, in völliger Unwissenheit aufgewachsen und erzogen. Ragnar ist zunächst tief enttäuscht, er hatte sich eine zweite, seine erotischen Phantasien beflügelnde Lempi gewünscht. Hiltu fehlen sämtliche weiblichen Reize. Aber sie ist schüchtern, lenkbar, und zum ersten Mal fühlt sich Ragnar dem anderen Geschlecht gegenüber überlegen.
Er schickt seine Mutter auf Reisen. Diese, die ihn sonst nie auch nur eine Sekunde unbewacht ließ, ist sich jetzt sicher, dass nichts schiefgehen kann, erscheint ihr Hiltu doch ohne jede Verführungskraft. Und Ragnar täuscht ihr geschickt vollkommenes Desinteresse vor. In den drei Tagen mütterlicher Abwesenheit findet zwischen den beiden jungen Leuten ein Drama statt, das sich weniger durch tatsächlich vollzogene Handlungen und Worte als durch die in Köpfen und Herzen weitergesponnenen Träume und Phantasien bis zum Äußersten, Hiltus Selbstmord, zuspitzt. Ein Tod, der auf einem gewaltigen Missverständnis beruht. Sie glaubt, Ragnar würde sie tatsächlich lieben (er hatte ihr die Heirat versprochen), sieht sich dann missachtet, verraten, und als ihre Monatsblutung einsetzt, deren natürliche Ursache ihr unbekannt ist, glaubt sie sich mit der Krankheit, an der die Mutter gestorben ist, bestraft und will dem Leiden, das sie bei dieser erlebt hat, entgehen, indem sie sich ertränkt.
Das klingt jetzt alles sehr aufregend. Aber Sillanpää erzählt von der Verstrickung der beiden jungen Leute von innen heraus, in leisen Tönen, vollkommen unsentimental, oft sogar frech und rauh. Und ist so nah bei Hiltus Verwirrung, ihrem Hoffen, ihrem Warten und ihrer Einsamkeit, man fragt sich immer bloß, wie er das macht. Und wie diese Übergänge von einer Perspektive in die andere - eben war er noch bei Ragnar, schildert dessen robuste, kränklich-wütende Art, sich des Mädchens zu bemächtigen, da ist er unmerklich in Hiltus Denken und Empfinden hinübergeschlüpft, und man erlebt ihre zitternde Angst, träumt mit ihr davon, dass jetzt, mit Ragnar, endlich, endlich etwas Schönes in ihrem Leben beginnt. Sie riecht, während er außer Haus ist, an seinem Kissen, sie schaut aus seinem Fenster hinaus auf den See, sie beschützt ihre schüchternen Regungen und Empfindungen einen ganzen langen Tag, bis er nach Hause kommt.
Aber er kommt nicht allein. Er bringt drei Studenten mit, mit denen er in der Stadt zu trinken begonnen hat. Einer von ihnen, Murtomäki, bandelt mit Hiltu an, er ist, wie er sagt, aus "derselben Gesellschaftsschicht", ein Bauernsohn, der das junge Mädchen verklärt, aber auch handfester mit ihr umzugehen weiß als Ragnar. Der ist eifersüchtig und versucht, die Saufkumpane aus der Villa zu drängen. Murtomäki aber kehrt immer wieder zurück, das hat schon slapstickhafte Züge. Und vereitelt so, absichtslos, aber doch wie ein guter Geist, dass Ragnar bis ans Ziel seiner Wünsche gelangt. Nur rettet das Hiltu auch nicht. Sie geht zum See.
Und Ragnar? Erst verspricht er Hiltu die Heirat, dann lässt ihr Tod ihn vollkommen gleichgültig. Das Einzige, was ihn sorgt, ist, dass die Mutter bei ihrer Heimkehr merken könnte, dass zwei Weinflaschen fehlen. Die sind beim Gelage mit den Kommilitonen draufgegangen.
BETTINA HARTZ.
Frans Eemil Sillanpää: "Hiltu und Ragnar". Aus dem Finnischen von Reetta Karjalainen. Guggolz-Verlag, 128 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frans Eemil Sillanpää gewann 1939 den Literaturnobelpreis. Seine großartige Novelle "Hiltu und Ragnar" gibt es nun auf Deutsch
Sechs Jahre war Sebastian Guggolz Lektor bei Matthes & Seitz. Nach einem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Hamburg zog er nach Berlin, bekam ein Verlagspraktikum angeboten und wurde bald die rechte Hand des Verlegers Andreas Rötzer. Bei ihm hat er alles gelernt, was er brauchte, um sich 2014 mit einem eigenen Verlag selbständig zu machen. Einem sehr ungewöhnlichen Verlag.
Zwei Titel pro Saison. Nicht etwa von vielversprechenden Newcomern, die erste Preise abgeräumt haben, nicht von fremdsprachigen Bestsellerautoren, von denen Guggolz meistbietend die Übersetzungsrechte erworben hat. Nein, der 33-jährige Verleger interessiert sich ausschließlich für bereits tote Autoren aus Nord- und Osteuropa, aus kleinen Sprachen also, dem Weißrussischen, Estnischen, Färöischen etwa, Autoren, die in ihrer Heimat nicht nur bekannt, sondern entscheidend für die Entwicklung der Literatur waren, in Deutschland aber kaum rezipiert wurden oder längst in Vergessenheit geraten sind.
So wie der Finne Frans Eemil Sillanpää. Er erhielt 1939, als Letzter vor dem Zweiten Weltkrieg, den Literaturnobelpreis, eine Ehrung, die ihm jedoch nach dem Krieg nicht half, in der literarischen Welt Europas und Amerikas wieder Fuß zu fassen. Die nordische Literatur hatte ihre große Zeit am Ende des 19. und bis in die Dreißiger des 20. Jahrhunderts. Ibsen, Strindberg, Nexö, Björnson, Lagerlöf wurden in den Theatern gespielt und viel gelesen. Die deutschen Realisten und Naturalisten bewunderten die feine psychologische Zeichnung, die Kritik an Geschlechterverhältnissen, Bigotterie und Bourgeoisie. Sie wollten ebenso lebensnah, unromantisch, pathosarm schreiben wie die Autoren aus dem Norden, waren den neuen sozialen Bewegungen gegenüber aufgeschlossen und an den wirklichen Lebensund Liebesverhältnissen der Menschen interessiert; aller Menschen, auch dem der Bauern, Mägde, Dienstmädchen und Tagelöhner. Sie waren oft die Hauptfiguren bei den skandinavischen Erzählern. Die aber kamen ohne die Verkitschungen und Verklärungen, die Sentimentalität und Rührseligkeit aus, die die Gattung der Dorfgeschichte und des Bauernromans in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts durchgemacht hatte.
Die finnisch (nicht schwedisch) schreibenden Finnen aber hatten in der Rezeption der nordischen Literatur nie eine große Rolle gespielt. Das lag natürlich an der Sprache, die fremder war und größere Hürden für Übersetzungen und Verlage darstellte. Aber es lag auch an Finnland. Anders als in Dänemark und Norwegen entstand in Finnland, das seit dem Mittelalter eine Region zwischen zwei rivalisierenden Mächten, Schweden und Russland, gewesen war, erst spät eine bürgerliche Schicht. Die zumeist ländliche Bevölkerung war arm, unvorstellbar arm. Durch den Konfirmandenunterricht kamen zwar viele in den Genuss minimaler Bildung, aber nur den wenigsten war der Besuch einer weiterführenden Schule, gar der Universität vergönnt. Und dort, in den gebildeteren Kreisen, sprach man meist Schwedisch. Wie auch die Literatursprache bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Schwedisch war.
Das änderte sich erst mit Aleksis Kivi, der 1870 seinen Roman "Die sieben Brüder" veröffentlichte. Er gilt als der Begründer der finnischen Nationalliteratur. Finnland gehörte damals zu Russland, widersetzte sich aber zunehmend den Zentralisierungsbestrebungen Zar Nikolaus' II. und strebte die Unabhängigkeit an. Zunächst erkämpften sich die Finnen jedoch mit einem landesweiten Generalstreik im Zuge der Revolution von 1905 nur größere Autonomie und ein nichtständisches Parlament. Die Unabhängigkeit erklärte das Land erst nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1917. Folge war der finnische Bürgerkrieg, in dem Rote und Weiße gegeneinander kämpften. Anders als in Russland siegten schließlich die Weißen und gründeten eine bürgerliche Republik.
In dieser Umbruchszeit von Industrialisierung und sozialen Unruhen, erwachendem finnischen Nationalbewusstsein und seiner Radikalisierung, von beginnender Urbanisierung und dem Anschluss der Künste an die europäische Moderne wuchs Frans Eemil Sillanpää auf. Trotz großer Armut schicken ihn die Eltern in die Schule, später aufs Gymnasium nach Tampere, die immerhin drittgrößte Stadt des Landes. Als die Eltern die Kosten nicht mehr tragen können, verschafft ihm der Direktor eine Hauslehrerstelle bei einem reichen Industriellen. 1908, mit zwanzig Jahren, geht Sillanpää zum Studium nach Helsinki.
In Helsinki findet er Anschluss an eine Künstlergruppe, zu der unter anderen der Maler Pekka Halonen, der Komponist Jean Sibelius und der Schriftsteller Juhani Aho gehören - arrivierte Berufskünstler, die sich in der Künstlerkolonie am Tuusulanjärvi, einem See in Südfinnland, treffen. Dort hatte schon Aleksis Kivi die letzten Lebensmonate in einer kleinen Hütte verbracht. Künstlerisch hochaufgeladene Gegend also, in der der junge Sillanpää mit allem in Berührung kommt, was sein Herz aufwühlen und seine künstlerischen Ambitionen beflügeln muss. Kein Wunder, dass er hier, am Tuusulanjärvi, entscheidet, Schriftsteller zu werden.
Das Medizinstudium bricht er nach fünf Jahren ab und kehrt 1913 ins Haus seiner Eltern zurück. Er verliebt sich, er heiratet, er schreibt. Gleich die ersten Skizzen und Erzählungen erregen Aufsehen. Mit seinen beiden Romanen "Sonne des Lebens" und "Frommes Elend" wird er zur Hoffnung der jungen finnischen Literatur. "Frommes Elend" gehört zu den ersten beiden Bänden, die Sebastian Guggolz im Herbst 2014 herausbringt. Und er hat Glück: Finnland wird Gastland der Buchmesse, Guggolz hat als Einziger den Literaturnobelpreisträger im Programm. Eins seiner Hauptwerke, den Roman "Frommes Elend", in neuer Übersetzung von Reetta Karjalainen und Anu Katariina Lindemann. Der Roman verkauft sich gut, das finnische Fernsehen berichtet.
Inzwischen ist ein zweiter Sillanpää erschienen, eine längere Erzählung, zum ersten Mal ins Deutsche übertragen: "Hiltu und Ragnar". Eine klassische Novelle. Im Ton ganz anders als der Roman, der das Leben des Kätnerbauern Toivola-Jussi erzählt, sachlich und dennoch einfühlsam, bisweilen von sarkastischem Humor, schwarz und bitter angesichts des Elends, von dem da erzählt wird, einem Leben, das niemals den Kopf auch nur halb aus dem Dreck gehoben bekommt und dem nach dem Sieg der Weißen über die Roten aus reiner Langeweile und Überdruss mit einer Kugel ein Ende gesetzt wird. Wer das gelesen hat, glaubt, Sillanpää zu kennen. Aber dann diese Erzählung.
Da ist eine Zartheit, eine Einfühlung in menschliches Empfinden, die an Schnitzler erinnert, während die Schilderung der erstickenden bürgerlichen Verhältnisse, zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern, auf wenigen Seiten die Intensität eines Ibsenschen Dramas entwickelt. Der 20-jährige Ragnar Palmerus, einziger Spross einer Rektorenwitwe, lebt mit seiner Mutter in einer Villa außerhalb der Stadt, in der er das Polytechnikum besucht. Nachdem das letzte Dienstmädchen, Lempi, wegen einer Liebelei aus dem Haus gejagt wurde, trifft Hiltu ein, ein blutjunges Mädchen vom Land, aus ärmlichsten Verhältnissen - ihr Vater ist eben der Toivola-Jussi aus dem "Frommen Elend" -, in völliger Unwissenheit aufgewachsen und erzogen. Ragnar ist zunächst tief enttäuscht, er hatte sich eine zweite, seine erotischen Phantasien beflügelnde Lempi gewünscht. Hiltu fehlen sämtliche weiblichen Reize. Aber sie ist schüchtern, lenkbar, und zum ersten Mal fühlt sich Ragnar dem anderen Geschlecht gegenüber überlegen.
Er schickt seine Mutter auf Reisen. Diese, die ihn sonst nie auch nur eine Sekunde unbewacht ließ, ist sich jetzt sicher, dass nichts schiefgehen kann, erscheint ihr Hiltu doch ohne jede Verführungskraft. Und Ragnar täuscht ihr geschickt vollkommenes Desinteresse vor. In den drei Tagen mütterlicher Abwesenheit findet zwischen den beiden jungen Leuten ein Drama statt, das sich weniger durch tatsächlich vollzogene Handlungen und Worte als durch die in Köpfen und Herzen weitergesponnenen Träume und Phantasien bis zum Äußersten, Hiltus Selbstmord, zuspitzt. Ein Tod, der auf einem gewaltigen Missverständnis beruht. Sie glaubt, Ragnar würde sie tatsächlich lieben (er hatte ihr die Heirat versprochen), sieht sich dann missachtet, verraten, und als ihre Monatsblutung einsetzt, deren natürliche Ursache ihr unbekannt ist, glaubt sie sich mit der Krankheit, an der die Mutter gestorben ist, bestraft und will dem Leiden, das sie bei dieser erlebt hat, entgehen, indem sie sich ertränkt.
Das klingt jetzt alles sehr aufregend. Aber Sillanpää erzählt von der Verstrickung der beiden jungen Leute von innen heraus, in leisen Tönen, vollkommen unsentimental, oft sogar frech und rauh. Und ist so nah bei Hiltus Verwirrung, ihrem Hoffen, ihrem Warten und ihrer Einsamkeit, man fragt sich immer bloß, wie er das macht. Und wie diese Übergänge von einer Perspektive in die andere - eben war er noch bei Ragnar, schildert dessen robuste, kränklich-wütende Art, sich des Mädchens zu bemächtigen, da ist er unmerklich in Hiltus Denken und Empfinden hinübergeschlüpft, und man erlebt ihre zitternde Angst, träumt mit ihr davon, dass jetzt, mit Ragnar, endlich, endlich etwas Schönes in ihrem Leben beginnt. Sie riecht, während er außer Haus ist, an seinem Kissen, sie schaut aus seinem Fenster hinaus auf den See, sie beschützt ihre schüchternen Regungen und Empfindungen einen ganzen langen Tag, bis er nach Hause kommt.
Aber er kommt nicht allein. Er bringt drei Studenten mit, mit denen er in der Stadt zu trinken begonnen hat. Einer von ihnen, Murtomäki, bandelt mit Hiltu an, er ist, wie er sagt, aus "derselben Gesellschaftsschicht", ein Bauernsohn, der das junge Mädchen verklärt, aber auch handfester mit ihr umzugehen weiß als Ragnar. Der ist eifersüchtig und versucht, die Saufkumpane aus der Villa zu drängen. Murtomäki aber kehrt immer wieder zurück, das hat schon slapstickhafte Züge. Und vereitelt so, absichtslos, aber doch wie ein guter Geist, dass Ragnar bis ans Ziel seiner Wünsche gelangt. Nur rettet das Hiltu auch nicht. Sie geht zum See.
Und Ragnar? Erst verspricht er Hiltu die Heirat, dann lässt ihr Tod ihn vollkommen gleichgültig. Das Einzige, was ihn sorgt, ist, dass die Mutter bei ihrer Heimkehr merken könnte, dass zwei Weinflaschen fehlen. Die sind beim Gelage mit den Kommilitonen draufgegangen.
BETTINA HARTZ.
Frans Eemil Sillanpää: "Hiltu und Ragnar". Aus dem Finnischen von Reetta Karjalainen. Guggolz-Verlag, 128 Seiten, 18 Euro
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