Mehr als eine Milliarde Menschen leben heute in Rechtssystemen, die sich auf die Scharia berufen. In den westlichen Medien zum Schreckgespenst und Nährboden für islamistischen Terror erklärt, breitet sich ihr Geltungsgebiet ungebrochen weiter aus. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Wort "Scharia"? Der Rechtshistoriker und mit Preisen ausgezeichnete Reiseautor und Journalist Sadakat Kadri nimmt uns in diesem lebendig und spannend erzählten Buch mit auf eine Reise durch mehr als 1400 Jahre Geschichte, Hunderte von Überlieferungen und sieben islamische Länder. Mit dem besonderen Blick für die Absurditäten der Geschichte, einzelne Schicksale und große Zusammenhänge führt er in die Scharia ein, schildert ihre Ursprünge, Funktionsweisen und Veränderungen, erzählt dabei aber auch umfassend die Geschichte des Islam. Nicht zuletzt stellt Kadri die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, die stets immer weniger von denen abhängen, die sie schreiben als von denen, die sie anwenden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2014Wie die Scharia das tägliche Leben der Muslime ordnet
Mit unseren individualistischen Lebensentwürfen hat das islamische Recht wenig zu tun: Sadakat Kadri zeigt, warum wir unsere Vorurteile trotzdem prüfen sollten
Das islamische Recht, die Scharia, so schrieb einmal einer seiner größten Kenner, Joseph Schacht (1902 bis 1969), sei "eine der wichtigsten Hinterlassenschaften des Islams an die zivilisierte Welt". Doch wie kann das sein? Steht nicht gerade die Scharia für etwas ganz und gar Unzeitgemäßes mit ihren Straf-Bestimmungen über Auspeitschung und Steinigung, Amputation von Gliedmaßen, Enthauptungen und mit anderen drakonischen Restriktionen, die ein aufgeklärtes Bewusstsein nur mit Abscheu und Empörung zur Kenntnis nehmen kann; mit ihrer rigiden Sexualmoral, ihrer systematischen Benachteiligung, ja Unterdrückung der Frauen, mit ihrer Einschnürung des individuellen Freiheitsdrangs der Menschen zugunsten kollektiv angewandter Dogmen über ein "gottgefälliges" Leben?
Kein Zweifel: So erscheint die Scharia. Und trotzdem empfiehlt es sich, die unter dem Eindruck von Terrorismus, Dschihadismus und Fundamentalismus zustande gekommenen negativen und einseitigen Urteile ein wenig zu befragen. Das religiöse Recht des Islam ist weitaus älter als tausend Jahre, schleppt moralische Auffassungen vormoderner Art mit sich herum, wie sie sich auch im Alten Testament finden (in der westlich-säkularen Welt freilich weitgehend verschwanden), hat insgesamt jedoch eine Entwicklung durchgemacht, die sich zwischen einem furchterregenden Dogmatismus einerseits und einem bisweilen durchaus menschenfreundlichen Pragmatismus andererseits hin und her bewegte. Wie bei so vielen Sachverhalten, liegen die Dinge auch hier nicht ganz so einfach, wie viele es vermuten oder behaupten.
Der Verlag Matthes & Seitz hat vor etlichen Jahren schon das in der Nachfolge Bertrand Russells stehende, äußerst islamkritische Werk Ibn Warraqs "Warum ich kein Muslim bin" publiziert; dass er jetzt Sadakat Kadris "Himmel auf Erden" herausbringt, ist ein wichtiger Beitrag zur pluralistischen Islam-Diskussion im Westen - zumal über die Scharia, die zu weiten Teilen weniger ein Gesetzbuch als vielmehr die in vielen Jahrhunderten gewachsene islamische Lebensordnung darstellt und Grundlage der islamischen Weltkultur geworden ist.
Der Autor dieser umfassenden Tour d'Horizon durch die islamische Lebenswirklichkeit ist selbst Jurist. Der 1964 als Sohn indischer Muslime in London geborene Kadri arbeitet seit einem Vierteljahrhundert als Anwalt in London und New York. Sein Spezialgebiet sind die Menschenrechte. Den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 erlebte er in unmittelbarer Nachbarschaft des Tatorts hautnah mit. Die Berichterstattung über den Islam in den westlichen Medien nach diesem Jahrhundertverbrechen, insbesondere über die Scharia, veranlasste Sadakat Kadri zur selbständigen Recherche und zum Schreiben dieses Buches.
Trotz etlicher Anmerkungen ist es kein streng wissenschaftliches Werk. Kadri schildert den Islam, seine Entstehung und Etablierung, als große religiös-politische "Erzählung", wie sie von den Muslimen geglaubt wird und bis heute (nach-)wirkt. Für ein kritisches Bewusstsein muss da vieles offen und ungeklärt bleiben. Im ersten Teil erfährt der Leser die Umstände, unter denen der Islam von Mohammed gestiftet wurde, wie er sich ausbreitete zu einem Weltreich, das einer Struktur bedurfte, einer "Ordnung der Gesellschaft".
Der "Wüstenpfad zum Wasser", zur Tränke - dies die eigentliche Bedeutung des arabischen Wortes "al-schari'a" - wurde zu einer Ordnung, die sich in drei Jahrhunderten auf durchaus dynamische Weise in einem lebhaften, oft kontroversen Diskurs entwickelte. Quellen sind der Koran, die Hadithe oder Überlieferungen des Propheten, der Analogieschluss (qiyas) und der consensus omnium der Rechtsgelehrten (idschma). Kadri informiert über die vier orthodoxen Rechtsschulen, die sich etablierten, und erwähnt auch jene Auslegungen, die nicht standhielten und wieder verschwanden.
Fast von Beginn an waren die Diskussionen der Sakraljuristen in der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) ein Ringen zwischen Rationalisten, die alle Quellen für das menschliche Denken und Interpretieren öffnen wollten (wie die Mutaziliten) und von der Geschaffenheit ("Zeitlichkeit") des Korans ausgingen, sowie den Traditionalisten und "Literalisten", deren Verständnis auf exakt wörtlichen Interpretationen der Quellen beruhte. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die rigide Strafpraxis der Scharia nur einen vergleichsweise geringen Teil des islamischen Rechts ausmacht.
Kadri zeigt, dass die Strafpraxis zeitweise von Kautelen getragen war, die in der blindwütigen Raserei heutiger Fanatiker überhaupt nicht zum Tragen kommen und folgerichtig zu einem falschen Bild verführen. In den letzten vierzig Jahren ist die Scharia durch das - politisch bis terroristisch bedingte - Wüten von Eiferern in einer Weise verkürzt worden, die nicht allein die Strafpraxis betrifft, sondern auch viele zivile Belange. Das auch im Westen viele bewegende Thema der "Unzucht" und ihrer Bestrafung (man schaue auch hier in das Alte Testament!) erscheint in einem anderen Licht, wenn man weiß, dass auf diesem Gebiet der "Sünde" eigentlich nur gestraft werden kann, wenn vier erwachsene Augenzeugen "die Penetration beobachtet haben". Kadri folgert daraus, all diese Bestimmungen und Bedingungen dienten ursprünglich vielleicht eher dazu, die Verleumdung und "falsch Zeugnis" zu bestrafen respektive unmöglich zu machen als die "Unzucht".
Viele Diskussionen, etwa über das Wesen einer gerechten Herrschaft, erinnern durchaus an westliche Diskurse. So vertrat der Theologe und Philosoph al Ghazali vor annähernd tausend Jahren die Auffassung, die Muslime sollten auch einem ungerechten Herrscher gehorchen, denn dies sei "besser als Anarchie". Das ähnelt der Auffassung von Thomas Hobbes, dessen Leviathan die Aufgabe hat, den Wolf im Menschen zu zügeln (homo homini lupus), den Krieg aller gegen alle. Doch gab es auch gegenteilige Meinungen, die in der Geschichte des Islam auch praktiziert wurden.
Verhärtungen der Scharia fanden Unterstützung und Zuspruch unter dem Eindruck, die Muslime müssten sich gegen Fremde und deren Einflüsse behaupten. So wurde Ibn Taimiya mit seinen gegen die mongolische Fremdherrschaft nach den Verheerungen durch Dschingis Khan und Hülägü gerichteten "Mongolen-Fatwas" zum Einbläser fast aller späteren Fundamentalisten. Vor allem auch von Mohammed Ibn Abdal Wahhab, der im 18. Jahrhundert zum Gründer der wahhabitisch-freudlosen Scharia-Auslegung wurde, die bis heute in Saudi-Arabien herrscht - mit allen katastrophalen Weiterungen, die saudischer Einfluss und saudisches Geld heute zwischen dem Hindukusch und Mali oder Nigeria zeitigen.
In Iran kann der Fundamentalismus - die Schiiten haben freilich ihre eigene Rechtsschule - ebenfalls als "Abwehr" des Westens gedeutet werden. Liberal war die Scharia freilich auch in Iran niemals - dieses Wort sollte man ohnehin meiden, solange man nicht über die Moderne und ihre philosophischen Voraussetzungen spricht. Doch gab es auch Theologen, die ein großes Herz hatten; gerade die persische Literatur, doch auch die klassische arabische machen deutlich, was in früheren Zeiten geduldet wurde und was nicht. Es war erstaunlich und mit einer flexibel interpretierten Scharia durchaus zu vereinen. Mit modern-individualistischen Lebensentwürfen, wie wir in unseren Ländern sie inzwischen als normal empfinden, war und ist dies allerdings nicht kompatibel, so wenig wie die Scharia-Auslegungen der ägyptischen Muslimbrüder (Sajid Qutb) oder des indo-muslimischen Gelehrten Abul Ala al Maududi.
Im zweiten Teil ist Kadri der modernen Lebenswirklichkeit auf der Spur. In Ländern wie Indien, Iran, der Türkei oder Ägypten verfolgt er, wie sich die Gelehrten insbesondere mit Fragen des Zusammenpralls mit der (westlichen) Moderne, mit dem Thema Krieg (Dschihad), der religiösen Toleranz und der Strafpraxis, auseinandersetzen. Gerade die Unruhe, welche die islamischen Länder seit nun mehr als drei Jahren erfasst hat und die zu teilweise bürgerkriegsartigen, blutigen Erschütterungen führte, wird auch darüber entscheiden, wer in der Zukunft das Monopol der Auslegung - und damit der Veränderung der Scharia auf eine tragfähige Zukunft in der globalisierten Welt, die die Menschenrechte nicht ad acta legen wird - behält: Werden es die Traditionalisten und "hardliner" sein oder reformbereite Kräfte? Der Autor will und kann das natürlich nicht beantworten.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Sadakat Kadri: "Himmel auf Erden". Eine Reise durch die Länder der Scharia von den Wüsten des alten Arabien bis zu den Städten der muslimischen Moderne.
Aus dem Englischen von Ilse Utz. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2014, 320 S., geb., 22,90[Euro].
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Mit unseren individualistischen Lebensentwürfen hat das islamische Recht wenig zu tun: Sadakat Kadri zeigt, warum wir unsere Vorurteile trotzdem prüfen sollten
Das islamische Recht, die Scharia, so schrieb einmal einer seiner größten Kenner, Joseph Schacht (1902 bis 1969), sei "eine der wichtigsten Hinterlassenschaften des Islams an die zivilisierte Welt". Doch wie kann das sein? Steht nicht gerade die Scharia für etwas ganz und gar Unzeitgemäßes mit ihren Straf-Bestimmungen über Auspeitschung und Steinigung, Amputation von Gliedmaßen, Enthauptungen und mit anderen drakonischen Restriktionen, die ein aufgeklärtes Bewusstsein nur mit Abscheu und Empörung zur Kenntnis nehmen kann; mit ihrer rigiden Sexualmoral, ihrer systematischen Benachteiligung, ja Unterdrückung der Frauen, mit ihrer Einschnürung des individuellen Freiheitsdrangs der Menschen zugunsten kollektiv angewandter Dogmen über ein "gottgefälliges" Leben?
Kein Zweifel: So erscheint die Scharia. Und trotzdem empfiehlt es sich, die unter dem Eindruck von Terrorismus, Dschihadismus und Fundamentalismus zustande gekommenen negativen und einseitigen Urteile ein wenig zu befragen. Das religiöse Recht des Islam ist weitaus älter als tausend Jahre, schleppt moralische Auffassungen vormoderner Art mit sich herum, wie sie sich auch im Alten Testament finden (in der westlich-säkularen Welt freilich weitgehend verschwanden), hat insgesamt jedoch eine Entwicklung durchgemacht, die sich zwischen einem furchterregenden Dogmatismus einerseits und einem bisweilen durchaus menschenfreundlichen Pragmatismus andererseits hin und her bewegte. Wie bei so vielen Sachverhalten, liegen die Dinge auch hier nicht ganz so einfach, wie viele es vermuten oder behaupten.
Der Verlag Matthes & Seitz hat vor etlichen Jahren schon das in der Nachfolge Bertrand Russells stehende, äußerst islamkritische Werk Ibn Warraqs "Warum ich kein Muslim bin" publiziert; dass er jetzt Sadakat Kadris "Himmel auf Erden" herausbringt, ist ein wichtiger Beitrag zur pluralistischen Islam-Diskussion im Westen - zumal über die Scharia, die zu weiten Teilen weniger ein Gesetzbuch als vielmehr die in vielen Jahrhunderten gewachsene islamische Lebensordnung darstellt und Grundlage der islamischen Weltkultur geworden ist.
Der Autor dieser umfassenden Tour d'Horizon durch die islamische Lebenswirklichkeit ist selbst Jurist. Der 1964 als Sohn indischer Muslime in London geborene Kadri arbeitet seit einem Vierteljahrhundert als Anwalt in London und New York. Sein Spezialgebiet sind die Menschenrechte. Den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 erlebte er in unmittelbarer Nachbarschaft des Tatorts hautnah mit. Die Berichterstattung über den Islam in den westlichen Medien nach diesem Jahrhundertverbrechen, insbesondere über die Scharia, veranlasste Sadakat Kadri zur selbständigen Recherche und zum Schreiben dieses Buches.
Trotz etlicher Anmerkungen ist es kein streng wissenschaftliches Werk. Kadri schildert den Islam, seine Entstehung und Etablierung, als große religiös-politische "Erzählung", wie sie von den Muslimen geglaubt wird und bis heute (nach-)wirkt. Für ein kritisches Bewusstsein muss da vieles offen und ungeklärt bleiben. Im ersten Teil erfährt der Leser die Umstände, unter denen der Islam von Mohammed gestiftet wurde, wie er sich ausbreitete zu einem Weltreich, das einer Struktur bedurfte, einer "Ordnung der Gesellschaft".
Der "Wüstenpfad zum Wasser", zur Tränke - dies die eigentliche Bedeutung des arabischen Wortes "al-schari'a" - wurde zu einer Ordnung, die sich in drei Jahrhunderten auf durchaus dynamische Weise in einem lebhaften, oft kontroversen Diskurs entwickelte. Quellen sind der Koran, die Hadithe oder Überlieferungen des Propheten, der Analogieschluss (qiyas) und der consensus omnium der Rechtsgelehrten (idschma). Kadri informiert über die vier orthodoxen Rechtsschulen, die sich etablierten, und erwähnt auch jene Auslegungen, die nicht standhielten und wieder verschwanden.
Fast von Beginn an waren die Diskussionen der Sakraljuristen in der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) ein Ringen zwischen Rationalisten, die alle Quellen für das menschliche Denken und Interpretieren öffnen wollten (wie die Mutaziliten) und von der Geschaffenheit ("Zeitlichkeit") des Korans ausgingen, sowie den Traditionalisten und "Literalisten", deren Verständnis auf exakt wörtlichen Interpretationen der Quellen beruhte. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die rigide Strafpraxis der Scharia nur einen vergleichsweise geringen Teil des islamischen Rechts ausmacht.
Kadri zeigt, dass die Strafpraxis zeitweise von Kautelen getragen war, die in der blindwütigen Raserei heutiger Fanatiker überhaupt nicht zum Tragen kommen und folgerichtig zu einem falschen Bild verführen. In den letzten vierzig Jahren ist die Scharia durch das - politisch bis terroristisch bedingte - Wüten von Eiferern in einer Weise verkürzt worden, die nicht allein die Strafpraxis betrifft, sondern auch viele zivile Belange. Das auch im Westen viele bewegende Thema der "Unzucht" und ihrer Bestrafung (man schaue auch hier in das Alte Testament!) erscheint in einem anderen Licht, wenn man weiß, dass auf diesem Gebiet der "Sünde" eigentlich nur gestraft werden kann, wenn vier erwachsene Augenzeugen "die Penetration beobachtet haben". Kadri folgert daraus, all diese Bestimmungen und Bedingungen dienten ursprünglich vielleicht eher dazu, die Verleumdung und "falsch Zeugnis" zu bestrafen respektive unmöglich zu machen als die "Unzucht".
Viele Diskussionen, etwa über das Wesen einer gerechten Herrschaft, erinnern durchaus an westliche Diskurse. So vertrat der Theologe und Philosoph al Ghazali vor annähernd tausend Jahren die Auffassung, die Muslime sollten auch einem ungerechten Herrscher gehorchen, denn dies sei "besser als Anarchie". Das ähnelt der Auffassung von Thomas Hobbes, dessen Leviathan die Aufgabe hat, den Wolf im Menschen zu zügeln (homo homini lupus), den Krieg aller gegen alle. Doch gab es auch gegenteilige Meinungen, die in der Geschichte des Islam auch praktiziert wurden.
Verhärtungen der Scharia fanden Unterstützung und Zuspruch unter dem Eindruck, die Muslime müssten sich gegen Fremde und deren Einflüsse behaupten. So wurde Ibn Taimiya mit seinen gegen die mongolische Fremdherrschaft nach den Verheerungen durch Dschingis Khan und Hülägü gerichteten "Mongolen-Fatwas" zum Einbläser fast aller späteren Fundamentalisten. Vor allem auch von Mohammed Ibn Abdal Wahhab, der im 18. Jahrhundert zum Gründer der wahhabitisch-freudlosen Scharia-Auslegung wurde, die bis heute in Saudi-Arabien herrscht - mit allen katastrophalen Weiterungen, die saudischer Einfluss und saudisches Geld heute zwischen dem Hindukusch und Mali oder Nigeria zeitigen.
In Iran kann der Fundamentalismus - die Schiiten haben freilich ihre eigene Rechtsschule - ebenfalls als "Abwehr" des Westens gedeutet werden. Liberal war die Scharia freilich auch in Iran niemals - dieses Wort sollte man ohnehin meiden, solange man nicht über die Moderne und ihre philosophischen Voraussetzungen spricht. Doch gab es auch Theologen, die ein großes Herz hatten; gerade die persische Literatur, doch auch die klassische arabische machen deutlich, was in früheren Zeiten geduldet wurde und was nicht. Es war erstaunlich und mit einer flexibel interpretierten Scharia durchaus zu vereinen. Mit modern-individualistischen Lebensentwürfen, wie wir in unseren Ländern sie inzwischen als normal empfinden, war und ist dies allerdings nicht kompatibel, so wenig wie die Scharia-Auslegungen der ägyptischen Muslimbrüder (Sajid Qutb) oder des indo-muslimischen Gelehrten Abul Ala al Maududi.
Im zweiten Teil ist Kadri der modernen Lebenswirklichkeit auf der Spur. In Ländern wie Indien, Iran, der Türkei oder Ägypten verfolgt er, wie sich die Gelehrten insbesondere mit Fragen des Zusammenpralls mit der (westlichen) Moderne, mit dem Thema Krieg (Dschihad), der religiösen Toleranz und der Strafpraxis, auseinandersetzen. Gerade die Unruhe, welche die islamischen Länder seit nun mehr als drei Jahren erfasst hat und die zu teilweise bürgerkriegsartigen, blutigen Erschütterungen führte, wird auch darüber entscheiden, wer in der Zukunft das Monopol der Auslegung - und damit der Veränderung der Scharia auf eine tragfähige Zukunft in der globalisierten Welt, die die Menschenrechte nicht ad acta legen wird - behält: Werden es die Traditionalisten und "hardliner" sein oder reformbereite Kräfte? Der Autor will und kann das natürlich nicht beantworten.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Sadakat Kadri: "Himmel auf Erden". Eine Reise durch die Länder der Scharia von den Wüsten des alten Arabien bis zu den Städten der muslimischen Moderne.
Aus dem Englischen von Ilse Utz. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2014, 320 S., geb., 22,90[Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Dirk Pilz erweckt zwar ein wenig den Eindruck, als sei der üble Ruf, den die Scharia bei uns genießt, ein Problem westlicher Ignoranz, aber das ist offenbar nicht die Sache des indischen Autors Sadakat Kadri. Der muslimische Anwalt beschreibt in seinem Buch die Geschichte der islamischen Rechtswissenschaft und ihren Wandel im Laufe der Zeit. Dabei betont er vor allem die Dynamik, der die Auslegung der Scharia immer unterworfen war. Hier erkennt der Autor laut Pilz den Knackpunkt des salafistischen Fundamentalismus: die Weigerung, Wandel und Vielfalt zuzulassen. Der Rezensent ist trotzdem nicht recht glücklich geworden mit diesem Buch. Er nennt es "theologisch unterernährt" und vermisst neben einigen zentralen islamischen Rechtsgelehrten auch die Kenntnisnahme neuerer deutscher Studien.
© Perlentaucher Medien GmbH
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