Die Welt, wie sie scheint
In seinem neuen Roman „Himmel über London“ spielt Håkan Nesser ein tiefgründiges Spiel mit der Wirklichkeit.
„Wir kamen um 16.50 Uhr mit dem Heathrow Express in Paddington an.“ Mit diesen lapidaren Worten beginnt der neue Roman des schwedischen Schriftstellers Håkan Nesser, der mit seiner Kommissar-Van-Veeteren-Reihe, seiner Serie um Inspektor Barbarotti und zahlreichen anderen Büchern zum Autor von Weltrang wurde. Viele Bücher des heute 63-Jährigen wurden verfilmt. Nesser gilt als Philosoph unter den Krimiautoren, ist für seine komplexen und trickreichen Charaktere und Handlungen bekannt. Und auch bereits dieser erste Satz aus dem Buch „Himmel über London“, das bereits 2011 in Schweden erschien, lässt aufhorchen.
Håkan Nesser spielt ein originelles Spiel mit dem Genre Krimi
Denn er erinnert an den Titel des Romans „16 Uhr 50 ab Paddington“, der aus der Feder der englischen Krimilegende Agatha Christie stammt. Die Unaufgeregtheit, die der Satz transportiert, ist – NesserKenner wissen es – eine Finte. Denn im Folgenden entspinnt der Schwede ein gekonntes, hintergründiges und überaus originelles Spiel mit dem Genre, dem er seinen Erfolg verdankt, mit der Macht der Literatur und letzten Endes mit sich selbst als Autor, dem Urheber und Strippenzieher von Geschichten. Bereits in dem Erzählband „Aus Doktor Klimkes Perspektive“ hatte Nesser sein literarisches Spiel mit Fragen rund um Schein und Sein getrieben.
Ein Todkranker, ein Massenmörder und kaputte Armbanduhren
Aber zunächst zur Handlung: Leonid Vernin ist schwerreich und schwerkrank. Der Krebs macht ihm zu schaffen. Er befindet sich in den letzten Wochen seines Lebens. Zusammen mit seiner nordamerikanischen Lebensgefährtin Maud, die er über seine Psychotherapie kennengelernt hat, reist er nach London. Dort hat er eine Zeit seines Lebens verbracht, und diese Zeit hat ihn sehr geprägt. Mit dabei: die beiden Kinder aus Mauds erster Ehe – Irina, die an einem neurotischen Hygienefimmel leidet, und der missratene Gregorius, der auf das Erbe seines Stiefvaters hofft. Allerdings hat Vernin noch zwei weitere Gäste eingeladen, von denen die anderen nichts wissen … Zur selben Zeit treibt in der englischen Hauptstadt ein Massenmörder sein Unwesen, der eine seltsame Angewohnheit hat: Bei seinen Opfern hinterlässt er eine kaputte Armbanduhr. Auch dies ist ein Zeichen, mit dem Nesser Signale an den Leser aussendet, Erwartungen weckt und ihn auf eine Fährte lockt. „Wer hat hier an der Uhr gedreht?“
Himmel über London: klassischer Thriller und Spionagegeschichte
Eine dysfunktionale Familie, die Nähe des Todes, Geheimnisse und London, eine Stadt, die von ihren Mythen, ihren Verbrechern und Geistergeschichten lebt. Dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht, macht Nesser in seiner Wortwahl deutlich. Wörter wie „Kontrollverlust“, „Sturm“ oder „seltsam“ künden von einer Welt, die dabei ist, aus den Fugen zu geraten. Nesser ist in seinem Element. Er baut die Bühne für einen klassischen Thriller, der sich sogar in eine Spionagegeschichte à la John le Carré zu entwickeln scheint. Nesser zieht hier wirklich alle Register seines Könnens, als Stilistiker und Dramaturg. Auch Verweise auf das Buch „Die Welt als Wille und Vorstellung“ des Philosophen Arthur Schopenhauer deuten an, dass Nesser ein viel ausgeklügelteres Spiel treibt, als man es anfangs erahnt. An einer Stelle lässt er Vernin sagen: „... und ich ahnte, dass ich ein Steinchen in einem Spiel war, von dem ich mir überhaupt keine Vorstellung machen konnte.“
Denn plötzlich taucht ein weiterer Charakter in der Geschichte auf: Lars Gustav Selén, ein mittelprächtiger Autor aus Schweden, dessen Geldbörse zufällig von Irina gefunden wird und der in einer seltsamen Verbindung zu Leonid Vernin zu stehen scheint. Wie Nesser schließlich zwei Handlungen mit zahlreichen Rückblenden zu einem Finale mit Paukenschlag führt, ist meisterlich und ein großes Lesevergnügen!
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Etwas kryptisch kommt Stephan Opitz in seiner Besprechung daher. Möglich, dass das mit Hakan Nesser und seinem neuen Roman zu tun hat, sehr gut möglich sogar. Denn Opitz ist sich nach dieser Lektüre nicht mehr sicher, in welches Fach Nesser gehört. Ist er noch Krimi- oder schon pikaresker Autor? Oder ist Nesser einfach ein ganz großer Epiker in skandinavischer Tradition? Für letzteres spricht laut Opitz, dass Nesser in diesem Buch um eine nahezu klassisch arrangierte Testamentseröffnung mit Folgen dem Spiel von Zeit und Zufall näher denn je kommt. Auch Nessers dramaturgisches Geschick beim Umgang mit diversen Rahmengeschichten findet Opitz beachtlich und lesenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2014Das Leben, der Mord und die Liebe
Håkan Nessers Krimis haben in Deutschland Millionen Leser. Dabei fand der frühere Lehrer nur durch Zufall zu den Storys um Kommissare und Mörder. Sein neuer Plan: ein Berlin-Buch.
VON JULIA SCHAAF
Nehmen wir an, wir müssten für eine Geschichte einen erfolgreichen schwedischen Krimiautor erfinden. Weil diese Geschichte leider nicht in Schweden spielt, wo wir den Mann vor ein rotes Holzhäuschen mit weißen Kanten an einen See setzen könnten, plazieren wir ihn auf einer Bühne in Berlin-Mitte. Der große Saal ist - natürlich - voll, der Applaus am Ende wird laut und herzlich sein.
Unser Schriftsteller sitzt zwischen einer Moderatorin und einem deutschen "Tatort"-Kommissar, die er beide um fast einen Kopf überragt. Er trägt ein zerknittertes Sakko, das helle Hemd hängt über dem Hosenbund. Sein Haar ist ergraut, die Stirn hoch. Wenn er redet, sagt er niveauvolle Dinge, die trotzdem unterhaltsam sind. Ein bisschen Petterson, ein bisschen Michel aus Lönneberga - was wir von Schweden halt so erwarten. Dann liest der Fernsehkommissar - nennen wir ihn Dietmar Bär - aus dem neuesten Roman des Schriftstellers. Und während es um aberwitzige Kinderlügen und eine Schulhofklopperei geht, während das Publikum jeden originellen Dreh mit immer freierem Lachen quittiert, stützt der Schriftsteller sein Kinn in die Hand, lauscht seinem Text auf Deutsch und lächelt. Er sieht zufrieden aus.
Selbstverständlich gibt es diesen Schriftsteller. Er heißt Håkan Nesser, und schon allein weil diese Geschichte kein Roman, sondern ein Autorenporträt in einer Zeitung ist, darf man berechtigterweise davon ausgehen, dass dieser freundliche, knapp 64 Jahre alte Mann vergangene Woche tatsächlich auf Lesereise in Deutschland war mit seinem jüngst erschienenen Buch "Himmel über London". Selbstverständlich hat er sich auch mit der Autorin dieses Artikels getroffen, vor der Lesung, in einem Hotel mit Blick auf den Gendarmenmarkt.
Aber da ist diese Sache mit dem "nicht ganz wahrhaftigen Erzähler", wie Nesser es ausdrückt, der in seinem neuen Roman unsere Vorstellungen von Fiktion und Wirklichkeit so durcheinanderwirbelt, dass man sich plötzlich fragt, was eigentlich überhaupt real ist und wer darüber im Zweifelsfall die Kontrolle hat.
Nesser sagt: "Eigentlich hätte das mein letztes Buch werden müssen, weil es eine Art Hommage an das Schreiben, an das Geschichtenerzählen ist. Es ist so wichtig, jemanden zu haben, der erzählt. Ohne Erzähler keine Geschichte."
Der Schriftsteller greift nach dem Buch, das auf dem Sofa herumliegt, und schält den Schutzumschlag mit seinem Namen und dem Gewitterhimmel darauf herunter. Da steht, völlig überraschend, weiß auf schwarz aufs Cover geprägt: "Steven G. Russell. Bekenntnisse eines Schlafwandlers". Schwedische Leser wandten sich an den Verlag, überzeugt, da sei wohl ein Fehler passiert.
Seine Popularität verdankt Nesser Kriminalromanen. Dank den Kommissaren Van Veeteren (zehn Bände) und Barbarotti (fünf Bände) beläuft sich die Håkan-Nesser-Gesamtauflage allein in Deutschland auf 7,5 Millionen Bücher. Sein aktuelles Werk jedoch, sagt der Autor, hätte man vielleicht mit der Warnung versehen sollen, dass es sich nicht um einen Krimi handele: "Ich weiß, dass viele Leute dieses Buch nicht mögen."
Es gibt zwar einen ersten Satz, der auf Agatha Christie anspielt: "Wir kamen um 16.50 Uhr mit dem Heathrow Express in Paddington an." Wenige Zeilen später erfahren wir auch, dass in London ein mysteriöser Serienkiller umgeht. Der Protagonist ist ein reicher Mann, der nicht mehr lange leben wird und seinen 70. Geburtstag plant.
Wenn Nesser jedoch über den Entstehungsprozess des Buchs spricht, sagt er: "Ich wusste, dass es auch einen versteckten Erzähler geben würde, jemanden, der versuchen würde, in seine eigene Geschichte einzudringen, was natürlich nicht geht, was er aber trotzdem versucht, weil sich sein ganzes Leben ums Schreiben, um Geschichten, um Bücher dreht." Nesser weiß nur zu gut, dass er ein Buch geschrieben hat, das leicht zu lesen ist und wegen der Wirrnisse um die Autorenschaft trotzdem kompliziert. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.
"Warum lesen wir Romane?", fragt der Autor dann, um sich prompt selbst zu antworten: "Weil wir uns unser Leben wie eine Geschichte wünschen, die man erzählen kann und die Sinn macht. Ich glaube, dass wir, wenn wir uns das Leben per se anschauen, die ganze Zeit Geschichten erzählen. Unser Geist funktioniert so. Wir müssen Geschichten erzählen, um die Wirklichkeit zu verstehen."
Erzählen wir also die Geschichte eines Mannes, der in Uppsala Literatur und Philosophie studiert und 25 Jahre lang begeistert als Schwedischlehrer gearbeitet hat. Mit seinen Schülern inszenierte er Musicals, zu denen er selbst die Texte schrieb. Die Herausforderung: 120 Sechzehnjährige so auf die Bühne zu bringen, dass auch die Schüchternen ihren Auftritt hatten. Vielleicht als Baum. Als Hinterteil einer Kuh.
Sein erstes Buch entstand dann Mitte der Achtziger, nach seiner Scheidung. "Jeder hat früher oder später eine Scheidung", sagt Nesser, und es bleibt unklar, ob das eine zeitgenössische schwedische Wahrheit ist oder der Versuch, Nachfragen abzublocken. Die Kinder jedenfalls, damals fünf und zwölf Jahre alt, lebten wochenweise im Wechsel bei der Mutter und bei ihm, und Nesser hatte plötzlich sieben Abende am Stück frei. Zeit genug, einen Roman zu schreiben, dachte er, und damit war die Idee in der Welt. "Das Schreiben wurde zur Droge. Ich habe seitdem nicht aufgehört."
Dass sein Durchbruch allerdings ein Krimi war, ist Zufall. "Ich hatte einfach eine Geschichte, die ich erzählen wollte, und die ließ sich nur als Krimi erzählen." Es handelte sich um den Auftakt zu seiner Serie um den desillusionierten Kommissar Van Veeteren, von dem Nesser sagt, er habe zu ihm ein Verhältnis wie zu einem Vater gehabt, weil er ihm in gewisser Weise rätselhaft geblieben sei, bis zum letzten Band. Dessen Nachfolger Inspektor Barbarotti bezeichnet der Autor gern als jüngeren Bruder.
Als Schriftsteller steckt er seither in einer Schublade. Vergangenes Jahr stand sogar ein ausgewiesenen Nesser-Nichtkrimi auf der Shortlist für den Schwedischen Krimi-Preis. Dabei ist sein Markenzeichen weniger das Verbrechen als eine Kombination aus atmosphärischer Dichte und exakter Psychologie. Und der schwedische Krimi-Boom - "keine Welle, ein Tsunami", sagt Nesser - geht ihm schon länger auf die Nerven. Nächste Woche wird er in London an einer Diskussion über das Phänomen "Nordic Noir" teilnehmen, wobei seine These ist, dass schwedische Krimis im Ausland aus länderspezifischen Gründen gelesen werden. Großbritannien zum Beispiel ergötze sich am Niedergang des einst beneideten schwedischen Wohlfahrtsstaats. Amerikaner verwechselten zwar Schweden und die Schweiz, wüssten aber dank Ingmar Bergman, der typische Schwede sei depressiv, niedergeschlagen, finster. "Wir geben gute Mörder ab", sagt Nesser und lacht fröhlich. Dieser Mann ist eindeutig nichts dergleichen.
In Deutschland unterdessen wachse man mit Astrid Lindgren auf und habe daher das Gefühl, Schweden gut zu kennen. Das Land sei einem vertraut, ohne Heimat zu sein. Wenn über diese heile, freundliche Welt dann das Verbrechen hereinbreche, sei die Dramatik entsprechend groß.
"Das Genre an sich ist nicht verkehrt", sagt Nesser und meint zweierlei. Ein Mord erzeuge fast automatisch die Spannung, die eine gute Geschichte ausmache: Was ist passiert? Was wird passieren? Und wo der Tod präsent sei, drängten sich existentielle Fragen nach dem Leben förmlich auf. In den Jahren vor 1998, als Nesser zugleich Lehrer und Autor war, fragten ihn seine Schüler manchmal, worüber er als Nächstes schreiben werde. "Das Leben, den Tod und die Liebe", antwortete er dann. Seine Schüler fanden das gut.
Später ist die Auseinandersetzung mit Gott dazugekommen. Mit dem hatte Inspektor Barbarotti nämlich eine charmante Wette, derzufolge die Existenz des Herrn durch ein Punktesystem bewiesen werden sollte. Håkan Nesser, einst eingefleischter Atheist, sagt heute: "Ich glaube, dass es da oben jemanden gibt, der uns mag." Dieser Sinneswandel geht auf seine zweite Frau zurück, eine Psychiaterin mit deutschen Wurzeln, die zehn Jahre jünger ist als er. Sie habe zwar nicht für die große Liebe seines Kommissars Pate gestanden, so Nesser. Aber ähnlich wie diese habe auch sie einen Glauben.
Die Geschichte von Nessers Kindheit lässt sich ebenfalls aus seinen Büchern herauslesen. Jedenfalls ansatzweise. Zwar geht es nie direkt um den Sohn eines belesenen Bauern, der lieber kein Bauer gewesen wäre. Aber Nessers vielleicht schönste Bücher "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" sowie "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" spielen beide in derselben Gegend und derselben Zeit wie Nessers Jugend, weshalb er sie "autogeographisch" nennt. Natürlich gibt es Ermittler in diesen Romanen und einen Mord - eigentlich aber dreht sich alles um das Gefühl, in einem flirrenden Sommer erwachsen zu werden.
"In einer schwedischen Kleinstadt der fünfziger, sechziger Jahre aufzuwachsen war eine sehr sichere Sache", sagt Nesser, diesmal tatsächlich über sich selbst, und fügt an: "Keine großen Traumata." Dann aber spricht er von dem Geist der Sixties, der aus England herüberwehte, von der Musik, der sexuellen Revolution und von dem pubertären Größenwahn, die gesellschaftliche Entwicklung sei unmittelbar mit dem eigenen Leben verknüpft. Besonders das "Piccadilly"-Buch transportiert dieses Gefühl. So wie dessen Protagonist hat Nesser in den Sommern 1966 und 1967 wochenlang gejobbt, um dann die zweite Hälfte der Ferien in London zu verbringen, Rock-Konzerte besuchend und so sparsam wie möglich lebend, um diesen Glückszustand maximal auszudehnen. Nicht zufällig enthält auch Nessers aktuelles London-Buch etwas von dem aufgekratzten Knistern jener Zeit.
Ein Gang über den Gendarmenmarkt, um Fotos zu machen. Håkan Nesser erzählt, dass er im April einen Monat in Deutschland recherchieren wolle für das Berlin-Buch, das er schon seit Jahren plane - als Abschluss einer Trilogie, nach Romanen, die er in und über New York und eben London schrieb. Gerade seien die ersten fünfzig Seiten fertig geworden. Es gehe darin um einen nicht allzu gescheiten Mann, der sich mit Mitte dreißig aufmache, in Berlin seine verschollene Mutter zu suchen. Und je nachdem, wo genau der Verlag eine Wohnung für ihn finde, werde die Geschichte spielen. Letztlich sei das ohnehin egal. "Der Erzähler lenkt den Leser. Die Geschichte lenkt den Erzähler", heißt es immer wieder auf den Seiten des London-Buchs.
Nehmen wir an, wir würden einen schwedischen Krimiautor erfinden, der auch in diesem Sinne auf höhere Mächte vertraut, wir würden ihn uns als glücklichen Mann vorstellen.
"Himmel über London" ist im btb Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Håkan Nessers Krimis haben in Deutschland Millionen Leser. Dabei fand der frühere Lehrer nur durch Zufall zu den Storys um Kommissare und Mörder. Sein neuer Plan: ein Berlin-Buch.
VON JULIA SCHAAF
Nehmen wir an, wir müssten für eine Geschichte einen erfolgreichen schwedischen Krimiautor erfinden. Weil diese Geschichte leider nicht in Schweden spielt, wo wir den Mann vor ein rotes Holzhäuschen mit weißen Kanten an einen See setzen könnten, plazieren wir ihn auf einer Bühne in Berlin-Mitte. Der große Saal ist - natürlich - voll, der Applaus am Ende wird laut und herzlich sein.
Unser Schriftsteller sitzt zwischen einer Moderatorin und einem deutschen "Tatort"-Kommissar, die er beide um fast einen Kopf überragt. Er trägt ein zerknittertes Sakko, das helle Hemd hängt über dem Hosenbund. Sein Haar ist ergraut, die Stirn hoch. Wenn er redet, sagt er niveauvolle Dinge, die trotzdem unterhaltsam sind. Ein bisschen Petterson, ein bisschen Michel aus Lönneberga - was wir von Schweden halt so erwarten. Dann liest der Fernsehkommissar - nennen wir ihn Dietmar Bär - aus dem neuesten Roman des Schriftstellers. Und während es um aberwitzige Kinderlügen und eine Schulhofklopperei geht, während das Publikum jeden originellen Dreh mit immer freierem Lachen quittiert, stützt der Schriftsteller sein Kinn in die Hand, lauscht seinem Text auf Deutsch und lächelt. Er sieht zufrieden aus.
Selbstverständlich gibt es diesen Schriftsteller. Er heißt Håkan Nesser, und schon allein weil diese Geschichte kein Roman, sondern ein Autorenporträt in einer Zeitung ist, darf man berechtigterweise davon ausgehen, dass dieser freundliche, knapp 64 Jahre alte Mann vergangene Woche tatsächlich auf Lesereise in Deutschland war mit seinem jüngst erschienenen Buch "Himmel über London". Selbstverständlich hat er sich auch mit der Autorin dieses Artikels getroffen, vor der Lesung, in einem Hotel mit Blick auf den Gendarmenmarkt.
Aber da ist diese Sache mit dem "nicht ganz wahrhaftigen Erzähler", wie Nesser es ausdrückt, der in seinem neuen Roman unsere Vorstellungen von Fiktion und Wirklichkeit so durcheinanderwirbelt, dass man sich plötzlich fragt, was eigentlich überhaupt real ist und wer darüber im Zweifelsfall die Kontrolle hat.
Nesser sagt: "Eigentlich hätte das mein letztes Buch werden müssen, weil es eine Art Hommage an das Schreiben, an das Geschichtenerzählen ist. Es ist so wichtig, jemanden zu haben, der erzählt. Ohne Erzähler keine Geschichte."
Der Schriftsteller greift nach dem Buch, das auf dem Sofa herumliegt, und schält den Schutzumschlag mit seinem Namen und dem Gewitterhimmel darauf herunter. Da steht, völlig überraschend, weiß auf schwarz aufs Cover geprägt: "Steven G. Russell. Bekenntnisse eines Schlafwandlers". Schwedische Leser wandten sich an den Verlag, überzeugt, da sei wohl ein Fehler passiert.
Seine Popularität verdankt Nesser Kriminalromanen. Dank den Kommissaren Van Veeteren (zehn Bände) und Barbarotti (fünf Bände) beläuft sich die Håkan-Nesser-Gesamtauflage allein in Deutschland auf 7,5 Millionen Bücher. Sein aktuelles Werk jedoch, sagt der Autor, hätte man vielleicht mit der Warnung versehen sollen, dass es sich nicht um einen Krimi handele: "Ich weiß, dass viele Leute dieses Buch nicht mögen."
Es gibt zwar einen ersten Satz, der auf Agatha Christie anspielt: "Wir kamen um 16.50 Uhr mit dem Heathrow Express in Paddington an." Wenige Zeilen später erfahren wir auch, dass in London ein mysteriöser Serienkiller umgeht. Der Protagonist ist ein reicher Mann, der nicht mehr lange leben wird und seinen 70. Geburtstag plant.
Wenn Nesser jedoch über den Entstehungsprozess des Buchs spricht, sagt er: "Ich wusste, dass es auch einen versteckten Erzähler geben würde, jemanden, der versuchen würde, in seine eigene Geschichte einzudringen, was natürlich nicht geht, was er aber trotzdem versucht, weil sich sein ganzes Leben ums Schreiben, um Geschichten, um Bücher dreht." Nesser weiß nur zu gut, dass er ein Buch geschrieben hat, das leicht zu lesen ist und wegen der Wirrnisse um die Autorenschaft trotzdem kompliziert. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.
"Warum lesen wir Romane?", fragt der Autor dann, um sich prompt selbst zu antworten: "Weil wir uns unser Leben wie eine Geschichte wünschen, die man erzählen kann und die Sinn macht. Ich glaube, dass wir, wenn wir uns das Leben per se anschauen, die ganze Zeit Geschichten erzählen. Unser Geist funktioniert so. Wir müssen Geschichten erzählen, um die Wirklichkeit zu verstehen."
Erzählen wir also die Geschichte eines Mannes, der in Uppsala Literatur und Philosophie studiert und 25 Jahre lang begeistert als Schwedischlehrer gearbeitet hat. Mit seinen Schülern inszenierte er Musicals, zu denen er selbst die Texte schrieb. Die Herausforderung: 120 Sechzehnjährige so auf die Bühne zu bringen, dass auch die Schüchternen ihren Auftritt hatten. Vielleicht als Baum. Als Hinterteil einer Kuh.
Sein erstes Buch entstand dann Mitte der Achtziger, nach seiner Scheidung. "Jeder hat früher oder später eine Scheidung", sagt Nesser, und es bleibt unklar, ob das eine zeitgenössische schwedische Wahrheit ist oder der Versuch, Nachfragen abzublocken. Die Kinder jedenfalls, damals fünf und zwölf Jahre alt, lebten wochenweise im Wechsel bei der Mutter und bei ihm, und Nesser hatte plötzlich sieben Abende am Stück frei. Zeit genug, einen Roman zu schreiben, dachte er, und damit war die Idee in der Welt. "Das Schreiben wurde zur Droge. Ich habe seitdem nicht aufgehört."
Dass sein Durchbruch allerdings ein Krimi war, ist Zufall. "Ich hatte einfach eine Geschichte, die ich erzählen wollte, und die ließ sich nur als Krimi erzählen." Es handelte sich um den Auftakt zu seiner Serie um den desillusionierten Kommissar Van Veeteren, von dem Nesser sagt, er habe zu ihm ein Verhältnis wie zu einem Vater gehabt, weil er ihm in gewisser Weise rätselhaft geblieben sei, bis zum letzten Band. Dessen Nachfolger Inspektor Barbarotti bezeichnet der Autor gern als jüngeren Bruder.
Als Schriftsteller steckt er seither in einer Schublade. Vergangenes Jahr stand sogar ein ausgewiesenen Nesser-Nichtkrimi auf der Shortlist für den Schwedischen Krimi-Preis. Dabei ist sein Markenzeichen weniger das Verbrechen als eine Kombination aus atmosphärischer Dichte und exakter Psychologie. Und der schwedische Krimi-Boom - "keine Welle, ein Tsunami", sagt Nesser - geht ihm schon länger auf die Nerven. Nächste Woche wird er in London an einer Diskussion über das Phänomen "Nordic Noir" teilnehmen, wobei seine These ist, dass schwedische Krimis im Ausland aus länderspezifischen Gründen gelesen werden. Großbritannien zum Beispiel ergötze sich am Niedergang des einst beneideten schwedischen Wohlfahrtsstaats. Amerikaner verwechselten zwar Schweden und die Schweiz, wüssten aber dank Ingmar Bergman, der typische Schwede sei depressiv, niedergeschlagen, finster. "Wir geben gute Mörder ab", sagt Nesser und lacht fröhlich. Dieser Mann ist eindeutig nichts dergleichen.
In Deutschland unterdessen wachse man mit Astrid Lindgren auf und habe daher das Gefühl, Schweden gut zu kennen. Das Land sei einem vertraut, ohne Heimat zu sein. Wenn über diese heile, freundliche Welt dann das Verbrechen hereinbreche, sei die Dramatik entsprechend groß.
"Das Genre an sich ist nicht verkehrt", sagt Nesser und meint zweierlei. Ein Mord erzeuge fast automatisch die Spannung, die eine gute Geschichte ausmache: Was ist passiert? Was wird passieren? Und wo der Tod präsent sei, drängten sich existentielle Fragen nach dem Leben förmlich auf. In den Jahren vor 1998, als Nesser zugleich Lehrer und Autor war, fragten ihn seine Schüler manchmal, worüber er als Nächstes schreiben werde. "Das Leben, den Tod und die Liebe", antwortete er dann. Seine Schüler fanden das gut.
Später ist die Auseinandersetzung mit Gott dazugekommen. Mit dem hatte Inspektor Barbarotti nämlich eine charmante Wette, derzufolge die Existenz des Herrn durch ein Punktesystem bewiesen werden sollte. Håkan Nesser, einst eingefleischter Atheist, sagt heute: "Ich glaube, dass es da oben jemanden gibt, der uns mag." Dieser Sinneswandel geht auf seine zweite Frau zurück, eine Psychiaterin mit deutschen Wurzeln, die zehn Jahre jünger ist als er. Sie habe zwar nicht für die große Liebe seines Kommissars Pate gestanden, so Nesser. Aber ähnlich wie diese habe auch sie einen Glauben.
Die Geschichte von Nessers Kindheit lässt sich ebenfalls aus seinen Büchern herauslesen. Jedenfalls ansatzweise. Zwar geht es nie direkt um den Sohn eines belesenen Bauern, der lieber kein Bauer gewesen wäre. Aber Nessers vielleicht schönste Bücher "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" sowie "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" spielen beide in derselben Gegend und derselben Zeit wie Nessers Jugend, weshalb er sie "autogeographisch" nennt. Natürlich gibt es Ermittler in diesen Romanen und einen Mord - eigentlich aber dreht sich alles um das Gefühl, in einem flirrenden Sommer erwachsen zu werden.
"In einer schwedischen Kleinstadt der fünfziger, sechziger Jahre aufzuwachsen war eine sehr sichere Sache", sagt Nesser, diesmal tatsächlich über sich selbst, und fügt an: "Keine großen Traumata." Dann aber spricht er von dem Geist der Sixties, der aus England herüberwehte, von der Musik, der sexuellen Revolution und von dem pubertären Größenwahn, die gesellschaftliche Entwicklung sei unmittelbar mit dem eigenen Leben verknüpft. Besonders das "Piccadilly"-Buch transportiert dieses Gefühl. So wie dessen Protagonist hat Nesser in den Sommern 1966 und 1967 wochenlang gejobbt, um dann die zweite Hälfte der Ferien in London zu verbringen, Rock-Konzerte besuchend und so sparsam wie möglich lebend, um diesen Glückszustand maximal auszudehnen. Nicht zufällig enthält auch Nessers aktuelles London-Buch etwas von dem aufgekratzten Knistern jener Zeit.
Ein Gang über den Gendarmenmarkt, um Fotos zu machen. Håkan Nesser erzählt, dass er im April einen Monat in Deutschland recherchieren wolle für das Berlin-Buch, das er schon seit Jahren plane - als Abschluss einer Trilogie, nach Romanen, die er in und über New York und eben London schrieb. Gerade seien die ersten fünfzig Seiten fertig geworden. Es gehe darin um einen nicht allzu gescheiten Mann, der sich mit Mitte dreißig aufmache, in Berlin seine verschollene Mutter zu suchen. Und je nachdem, wo genau der Verlag eine Wohnung für ihn finde, werde die Geschichte spielen. Letztlich sei das ohnehin egal. "Der Erzähler lenkt den Leser. Die Geschichte lenkt den Erzähler", heißt es immer wieder auf den Seiten des London-Buchs.
Nehmen wir an, wir würden einen schwedischen Krimiautor erfinden, der auch in diesem Sinne auf höhere Mächte vertraut, wir würden ihn uns als glücklichen Mann vorstellen.
"Himmel über London" ist im btb Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.
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