Freia, die junge Meteorologin aus Berlin, ahnt mehr und mehr, daß es in ihrer ach so normalen Familie nicht nur ein Geheimnis gibt, weswegen vertuscht, gelogen, verdrängt wird. Was immer Freia erfragt oder vermutet, alles scheint 1945 begonnen zu haben - an jenem bitterkalten Morgen im Krieg, als die Großmutter mit Freias Mutter, damals ein Mädchen von fünf Jahren, auf einem der letzten Schiffe aus Westpreußen über die Ostsee fliehen wollte. Freia, die jetzt selbst ein Kind erwartet, muß dieser Geschichte auf den Grund gehen, um sich von der Vergangenheit zu befreien.
Zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Paul wuchs Freia, die junge Wolkenforscherin, in einer ganz "normalen" deutschen Familie in Westberlin auf. Der Vater, Arzt und strahlender Held ihrer Kindheit, die Mutter hingegen schweigsam und seltsam schemenhaft. Wenn die Großeltern zu Besuch kommen, kreisen die Gespräche immer wieder um den Krieg und die Flucht aus Westpreußen. Freia scheint es, als wollten die Großeltern und ihre Mutter etwas verbergen. Jetzt wo Freia selbst ein Kind erwartet, beschließt sie gemeinsam mit Paul die Vergangenheit zu ergründen. Alle ihre Fragen und Vermutungen führen schließlich zu jenem Wintermorgen im Krieg, als die Großmutter mit einem der letzten Schiffe aus Westpreußen fliehen wollte. Warum nahmen sie die "Theodora" und nicht, wie so viele andere, die "Gustloff"?
Zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Paul wuchs Freia, die junge Wolkenforscherin, in einer ganz "normalen" deutschen Familie in Westberlin auf. Der Vater, Arzt und strahlender Held ihrer Kindheit, die Mutter hingegen schweigsam und seltsam schemenhaft. Wenn die Großeltern zu Besuch kommen, kreisen die Gespräche immer wieder um den Krieg und die Flucht aus Westpreußen. Freia scheint es, als wollten die Großeltern und ihre Mutter etwas verbergen. Jetzt wo Freia selbst ein Kind erwartet, beschließt sie gemeinsam mit Paul die Vergangenheit zu ergründen. Alle ihre Fragen und Vermutungen führen schließlich zu jenem Wintermorgen im Krieg, als die Großmutter mit einem der letzten Schiffe aus Westpreußen fliehen wollte. Warum nahmen sie die "Theodora" und nicht, wie so viele andere, die "Gustloff"?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2003Immer Urlaub auf der Krim
Das verpaßte Schiff: Tanja Dückers heuert bei der Historie an
"Was willst du denn, Kind, ausgerechnet in Warschau . . . solltest lieber nach Rom oder Venedig fahren." Unwirsch reagiert "Mäxchen", der Großvater, als seine Enkelin Freia von einem Ausflug auf eigene Faust erzählen will. Im Zweiten Weltkrieg durch die Armee zerstört, der er selber angehörte, scheint Warschau ihm heute keine Reise mehr wert zu sein. Mäxchen kämpfte an der Ostfront, verlor im Krieg ein Bein. Im Januar 1945 gelang erst Frau und Tochter, später auch ihm selbst die Flucht aus Westpreußen. An Freias polnischem Lieblingsonkel Kazimierz läßt er kein gutes Haar: "Drüben bei den Roten Karriere gemacht, immer Urlaub auf der Krim, aber von den deutschen Verwandten Pakete mit Westwaren ordern!" Es scheint noch einen anderen Grund für diese Antipathie zu geben. Kazimierz, ein entferntes Familienmitglied, sprach als einziger offen über die Vergangenheit von Freias Großeltern: Die Flucht in einem Minensuchboot war ihnen nur durch engste Verbindungen zur NSDAP gelungen. Fast wären Mutter und Tochter wie Tausende anderer Flüchtlinge mit der "Wilhelm Gustloff" untergegangen. Doch diese und ähnliche Wahrheiten der eigenen Familiengeschichte erfährt die junge Frau erst beim Tod der Großeltern.
Erzählungen von Krieg und Heimatverlust, wie sie über Jahrzehnte bei Familienzusammenkünften ausgepackt und an die Jüngeren weitergegeben worden sind, bilden den Kern von Tanja Dückers Roman "Himmelskörper". Sie sollen der Grund sein für alle Beziehungsprobleme, Lügen, Auseinandersetzungen und Verhaltensmuster innerhalb einer Bürgersfamilie, der Schlüssel zur Psychologie dreier Generationen. Erzählt wird aus der Perspektive der ehrgeizigen Meteorologin Freia. Sie reist durch die Welt auf der Suche nach bestimmten Wolkenformationen, fotografiert diese und kompiliert einen "Wolkenatlas". Als sie Mutter wird, verspürt sie das Bedürfnis, ihr Verhältnis zur eigenen Familie durchzuarbeiten. In Rückblenden werden prägende Momente einer Siebzigerjahrekindheit in West-Berlin aufgerufen: Haus am Waldrand, Volvo in der Garage, die Krücken des kriegsbeschädigten Großvaters als Spielzeug, ein Vater, der Orthopäde ist, von nächtlichen Begegnungen mit Waldgeistern redet, in Wirklichkeit jedoch fremdgeht, eine oft geistesabwesende Mutter, die viel weiß, wenig spricht, sich schließlich umbringt, und ein Zwillingsbruder namens Paul, mit dem Freia bis zur Pubertät in Symbiose lebt. Später wird er schwul.
Als Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" im Frühjahr 2002 erschien, meldete sich die 1968 geborene Dückers in eigener Sache zu Wort: Sie säße auch gerade an einem Buch "zu dem Thema". "Ihre Generation" sei die erste, die sich - dank zeitlicher und emotionaler Distanz - endlich kritischer mit Krieg und Vertreibung auseinandersetzen und dabei die Rolle der Deutschen als Opfer anerkennen könnte, ohne revisionistisch zu sein. Ihre Wahl des historischen Stoffs überraschte in der Tat, kannte man die Autorin zunächst als vermeintliche Stimme der Berliner Poetry-Slam-Kultur und später als Verfasserin kleinerer Erzählungen von ganz jungen und ganz harmlosen Kneipengängern. Freia und Paul sind etwas älter und kritischer. Sie denken viel über Gefühle nach. Sie sind nicht rechtsradikal, sondern genau so, wie sich Achtundsechziger die Produkte ihrer Erziehung immer gewünscht haben.
Doch was macht diese spannungslos aneinandergereihten Erlebnisse und Gemeinplätze über psychische Kriegsfolgen, etwa die emotionale Verstörtheit der älteren Generation, zu einem Roman? Genügt es, Dinge, von denen jeder schon einmal gehört hat, einfach in ein Narrativ zu bringen? Den Punkt, an dem diese Erlebnisse in überzeugenden literarischen Stoff verwandelt werden, sucht man in "Himmelskörper" vergeblich. Beiläufig wird zwar eine "Borddrucker-Assistentin Dückers" in die Fluchterinnerungen von Freias Großvater eingeführt, die vor lauter Knutschen mit dem Funkmaat das Schiff in Gotenhafen verpaßt. Das ist ein witziger literarischer Kunstgriff, mehr aber auch nicht.
Polen ist das Ziel mehrerer sentimentaler Reisen der Protagonisten. Es soll zu den familiären Wurzeln gehen, doch die Spurensuche ist erwartbar mühsam, denn man kommt in einer fremden Gegenwart an. Um deren Zeichen zu deuten, mangelt es an Wissen und vor allem an Einbildungskraft. "Der Teppich bordeauxfarben mit grünen Blumengirlanden, die Bettdecken in Hellblau, Violett und Rosa gestreift und mit weißen Wellenlinien versehen, die Vorhänge wiederum waren cremefarben mit orangen und hellgrünen Ornamenten. So hatte ich mir einen LSD-Trip vorgestellt", heißt es über das Interieur eines postsozialistischen Hotelzimmers an der Ostsee. Die Fremde bleibt Oberfläche, wahlloses Zitat, ähnlich den Textfragmenten von Witkacy bis Lem, die Dückers' Buch vorangestellt sind. Sie hängen in der Luft wie Wolken - doch anders als die Meteorologin Freia gerät der Leser gar nicht erst in Versuchung, sie zu entziffern.
STEFANIE PETER
Tanja Dückers: "Himmelskörper". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2003. 319 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das verpaßte Schiff: Tanja Dückers heuert bei der Historie an
"Was willst du denn, Kind, ausgerechnet in Warschau . . . solltest lieber nach Rom oder Venedig fahren." Unwirsch reagiert "Mäxchen", der Großvater, als seine Enkelin Freia von einem Ausflug auf eigene Faust erzählen will. Im Zweiten Weltkrieg durch die Armee zerstört, der er selber angehörte, scheint Warschau ihm heute keine Reise mehr wert zu sein. Mäxchen kämpfte an der Ostfront, verlor im Krieg ein Bein. Im Januar 1945 gelang erst Frau und Tochter, später auch ihm selbst die Flucht aus Westpreußen. An Freias polnischem Lieblingsonkel Kazimierz läßt er kein gutes Haar: "Drüben bei den Roten Karriere gemacht, immer Urlaub auf der Krim, aber von den deutschen Verwandten Pakete mit Westwaren ordern!" Es scheint noch einen anderen Grund für diese Antipathie zu geben. Kazimierz, ein entferntes Familienmitglied, sprach als einziger offen über die Vergangenheit von Freias Großeltern: Die Flucht in einem Minensuchboot war ihnen nur durch engste Verbindungen zur NSDAP gelungen. Fast wären Mutter und Tochter wie Tausende anderer Flüchtlinge mit der "Wilhelm Gustloff" untergegangen. Doch diese und ähnliche Wahrheiten der eigenen Familiengeschichte erfährt die junge Frau erst beim Tod der Großeltern.
Erzählungen von Krieg und Heimatverlust, wie sie über Jahrzehnte bei Familienzusammenkünften ausgepackt und an die Jüngeren weitergegeben worden sind, bilden den Kern von Tanja Dückers Roman "Himmelskörper". Sie sollen der Grund sein für alle Beziehungsprobleme, Lügen, Auseinandersetzungen und Verhaltensmuster innerhalb einer Bürgersfamilie, der Schlüssel zur Psychologie dreier Generationen. Erzählt wird aus der Perspektive der ehrgeizigen Meteorologin Freia. Sie reist durch die Welt auf der Suche nach bestimmten Wolkenformationen, fotografiert diese und kompiliert einen "Wolkenatlas". Als sie Mutter wird, verspürt sie das Bedürfnis, ihr Verhältnis zur eigenen Familie durchzuarbeiten. In Rückblenden werden prägende Momente einer Siebzigerjahrekindheit in West-Berlin aufgerufen: Haus am Waldrand, Volvo in der Garage, die Krücken des kriegsbeschädigten Großvaters als Spielzeug, ein Vater, der Orthopäde ist, von nächtlichen Begegnungen mit Waldgeistern redet, in Wirklichkeit jedoch fremdgeht, eine oft geistesabwesende Mutter, die viel weiß, wenig spricht, sich schließlich umbringt, und ein Zwillingsbruder namens Paul, mit dem Freia bis zur Pubertät in Symbiose lebt. Später wird er schwul.
Als Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" im Frühjahr 2002 erschien, meldete sich die 1968 geborene Dückers in eigener Sache zu Wort: Sie säße auch gerade an einem Buch "zu dem Thema". "Ihre Generation" sei die erste, die sich - dank zeitlicher und emotionaler Distanz - endlich kritischer mit Krieg und Vertreibung auseinandersetzen und dabei die Rolle der Deutschen als Opfer anerkennen könnte, ohne revisionistisch zu sein. Ihre Wahl des historischen Stoffs überraschte in der Tat, kannte man die Autorin zunächst als vermeintliche Stimme der Berliner Poetry-Slam-Kultur und später als Verfasserin kleinerer Erzählungen von ganz jungen und ganz harmlosen Kneipengängern. Freia und Paul sind etwas älter und kritischer. Sie denken viel über Gefühle nach. Sie sind nicht rechtsradikal, sondern genau so, wie sich Achtundsechziger die Produkte ihrer Erziehung immer gewünscht haben.
Doch was macht diese spannungslos aneinandergereihten Erlebnisse und Gemeinplätze über psychische Kriegsfolgen, etwa die emotionale Verstörtheit der älteren Generation, zu einem Roman? Genügt es, Dinge, von denen jeder schon einmal gehört hat, einfach in ein Narrativ zu bringen? Den Punkt, an dem diese Erlebnisse in überzeugenden literarischen Stoff verwandelt werden, sucht man in "Himmelskörper" vergeblich. Beiläufig wird zwar eine "Borddrucker-Assistentin Dückers" in die Fluchterinnerungen von Freias Großvater eingeführt, die vor lauter Knutschen mit dem Funkmaat das Schiff in Gotenhafen verpaßt. Das ist ein witziger literarischer Kunstgriff, mehr aber auch nicht.
Polen ist das Ziel mehrerer sentimentaler Reisen der Protagonisten. Es soll zu den familiären Wurzeln gehen, doch die Spurensuche ist erwartbar mühsam, denn man kommt in einer fremden Gegenwart an. Um deren Zeichen zu deuten, mangelt es an Wissen und vor allem an Einbildungskraft. "Der Teppich bordeauxfarben mit grünen Blumengirlanden, die Bettdecken in Hellblau, Violett und Rosa gestreift und mit weißen Wellenlinien versehen, die Vorhänge wiederum waren cremefarben mit orangen und hellgrünen Ornamenten. So hatte ich mir einen LSD-Trip vorgestellt", heißt es über das Interieur eines postsozialistischen Hotelzimmers an der Ostsee. Die Fremde bleibt Oberfläche, wahlloses Zitat, ähnlich den Textfragmenten von Witkacy bis Lem, die Dückers' Buch vorangestellt sind. Sie hängen in der Luft wie Wolken - doch anders als die Meteorologin Freia gerät der Leser gar nicht erst in Versuchung, sie zu entziffern.
STEFANIE PETER
Tanja Dückers: "Himmelskörper". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2003. 319 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2004Opas Mitgliedsnummer
„Himmelskörper”: Tanja Dückers betreibt Familiengeschichte
Es gehört zu den typischen Erfahrungen der heute Dreißig- bis Vierzigjährigen die Wohnung der verstorbenen Großeltern auflösen zu müssen, auf dem Weg der vertrauten Gerüche in die seligen Tiefen der Kindheit zurückzusinken – und unvermittelt auf eine Kiste mit Fotos, Briefen, Dokumenten zu stoßen, die Fragezeichen hinter das allseits gepflegte Familienbild setzen: Der liebevolle Großvater als NSDAPler mit hohem Parteiamt und niedriger Mitgliedsnummer? Die treusorgende Großmutter als flammende Gratulantin zu Hermann Görings Vaterfreuden? Die links-alternative Mutter als streng frisiertes BDM-Mädchen?
„Lass uns doch all das aufschreiben”, schlägt Freia, die Erzählerin von Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”, ihrem Zwillingsbruder nach so einer Wohnungsräumung vor, „dann brauchen wir später nichts außer diesem Buch . . . zu verwahren, keine Kisten, Briefe, Souvenirs”. Literatur als Geschichtsspeicher? In einem Interview sagte Tanja Dückers: „Meine Generation ist die erste, die einen nüchternen Blick auf dieses Thema (den Nationalsozialismus) wagen kann.” Einsicht in die Historie als natürliche Gabe der späten Geburt?
Glatte Oberflächen
Vor allem die Enkel der Tätergeneration neigen dazu, ihre Großväter und Großmütter in einem besseren Licht zu sehen, als deren eigene Erzählungen über die Vergangenheit nahelegen, lautet das Ergebnis einer renommierten wissenschaftlichen Studie mit dem sprechenden Titel „Mein Opa war kein Nazi”. Trotz umfangreichen Wissens über die dunkle deutsche Vergangenheit, so die Forscher, gebe es eine systematische Neigung, auf den geliebten Großvater, die verehrte Großmutter kein schlechtes Licht fallen zu lassen. Obwohl Tanja Dückers solchen Behauptungen entgegen wirken möchte, indem sie die Erzählerin ihres Romans mit Skepsis gegenüber den glatten Oberflächen des Familiengedächtnisses ausstattet, wird der zitierte Befund durch die Machart des Romans dennoch bestätigt. „Himmelskörper” plaudert so sorglos vor sich hin, dass Fragen zur politischen Vergangenheit weniger enthüllt als eingelullt werden.
Freia erwartet ein Kind. In langen Rückblenden erinnert sie ihre eigenen Kindheits- und Jugendjahre, leuchtet die familiäre Konstellation ihres Lebens aus. Auf wechselnden Zeitebenen reflektiert sie über die Eltern, den Bruder, Verwandte, über Kinderträume und pubertäre Selbstfindungssorgen, und nicht zuletzt über die wechselhaften Gestalten am Himmel: Freia ist Meteorologin und arbeitet an einem Wolken-Almanach.
Ein Brennpunkt der Rückblenden ist die geheimnisvolle Flucht der Mutter und der Großeltern aus Königsberg. Eigentlich sollten sie das später von russischen Torpedos versenkte KdF-Schiff „Wilhelm Gustloff” besteigen. Im letzten Moment fanden sie jedoch Platz auf einem Minensuchboot der NS-Marine, das einen sichereren Weg fuhr. War es göttliche oder teuflische Fügung, die ihnen das Leben rettete und Tausende andere beim Untergang der „Gustloff” sterben ließ? Unzählige Zwischenspiele steigern die Erwartung auf die letztlich schlichte Antwort: die Großeltern waren parteitreu und die damals vierjährige Mutter der Erzählerin reckte im rechten Moment den Arm zum Hitlergruß, woraufhin die nebenstehende Familie auf die „Gustloff” verwiesen wurde. Dass die Mutter sich wegen dieser „persönlichen Verstrickung” fünfzig Jahre später das Leben nimmt, wirkt konstruiert.
Dückers’ Roman enthält gute Einfälle, bildhafte Ausgangspunkte für Geschichten. Den Stumpf am amputierten Bein des Großvaters zum Beispiel reiben Freia und Paul viele Kindheitsjahre lang liebevoll und arglos mit Ringelblumensalbe ein – irgendwann beginnen sie zu fragen, wo der Rest des Beins geblieben ist. Oder Freias erste große Liebe, der zwei Jahre ältere Wieland verliebt sich eines Tages in ihren Zwillingsbruder Paul – und Freia ist zerrissen zwischen zwei Menschen, mit denen sie sich körperlich eins fühlt. Es bleibt jedoch meist beim guten Einfall, die Ideen lösen sich nicht, kommen nicht ins Erzählen.
Charakteristisch für Tanja Dückers’ erfolgreiche Prosabücher „Spielzone” (1999) und „Café Brazil” (2001) über das bunte Berliner Szenetreiben ist ihr unbekümmerter Ton, den manche als Ausdruck einer zeittypischen Stimmung der Apathie interpretierten. Als sei der Stoff derselbe und sie die literarische Pionierin seiner Beschreibung, erzählt Dückers nun in „Himmelskörper” mit ebenso unbedarft-beschaulichem Gestus von Nationalsozialismus und Flucht, kippt Recherchematerial gestaltlos in seitenlange Dialoge und löst „das Unfassbare” in nebulöse Weisheiten ihrer Wolkenforscherin auf. „Wann ist etwas durchscheinend, durchsichtig unsichtbar? Wie verhält sich das Unsichtbare zum Nicht-Vorhandenen?”, sinniert Freia und lässt den Leser erkennen: „Ich fragte mich vieles.”
THOMAS WILD
TANJA DÜCKERS: Himmelskörper. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2003. 319 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
„Himmelskörper”: Tanja Dückers betreibt Familiengeschichte
Es gehört zu den typischen Erfahrungen der heute Dreißig- bis Vierzigjährigen die Wohnung der verstorbenen Großeltern auflösen zu müssen, auf dem Weg der vertrauten Gerüche in die seligen Tiefen der Kindheit zurückzusinken – und unvermittelt auf eine Kiste mit Fotos, Briefen, Dokumenten zu stoßen, die Fragezeichen hinter das allseits gepflegte Familienbild setzen: Der liebevolle Großvater als NSDAPler mit hohem Parteiamt und niedriger Mitgliedsnummer? Die treusorgende Großmutter als flammende Gratulantin zu Hermann Görings Vaterfreuden? Die links-alternative Mutter als streng frisiertes BDM-Mädchen?
„Lass uns doch all das aufschreiben”, schlägt Freia, die Erzählerin von Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”, ihrem Zwillingsbruder nach so einer Wohnungsräumung vor, „dann brauchen wir später nichts außer diesem Buch . . . zu verwahren, keine Kisten, Briefe, Souvenirs”. Literatur als Geschichtsspeicher? In einem Interview sagte Tanja Dückers: „Meine Generation ist die erste, die einen nüchternen Blick auf dieses Thema (den Nationalsozialismus) wagen kann.” Einsicht in die Historie als natürliche Gabe der späten Geburt?
Glatte Oberflächen
Vor allem die Enkel der Tätergeneration neigen dazu, ihre Großväter und Großmütter in einem besseren Licht zu sehen, als deren eigene Erzählungen über die Vergangenheit nahelegen, lautet das Ergebnis einer renommierten wissenschaftlichen Studie mit dem sprechenden Titel „Mein Opa war kein Nazi”. Trotz umfangreichen Wissens über die dunkle deutsche Vergangenheit, so die Forscher, gebe es eine systematische Neigung, auf den geliebten Großvater, die verehrte Großmutter kein schlechtes Licht fallen zu lassen. Obwohl Tanja Dückers solchen Behauptungen entgegen wirken möchte, indem sie die Erzählerin ihres Romans mit Skepsis gegenüber den glatten Oberflächen des Familiengedächtnisses ausstattet, wird der zitierte Befund durch die Machart des Romans dennoch bestätigt. „Himmelskörper” plaudert so sorglos vor sich hin, dass Fragen zur politischen Vergangenheit weniger enthüllt als eingelullt werden.
Freia erwartet ein Kind. In langen Rückblenden erinnert sie ihre eigenen Kindheits- und Jugendjahre, leuchtet die familiäre Konstellation ihres Lebens aus. Auf wechselnden Zeitebenen reflektiert sie über die Eltern, den Bruder, Verwandte, über Kinderträume und pubertäre Selbstfindungssorgen, und nicht zuletzt über die wechselhaften Gestalten am Himmel: Freia ist Meteorologin und arbeitet an einem Wolken-Almanach.
Ein Brennpunkt der Rückblenden ist die geheimnisvolle Flucht der Mutter und der Großeltern aus Königsberg. Eigentlich sollten sie das später von russischen Torpedos versenkte KdF-Schiff „Wilhelm Gustloff” besteigen. Im letzten Moment fanden sie jedoch Platz auf einem Minensuchboot der NS-Marine, das einen sichereren Weg fuhr. War es göttliche oder teuflische Fügung, die ihnen das Leben rettete und Tausende andere beim Untergang der „Gustloff” sterben ließ? Unzählige Zwischenspiele steigern die Erwartung auf die letztlich schlichte Antwort: die Großeltern waren parteitreu und die damals vierjährige Mutter der Erzählerin reckte im rechten Moment den Arm zum Hitlergruß, woraufhin die nebenstehende Familie auf die „Gustloff” verwiesen wurde. Dass die Mutter sich wegen dieser „persönlichen Verstrickung” fünfzig Jahre später das Leben nimmt, wirkt konstruiert.
Dückers’ Roman enthält gute Einfälle, bildhafte Ausgangspunkte für Geschichten. Den Stumpf am amputierten Bein des Großvaters zum Beispiel reiben Freia und Paul viele Kindheitsjahre lang liebevoll und arglos mit Ringelblumensalbe ein – irgendwann beginnen sie zu fragen, wo der Rest des Beins geblieben ist. Oder Freias erste große Liebe, der zwei Jahre ältere Wieland verliebt sich eines Tages in ihren Zwillingsbruder Paul – und Freia ist zerrissen zwischen zwei Menschen, mit denen sie sich körperlich eins fühlt. Es bleibt jedoch meist beim guten Einfall, die Ideen lösen sich nicht, kommen nicht ins Erzählen.
Charakteristisch für Tanja Dückers’ erfolgreiche Prosabücher „Spielzone” (1999) und „Café Brazil” (2001) über das bunte Berliner Szenetreiben ist ihr unbekümmerter Ton, den manche als Ausdruck einer zeittypischen Stimmung der Apathie interpretierten. Als sei der Stoff derselbe und sie die literarische Pionierin seiner Beschreibung, erzählt Dückers nun in „Himmelskörper” mit ebenso unbedarft-beschaulichem Gestus von Nationalsozialismus und Flucht, kippt Recherchematerial gestaltlos in seitenlange Dialoge und löst „das Unfassbare” in nebulöse Weisheiten ihrer Wolkenforscherin auf. „Wann ist etwas durchscheinend, durchsichtig unsichtbar? Wie verhält sich das Unsichtbare zum Nicht-Vorhandenen?”, sinniert Freia und lässt den Leser erkennen: „Ich fragte mich vieles.”
THOMAS WILD
TANJA DÜCKERS: Himmelskörper. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2003. 319 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als in Ansätzen gut, aber gescheitert, beurteilt Thomas Wild den Roman und rückt ihn in die Reihe der Versuche familiärer Geschichtsbewältigung, die trotz nationalsozialistischer Vergangenheit kein schlechtes Licht auf die Großeltern fallen lassen. Zwar bemühe sich Dückers, diesem Verdacht entgegenzuwirken. Die Erzählerin - eine Meteorologin, die an einem Wolkenalmanach arbeitet - sei immerhin zweiflerisch genug. Doch "die Machart des Romans" lasse eine "systematische Neigung" erkennen, die "Tätergeneration" zu schonen, "indem Fragen zur politischen Vergangenheit weniger enthüllt" werden, als vielmehr die Leser mit ihnen "eingelullt". Schuld daran sei ihr sorgloser Plauderton und der "unbedarft-beschauliche Gestus", mit dem Dückers ihr Recherchematerial "gestaltlos" in seitenlange Dialoge kippe, so Wild. Ab und zu findet der Rezensent "bildhafte Ausgangspunkte für Geschichten", doch gelinge es Dückers meist nicht, sie zu einer Erzählung zu entwickeln - und wenn doch, scheint es konstruiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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