Tanja Dückers ist mit ihrem Roman mehr als ein vielschichtiges Familienporträt gelungen: Je älter Freia wird, desto stärker ahnt sie, daß es in ihrer Familie nicht nur ein Geheimnis gibt, weswegen gelogen und verdrängt wird. Was immer sie auch erfährt, alles scheint an jenem bitterkalten Morgen im Krieg begonnen zu haben, als die Großmutter mit einem der letzten Schiffe aus Westpreußen fliehen wollte. "... daß jetzt die Enkel anfangen zu fragen, das hat mich gefreut." Christa Wolf
Das verpaßte Schiff: Tanja Dückers heuert bei der Historie an
"Was willst du denn, Kind, ausgerechnet in Warschau . . . solltest lieber nach Rom oder Venedig fahren." Unwirsch reagiert "Mäxchen", der Großvater, als seine Enkelin Freia von einem Ausflug auf eigene Faust erzählen will. Im Zweiten Weltkrieg durch die Armee zerstört, der er selber angehörte, scheint Warschau ihm heute keine Reise mehr wert zu sein. Mäxchen kämpfte an der Ostfront, verlor im Krieg ein Bein. Im Januar 1945 gelang erst Frau und Tochter, später auch ihm selbst die Flucht aus Westpreußen. An Freias polnischem Lieblingsonkel Kazimierz läßt er kein gutes Haar: "Drüben bei den Roten Karriere gemacht, immer Urlaub auf der Krim, aber von den deutschen Verwandten Pakete mit Westwaren ordern!" Es scheint noch einen anderen Grund für diese Antipathie zu geben. Kazimierz, ein entferntes Familienmitglied, sprach als einziger offen über die Vergangenheit von Freias Großeltern: Die Flucht in einem Minensuchboot war ihnen nur durch engste Verbindungen zur NSDAP gelungen. Fast wären Mutter und Tochter wie Tausende anderer Flüchtlinge mit der "Wilhelm Gustloff" untergegangen. Doch diese und ähnliche Wahrheiten der eigenen Familiengeschichte erfährt die junge Frau erst beim Tod der Großeltern.
Erzählungen von Krieg und Heimatverlust, wie sie über Jahrzehnte bei Familienzusammenkünften ausgepackt und an die Jüngeren weitergegeben worden sind, bilden den Kern von Tanja Dückers Roman "Himmelskörper". Sie sollen der Grund sein für alle Beziehungsprobleme, Lügen, Auseinandersetzungen und Verhaltensmuster innerhalb einer Bürgersfamilie, der Schlüssel zur Psychologie dreier Generationen. Erzählt wird aus der Perspektive der ehrgeizigen Meteorologin Freia. Sie reist durch die Welt auf der Suche nach bestimmten Wolkenformationen, fotografiert diese und kompiliert einen "Wolkenatlas". Als sie Mutter wird, verspürt sie das Bedürfnis, ihr Verhältnis zur eigenen Familie durchzuarbeiten. In Rückblenden werden prägende Momente einer Siebzigerjahrekindheit in West-Berlin aufgerufen: Haus am Waldrand, Volvo in der Garage, die Krücken des kriegsbeschädigten Großvaters als Spielzeug, ein Vater, der Orthopäde ist, von nächtlichen Begegnungen mit Waldgeistern redet, in Wirklichkeit jedoch fremdgeht, eine oft geistesabwesende Mutter, die viel weiß, wenig spricht, sich schließlich umbringt, und ein Zwillingsbruder namens Paul, mit dem Freia bis zur Pubertät in Symbiose lebt. Später wird er schwul.
Als Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" im Frühjahr 2002 erschien, meldete sich die 1968 geborene Dückers in eigener Sache zu Wort: Sie säße auch gerade an einem Buch "zu dem Thema". "Ihre Generation" sei die erste, die sich - dank zeitlicher und emotionaler Distanz - endlich kritischer mit Krieg und Vertreibung auseinandersetzen und dabei die Rolle der Deutschen als Opfer anerkennen könnte, ohne revisionistisch zu sein. Ihre Wahl des historischen Stoffs überraschte in der Tat, kannte man die Autorin zunächst als vermeintliche Stimme der Berliner Poetry-Slam-Kultur und später als Verfasserin kleinerer Erzählungen von ganz jungen und ganz harmlosen Kneipengängern. Freia und Paul sind etwas älter und kritischer. Sie denken viel über Gefühle nach. Sie sind nicht rechtsradikal, sondern genau so, wie sich Achtundsechziger die Produkte ihrer Erziehung immer gewünscht haben.
Doch was macht diese spannungslos aneinandergereihten Erlebnisse und Gemeinplätze über psychische Kriegsfolgen, etwa die emotionale Verstörtheit der älteren Generation, zu einem Roman? Genügt es, Dinge, von denen jeder schon einmal gehört hat, einfach in ein Narrativ zu bringen? Den Punkt, an dem diese Erlebnisse in überzeugenden literarischen Stoff verwandelt werden, sucht man in "Himmelskörper" vergeblich. Beiläufig wird zwar eine "Borddrucker-Assistentin Dückers" in die Fluchterinnerungen von Freias Großvater eingeführt, die vor lauter Knutschen mit dem Funkmaat das Schiff in Gotenhafen verpaßt. Das ist ein witziger literarischer Kunstgriff, mehr aber auch nicht.
Polen ist das Ziel mehrerer sentimentaler Reisen der Protagonisten. Es soll zu den familiären Wurzeln gehen, doch die Spurensuche ist erwartbar mühsam, denn man kommt in einer fremden Gegenwart an. Um deren Zeichen zu deuten, mangelt es an Wissen und vor allem an Einbildungskraft. "Der Teppich bordeauxfarben mit grünen Blumengirlanden, die Bettdecken in Hellblau, Violett und Rosa gestreift und mit weißen Wellenlinien versehen, die Vorhänge wiederum waren cremefarben mit orangen und hellgrünen Ornamenten. So hatte ich mir einen LSD-Trip vorgestellt", heißt es über das Interieur eines postsozialistischen Hotelzimmers an der Ostsee. Die Fremde bleibt Oberfläche, wahlloses Zitat, ähnlich den Textfragmenten von Witkacy bis Lem, die Dückers' Buch vorangestellt sind. Sie hängen in der Luft wie Wolken - doch anders als die Meteorologin Freia gerät der Leser gar nicht erst in Versuchung, sie zu entziffern.
STEFANIE PETER
Tanja Dückers: "Himmelskörper". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2003. 319 S., geb., 16,90 [Euro].
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