Produktdetails
- Verlag: Verlag der Kunst Amsterdam
- ISBN-13: 9789057050022
- ISBN-10: 9057050021
- Artikelnr.: 24156264
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Das jüngste Gerücht
Aaron Gurjewitsch hört Volkes Stimme in den Beispielen mittelalterlicher Prediger / Von Johannes Fried
Da saß ein reicher Pariser Student müßig am Fenster, als er ein Liedchen hörte. "Die Zeit geht, und ich hab' nix getan. Die Zeit kommt, und ich tu' weiter nix." Der Song gefiel ihm; er kam ins Grübeln. Ob Gott ihm eine Botschaft sandte? Der Gedanke verwandelte sein Innerstes. Bald veräußerte er, was er besaß, und wurde Mönch im Bettelorden des Dominicus.
Geschichten dieser Art, verfaßt, gesammelt, als Beispiele aufbereitet zum Gebrauch für mittelalterliche Prediger, haben es seit einiger Zeit Historikern angetan. Aaron Gurjewitsch möchte die Exempel systematisch daraufhin auswerten, welches Bewußtsein der Menschen von sich selbst, welche Grundvorstellungen von Welt und Gott, welches Weltbild sie spiegelten. Prediger und Volk, Gelehrte und Unwissende begegneten in diesen Exempeln einander, die "himmlisches und irdisches Leben" vereinten und sich dazu eines speziellen "Chronotops" bedienten, wie Gurjewitsch es nennt, nämlich Zeit und Raum ineinanderführten und "in der Dauer eines Lidschlages eine radikale Transformation der Welt vor sich" gehen ließen. Doch ein gewisser "Realismus", zumindest "subjektiver Realismus", könne ihnen nicht abgesprochen werden. Tummle sich in den Exempeln doch neben dem musikalischen Studenten auch jener Trunkenbold, der, statt sterbend die Beichtformel zu sprechen, nur noch "Ein gutes Bier!" zu lallen vermochte.
Gurjewitsch erkennt in diesen Texten eine eigene Denkform und betrachtet sie in Abgrenzung von der Renaissancenovelle als eine spezielle Literaturgattung, der "Popularität" attestiert werden dürfe. "Schärfe der Beobachtung" und "Unverfälschtheit des Dargestellten" paarten sich in den Exempeln und machten für den modernen Geschichtsforscher ihren Wert aus. Alles in allem stellten sie, so die Grundthese des 1985 geschriebenen und 1989 auf russisch erschienenen Buches, "eine unmittelbare Verkörperung gesellschaftlichen Bewußtseins" dar, "kleinste, gewissermaßen ,atomare' Einheiten des Bewußtseins".
Auch subtile Sachverhalte kamen zur Sprache. Da ließ eine junge Witwe ihr Söhnchen, noch als es herangewachsen war, bei sich im Bette schlafen. So wurde sie schwanger. Der Teufel freute sich ob der inzestuösen Seele, fürchtete aber, die Frau könnte durch die Beichte ihre Schuld tilgen, und klagte sie beim Kaiser an. Niemand wagte, ihr dort beizustehen. Die Mutter aber flehte in ihrer Not zur Jungfrau Maria, beichtete, und siehe, die Gottesmutter erbarmte sich der frommen Sünderin. Sogleich verstummte der Teufel, begann am ganzen Leib zu zittern und aufzuheulen: "Da kommt die Jungfrau Maria . . ." So wurde die Witwe dank der Beichte und mit Hilfe der allerheiligsten Jungfrau vor Ehrlosigkeit bewahrt.
Das dreizehnte Jahrhundert liebte derartige Predigtmärlein. Frankreich, England, Deutschland, Italien wetteiferten in ihrer Niederschrift. Umfangreiche Sammlungen wurden angelegt, alle einander ähnlich.
Jacques de Vitry, Caesarius von Heisterbach, Etienne de Bourbon oder John of Bromyard heißen ihre bekanntesten Autoren. Vier Exempel-Typen lassen sich unterscheiden: Auszüge aus älteren Texten, Anekdoten aus dem Leben der Gegenwart, Sagen und Tierfabeln. Zumal der zweite Typ hat es Gurjewitsch angetan.
Tote und Lebende trafen sich in den Exempeln, die "letzten Dinge" wurden erörtert, die Fortexistenz der erwählten und verdammten Seelen nach dem irdischen Tod, die Qualen des Fegefeuers, das Jüngste Gericht. "Die Religion der Schuld" forderte ihren Tribut. Angst wurde geschürt, Linderung verhießen. Vor Ketzerei wurde gewarnt, der Judenhaß wurde angeheizt. Faßbar wird auch die Sexualfeindlichkeit des Christentums, die Frauenangst bewirkte und Frauenfeindlichkeit produzierte in dieser "Zivilisation der Männer", die Mönche waren. Die bekannten Muster des geldgierigen Kaufmanns, des rechtsverdrehenden Juristen, des hostienfrevelnden Juden, der unkeuschen Nonne und entsprechender Typen mehr durften nicht fehlen.
Gurjewitsch sieht diese Exempel als repräsentativ an, ähnlich wie Demoskopen heutzutage bei ihren Umfragen. Damit sind Grenzen der Untersuchbarkeit angedeutet. Die erhaltenen Antworten sind abhängig von der Auswahl der Befragten und der Art, wie die Fragen formuliert werden. Der Unterschied zwischen mittelalterlicher und heutiger Demoskopie besteht im Grad der Bewußtheit derartiger Abhängigkeit und entsprechender Maßnahmen, sie auszugleichen. Die Befragten der mittelalterlichen Exempel aber schmelzen rasch zusammen. Bloß ein Drittel seiner Texte möchte Gurjewitsch als dem Leben abgelauscht erklären. Der Rest war Lesefrucht gelehrter Kleriker, aufbereitete Literatur.
Doch auch jenes Drittel birgt mehr Gelehrsamkeit als Lebenswelt. Befragt wurde niemand. Gleichwohl war alles wahr und wirklich. Glaubwürdigste Zeugen konnten namhaft gemacht werden und wurden es auch, um diese Wahrheit zu bestätigen: der ferne Abt oder Bischof, der eben verstorbene Pfarrer, der Exempelerzähler gar selbst. Gerade so, wie in der Geschichte von jenem Johannes, zu dem sich der Weggefährte Peter gesellte, der ihn zu einem Gutshof führte, dessen Herr und Herrin ihn aufs köstlichste bewirteten. Johannes sollte davon seinem Freund Jacques de Vitry, dem Erzähler, berichten. So weit, so gut. Nur: "Peter" war der Apostel, und "Herr" und "Herrin" waren Christus und Maria.
Wessen Glaubenswelten waren das? Diejenigen eines schon glaubenden Volkes?
Eines noch zu erziehenden Volkes? Der Prediger und ihrer Lehrer? Leuchteten nur Reflexe jener Projektionen von Juristen und Theologen auf, die sie beim Volk hervorzurufen wünschten: das Lob des Predigerordens, die heilende Wirkung der Beichte, die Erquickung durch Gott? Gurjewitsch setzt methodisch auf die Erfolgsabsicht der Prediger, die ihre Hörer nur dann hätten packen können, wenn sie ihnen aufs Maul schauten. Taten sie es? Und wem?
Im Falle der Beichte etwa galt es, den eben vom vierten Laterankonzil (1215) verfügten einmaligen Beichtgang pro Jahr durchzusetzen. Juristen und Theologen wußten Sünden mit Wunden und Sünder mit Kranken gleichzusetzen, die der Heilung bedürften. Sie arbeiteten umfangreiche Beichtsummen aus, um behutsam und bedacht derartigen Krankheiten zu Leibe zu rücken. Die Beichtkinder aber? Die strenge Strafandrohung jenes Konzils - wer nicht beichtet, "wird von der Kirche ausgeschlossen" - läßt kein hohes Krankheitsbewußtsein und Heilungsbedürfnis im Volk erwarten. Dennoch sollte es die Regelmäßigkeit der Beichte akzeptieren. So wurde ihre Wirkung gepriesen; selbst Inzest mache sie ungeschehen. Erwartung und Bedürfnis des Volkes? Religiöse Disziplinierung durch Prediger? Die Antwort, die Gurjewitsch bietet, folgt einem zu einfachen Ursache-Wirkung-Schema, wie sie überhaupt ohne Einsichtnahme in tatsächlich gehaltene Predigten oder ganze Predigtmuster formuliert worden zu sein scheint.
Die zentralen Abschnitte über die ",große' und ,kleine' Eschatologie", das berühmte Gerichtstympanon von St. Lazaire in Autun sowie "Die Geburt des Fegefeuers" verdeutlichen es. Gurjewitsch entwickelt hier seine für die Beurteilung jener Exempel entscheidende These: Das Jüngste Gericht sei von den Exemplisten angststeigernd, doch den Bedürfnissen des Volkes folgend, aus einer fernen Zukunft in die Gegenwart und an das Totenlager jedes einzelnen Menschen verlegt worden, weil die ökonomischen und politischen Umbrüche der Zeit tiefste sozialpsychische Irritation zumal in der Stadtgesellschaft bewirkt hätten. Der dogmatisch unsaubere und allem Rationalismus der Scholastik entgegengesetzte Vorgang gebe somit Einblick "in die Sphären des Unbewußten mit seiner spezifischen Logik", in die volksreligiöse Schöpferkraft des kollektiven Unbewußten der Epoche.
Daß dies falsch ist, läßt sich zeigen. Zwei Kontaminationen führen Gurjewitsch zu seinen Folgerungen. Zunächst wird das "persönliche Gericht", dem nach kirchlicher Lehre jeder Mensch gleich nach seinem Tod ausgesetzt ist, mit dem allgemeinen "Jüngsten Gericht" am Ende der Zeiten mehr oder weniger gleichgesetzt. Das geschieht, obwohl die patristische Tradition seit Augustinus und Gregor dem Großen die lebensgemäß differenzierte Behandlung der Seelen nach dem Tode lehrte und sie durchaus vom Jüngsten Gericht zu unterscheiden wußte und obwohl die Gelehrten seit Anselm von Canterbury, Richard von St. Victor und Thomas von Aquin die beiden Gerichte erörterten, sie dazu begrifflich und sachlich immer schärfer zu trennen wußten und dabei auch die Lehre vom doppelten Gericht - nach dem Tod und am Ende der Zeiten - etablierten. Auf beides geht Gurjewitsch nicht ein und attestiert so erst dem vierzehnten Jahrhundert, was tatsächlich schon längst verbreitet war. Das angebliche Produkt der Volkspsyche war bloß die Umsetzung theologischer Lehren in Märlein für das Volk. Welche Elemente dieser Gerichtsexempel der Psyche des Volkes entstiegen, bleibt völlig ungeklärt.
Entsprechend ist es um das "Fegefeuer" bestellt. Auch in seinem Fall kontaminiert Gurjewitsch zwei zu trennende Phänomene: das altbekannte, in vielen antiken Religionen und auch im frühen Christentum lodernde "Reinigungsfeuer" nämlich mit dem "dritten Ort" des Jenseits, dem "Purgatorium", das irgendwo zwischen "Paradies" und "Hölle" angesiedelt wurde. Nur diese Lokalisierung weckte Unsicherheit; denn sie wurde jetzt erst unter den Theologen als Problem erkannt. Fragen nach dem Ort aber sind kategoriale Fragen, Folgen der Einübung der aristotelischen Kategorienlehre, nicht Bedürfnisse des Volkes. So ist denn auch bezeichnend, daß bei Caesarius nicht das Exempel selbst, sondern der das Exempel erörternde Schüler seinen Lehrer nach dem genauen Ort des Purgatoriums befragt. Das gläubige Volk hatte die Flammen zu fürchten; wo sie loderten, konnte ihm einerlei sein. Wenn hier sozialer "Umbruch" eine Rolle spielte, dann war es die Zunahme der Gelehrten, auch der Durchbruch zu einer Rationalität, die nach logischer Klärung noch der dunkelsten Seiten des Glaubens verlangte, nicht Spekulationslust eines ungeschulten Volkes, gar Artikulation seiner unbewußtesten Psyche.
Die hier vorgebrachte Kritik will keinesfalls die Bedeutung des vorliegenden Buches schmälern, dessen Erzählkunst durch die Übersetzung nichts eingebüßt hat. Es war unter forschungswidrigen Bedingungen geschrieben worden, was dem Autor zugute zu halten ist. Sein eigentliches Verdienst aber ist, sich einem Gegenstand zuzuwenden, der allzu lange vernachlässigt wurde, und Quellen zu erschließen, die unberechtigterweise als suspekt galten. Gurjewitsch bringt sie zum Sprechen, öffnet den Blick und den Sinn für eine Zusammenschau von Wissen und Glauben, wie sie dem Mittelalter angemessen ist, für das Zusammenwirken von Gelehrten und Volk, für eine Bild und Text, Exempel und wissenschaftliche Traktate beachtende historische Medienkunde. Die Kritik einzelner Ergebnisse fällt daneben wenig ins Gewicht, auch wenn sie notwendig ist. Sie bedient sich nicht zuletzt der von Gurjewitsch gewiesenen Methoden, bleibt ihm also verpflichtet, gerade auch dort, wo sie ihm nicht folgt.
Aaron J. Gurjewitsch: "Himmlisches und irdisches Leben". Bildwelten des schriftlosen Menschen im 13. Jahrhundert. Die Exempel. Aus dem Russischen von Erhard Glier. Verlag der Kunst, Dresden 1997. 512 S., Abb., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aaron Gurjewitsch hört Volkes Stimme in den Beispielen mittelalterlicher Prediger / Von Johannes Fried
Da saß ein reicher Pariser Student müßig am Fenster, als er ein Liedchen hörte. "Die Zeit geht, und ich hab' nix getan. Die Zeit kommt, und ich tu' weiter nix." Der Song gefiel ihm; er kam ins Grübeln. Ob Gott ihm eine Botschaft sandte? Der Gedanke verwandelte sein Innerstes. Bald veräußerte er, was er besaß, und wurde Mönch im Bettelorden des Dominicus.
Geschichten dieser Art, verfaßt, gesammelt, als Beispiele aufbereitet zum Gebrauch für mittelalterliche Prediger, haben es seit einiger Zeit Historikern angetan. Aaron Gurjewitsch möchte die Exempel systematisch daraufhin auswerten, welches Bewußtsein der Menschen von sich selbst, welche Grundvorstellungen von Welt und Gott, welches Weltbild sie spiegelten. Prediger und Volk, Gelehrte und Unwissende begegneten in diesen Exempeln einander, die "himmlisches und irdisches Leben" vereinten und sich dazu eines speziellen "Chronotops" bedienten, wie Gurjewitsch es nennt, nämlich Zeit und Raum ineinanderführten und "in der Dauer eines Lidschlages eine radikale Transformation der Welt vor sich" gehen ließen. Doch ein gewisser "Realismus", zumindest "subjektiver Realismus", könne ihnen nicht abgesprochen werden. Tummle sich in den Exempeln doch neben dem musikalischen Studenten auch jener Trunkenbold, der, statt sterbend die Beichtformel zu sprechen, nur noch "Ein gutes Bier!" zu lallen vermochte.
Gurjewitsch erkennt in diesen Texten eine eigene Denkform und betrachtet sie in Abgrenzung von der Renaissancenovelle als eine spezielle Literaturgattung, der "Popularität" attestiert werden dürfe. "Schärfe der Beobachtung" und "Unverfälschtheit des Dargestellten" paarten sich in den Exempeln und machten für den modernen Geschichtsforscher ihren Wert aus. Alles in allem stellten sie, so die Grundthese des 1985 geschriebenen und 1989 auf russisch erschienenen Buches, "eine unmittelbare Verkörperung gesellschaftlichen Bewußtseins" dar, "kleinste, gewissermaßen ,atomare' Einheiten des Bewußtseins".
Auch subtile Sachverhalte kamen zur Sprache. Da ließ eine junge Witwe ihr Söhnchen, noch als es herangewachsen war, bei sich im Bette schlafen. So wurde sie schwanger. Der Teufel freute sich ob der inzestuösen Seele, fürchtete aber, die Frau könnte durch die Beichte ihre Schuld tilgen, und klagte sie beim Kaiser an. Niemand wagte, ihr dort beizustehen. Die Mutter aber flehte in ihrer Not zur Jungfrau Maria, beichtete, und siehe, die Gottesmutter erbarmte sich der frommen Sünderin. Sogleich verstummte der Teufel, begann am ganzen Leib zu zittern und aufzuheulen: "Da kommt die Jungfrau Maria . . ." So wurde die Witwe dank der Beichte und mit Hilfe der allerheiligsten Jungfrau vor Ehrlosigkeit bewahrt.
Das dreizehnte Jahrhundert liebte derartige Predigtmärlein. Frankreich, England, Deutschland, Italien wetteiferten in ihrer Niederschrift. Umfangreiche Sammlungen wurden angelegt, alle einander ähnlich.
Jacques de Vitry, Caesarius von Heisterbach, Etienne de Bourbon oder John of Bromyard heißen ihre bekanntesten Autoren. Vier Exempel-Typen lassen sich unterscheiden: Auszüge aus älteren Texten, Anekdoten aus dem Leben der Gegenwart, Sagen und Tierfabeln. Zumal der zweite Typ hat es Gurjewitsch angetan.
Tote und Lebende trafen sich in den Exempeln, die "letzten Dinge" wurden erörtert, die Fortexistenz der erwählten und verdammten Seelen nach dem irdischen Tod, die Qualen des Fegefeuers, das Jüngste Gericht. "Die Religion der Schuld" forderte ihren Tribut. Angst wurde geschürt, Linderung verhießen. Vor Ketzerei wurde gewarnt, der Judenhaß wurde angeheizt. Faßbar wird auch die Sexualfeindlichkeit des Christentums, die Frauenangst bewirkte und Frauenfeindlichkeit produzierte in dieser "Zivilisation der Männer", die Mönche waren. Die bekannten Muster des geldgierigen Kaufmanns, des rechtsverdrehenden Juristen, des hostienfrevelnden Juden, der unkeuschen Nonne und entsprechender Typen mehr durften nicht fehlen.
Gurjewitsch sieht diese Exempel als repräsentativ an, ähnlich wie Demoskopen heutzutage bei ihren Umfragen. Damit sind Grenzen der Untersuchbarkeit angedeutet. Die erhaltenen Antworten sind abhängig von der Auswahl der Befragten und der Art, wie die Fragen formuliert werden. Der Unterschied zwischen mittelalterlicher und heutiger Demoskopie besteht im Grad der Bewußtheit derartiger Abhängigkeit und entsprechender Maßnahmen, sie auszugleichen. Die Befragten der mittelalterlichen Exempel aber schmelzen rasch zusammen. Bloß ein Drittel seiner Texte möchte Gurjewitsch als dem Leben abgelauscht erklären. Der Rest war Lesefrucht gelehrter Kleriker, aufbereitete Literatur.
Doch auch jenes Drittel birgt mehr Gelehrsamkeit als Lebenswelt. Befragt wurde niemand. Gleichwohl war alles wahr und wirklich. Glaubwürdigste Zeugen konnten namhaft gemacht werden und wurden es auch, um diese Wahrheit zu bestätigen: der ferne Abt oder Bischof, der eben verstorbene Pfarrer, der Exempelerzähler gar selbst. Gerade so, wie in der Geschichte von jenem Johannes, zu dem sich der Weggefährte Peter gesellte, der ihn zu einem Gutshof führte, dessen Herr und Herrin ihn aufs köstlichste bewirteten. Johannes sollte davon seinem Freund Jacques de Vitry, dem Erzähler, berichten. So weit, so gut. Nur: "Peter" war der Apostel, und "Herr" und "Herrin" waren Christus und Maria.
Wessen Glaubenswelten waren das? Diejenigen eines schon glaubenden Volkes?
Eines noch zu erziehenden Volkes? Der Prediger und ihrer Lehrer? Leuchteten nur Reflexe jener Projektionen von Juristen und Theologen auf, die sie beim Volk hervorzurufen wünschten: das Lob des Predigerordens, die heilende Wirkung der Beichte, die Erquickung durch Gott? Gurjewitsch setzt methodisch auf die Erfolgsabsicht der Prediger, die ihre Hörer nur dann hätten packen können, wenn sie ihnen aufs Maul schauten. Taten sie es? Und wem?
Im Falle der Beichte etwa galt es, den eben vom vierten Laterankonzil (1215) verfügten einmaligen Beichtgang pro Jahr durchzusetzen. Juristen und Theologen wußten Sünden mit Wunden und Sünder mit Kranken gleichzusetzen, die der Heilung bedürften. Sie arbeiteten umfangreiche Beichtsummen aus, um behutsam und bedacht derartigen Krankheiten zu Leibe zu rücken. Die Beichtkinder aber? Die strenge Strafandrohung jenes Konzils - wer nicht beichtet, "wird von der Kirche ausgeschlossen" - läßt kein hohes Krankheitsbewußtsein und Heilungsbedürfnis im Volk erwarten. Dennoch sollte es die Regelmäßigkeit der Beichte akzeptieren. So wurde ihre Wirkung gepriesen; selbst Inzest mache sie ungeschehen. Erwartung und Bedürfnis des Volkes? Religiöse Disziplinierung durch Prediger? Die Antwort, die Gurjewitsch bietet, folgt einem zu einfachen Ursache-Wirkung-Schema, wie sie überhaupt ohne Einsichtnahme in tatsächlich gehaltene Predigten oder ganze Predigtmuster formuliert worden zu sein scheint.
Die zentralen Abschnitte über die ",große' und ,kleine' Eschatologie", das berühmte Gerichtstympanon von St. Lazaire in Autun sowie "Die Geburt des Fegefeuers" verdeutlichen es. Gurjewitsch entwickelt hier seine für die Beurteilung jener Exempel entscheidende These: Das Jüngste Gericht sei von den Exemplisten angststeigernd, doch den Bedürfnissen des Volkes folgend, aus einer fernen Zukunft in die Gegenwart und an das Totenlager jedes einzelnen Menschen verlegt worden, weil die ökonomischen und politischen Umbrüche der Zeit tiefste sozialpsychische Irritation zumal in der Stadtgesellschaft bewirkt hätten. Der dogmatisch unsaubere und allem Rationalismus der Scholastik entgegengesetzte Vorgang gebe somit Einblick "in die Sphären des Unbewußten mit seiner spezifischen Logik", in die volksreligiöse Schöpferkraft des kollektiven Unbewußten der Epoche.
Daß dies falsch ist, läßt sich zeigen. Zwei Kontaminationen führen Gurjewitsch zu seinen Folgerungen. Zunächst wird das "persönliche Gericht", dem nach kirchlicher Lehre jeder Mensch gleich nach seinem Tod ausgesetzt ist, mit dem allgemeinen "Jüngsten Gericht" am Ende der Zeiten mehr oder weniger gleichgesetzt. Das geschieht, obwohl die patristische Tradition seit Augustinus und Gregor dem Großen die lebensgemäß differenzierte Behandlung der Seelen nach dem Tode lehrte und sie durchaus vom Jüngsten Gericht zu unterscheiden wußte und obwohl die Gelehrten seit Anselm von Canterbury, Richard von St. Victor und Thomas von Aquin die beiden Gerichte erörterten, sie dazu begrifflich und sachlich immer schärfer zu trennen wußten und dabei auch die Lehre vom doppelten Gericht - nach dem Tod und am Ende der Zeiten - etablierten. Auf beides geht Gurjewitsch nicht ein und attestiert so erst dem vierzehnten Jahrhundert, was tatsächlich schon längst verbreitet war. Das angebliche Produkt der Volkspsyche war bloß die Umsetzung theologischer Lehren in Märlein für das Volk. Welche Elemente dieser Gerichtsexempel der Psyche des Volkes entstiegen, bleibt völlig ungeklärt.
Entsprechend ist es um das "Fegefeuer" bestellt. Auch in seinem Fall kontaminiert Gurjewitsch zwei zu trennende Phänomene: das altbekannte, in vielen antiken Religionen und auch im frühen Christentum lodernde "Reinigungsfeuer" nämlich mit dem "dritten Ort" des Jenseits, dem "Purgatorium", das irgendwo zwischen "Paradies" und "Hölle" angesiedelt wurde. Nur diese Lokalisierung weckte Unsicherheit; denn sie wurde jetzt erst unter den Theologen als Problem erkannt. Fragen nach dem Ort aber sind kategoriale Fragen, Folgen der Einübung der aristotelischen Kategorienlehre, nicht Bedürfnisse des Volkes. So ist denn auch bezeichnend, daß bei Caesarius nicht das Exempel selbst, sondern der das Exempel erörternde Schüler seinen Lehrer nach dem genauen Ort des Purgatoriums befragt. Das gläubige Volk hatte die Flammen zu fürchten; wo sie loderten, konnte ihm einerlei sein. Wenn hier sozialer "Umbruch" eine Rolle spielte, dann war es die Zunahme der Gelehrten, auch der Durchbruch zu einer Rationalität, die nach logischer Klärung noch der dunkelsten Seiten des Glaubens verlangte, nicht Spekulationslust eines ungeschulten Volkes, gar Artikulation seiner unbewußtesten Psyche.
Die hier vorgebrachte Kritik will keinesfalls die Bedeutung des vorliegenden Buches schmälern, dessen Erzählkunst durch die Übersetzung nichts eingebüßt hat. Es war unter forschungswidrigen Bedingungen geschrieben worden, was dem Autor zugute zu halten ist. Sein eigentliches Verdienst aber ist, sich einem Gegenstand zuzuwenden, der allzu lange vernachlässigt wurde, und Quellen zu erschließen, die unberechtigterweise als suspekt galten. Gurjewitsch bringt sie zum Sprechen, öffnet den Blick und den Sinn für eine Zusammenschau von Wissen und Glauben, wie sie dem Mittelalter angemessen ist, für das Zusammenwirken von Gelehrten und Volk, für eine Bild und Text, Exempel und wissenschaftliche Traktate beachtende historische Medienkunde. Die Kritik einzelner Ergebnisse fällt daneben wenig ins Gewicht, auch wenn sie notwendig ist. Sie bedient sich nicht zuletzt der von Gurjewitsch gewiesenen Methoden, bleibt ihm also verpflichtet, gerade auch dort, wo sie ihm nicht folgt.
Aaron J. Gurjewitsch: "Himmlisches und irdisches Leben". Bildwelten des schriftlosen Menschen im 13. Jahrhundert. Die Exempel. Aus dem Russischen von Erhard Glier. Verlag der Kunst, Dresden 1997. 512 S., Abb., geb., 78,- DM.
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