Produktdetails
- Goldmann Sachbuch / Ratgeber
- Verlag: Goldmann
- Gewicht: 253g
- ISBN-13: 9783442127092
- ISBN-10: 3442127092
- Artikelnr.: 23972026
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.1996Ehrlicher Rückblick
Eine Jugend in den Fängen des Nationalsozialismus
André Leysen: Hinter dem Spiegel. Eine Jugend in Flandern 1939-1945. Goldmann Taschenbuch 12709. Wilhelm Goldmann Verlag, München1996. 247 Seiten, 14,90 Mark.
Tagebücher geben Aufschluß darüber, wie der Verfasser seinen Lebensweg zum jeweiligen Zeitpunkt gesehen hat. Der flämische Unternehmer André Leysen, der jetzt die Erinnerungen über seine Jugend in den Fängen des Nationalsozialismus veröffentlicht, hat damals kein Tagebuch geführt. Aus der Distanz von über fünf Jahrzehnten beschreibt er, wie ein Sprößling aus gutbürgerlichen Antwerpener Verhältnissen in den Bann des Hitlerregimes geraten und sich erst im Frühjahr 1945 im Anblick des brennenden Berlin daraus lösen konnte. "Das ursprüngliche Erlebnis und die tatsächliche Verarbeitung sind zwei verschiedene Dinge", schreibt Leysen. "Hinter dem Spiegel" steht im Spannungsfeld zwischen der Verlockung, den Irrweg aus der damaligen Warte des verblendeten Schülers zu rechtfertigen, und dem Versuch, ihn aus der Perspektive des gereiften 69 Jahre alten Demokraten zu erklären. Mit der Offenheit, die er auch als einziger Ausländer im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt an den Tag gelegt hat, meistert Leysen diesen schwierigen Balanceakt.
Die 1995 erschienene niederländischsprachige Originalausgabe enthält einen umfassenderen geschichtsdarstellenden Teil. Auch der deutschsprachigen Übersetzung ist jedoch zu entnehmen, wie in Flandern die nationalsozialistische Ideologie auf fruchtbaren Boden fiel. Im niederländischsprachigen Nordteil Belgiens fügten sich mehrere Einflüsse unheilvoll zusammen: das Aufbegehren gegen die jahrzehntelange Unterdrückung durch den Süden und die französischsprachige Oberschicht Flanderns, die brüchige parlamentarische Demokratie und die auch in anderen westlichen Ländern zeitweilig verbreitete Auffassung, der Nationalsozialismus stelle ein Bollwerk gegen den Bolschewismus dar. Für Leysen, dessen Großvater einer ausgeprägt flämischen Partei nahestand, war es keine Frage, auf welche Seite er sich zu schlagen hatte. Während er von 1941 an die Deutsche Schule in Antwerpen besuchte und sich in der Hitler-Jugend engagierte, führte seinen älteren Bruder der Weg mit der später in die Waffen-SS eingegliederten "Flämischen Legion" an die Ostfront.
Leysen nimmt für seine Haltung einerseits sein damaliges jugendliches Alter in Anspruch. Im Alter von 15 Jahren mache man sich keine Gedanken über politische Hintergründe. "Der Glaube, daß die deutsche Sache gerecht war, wurde von mir wahrscheinlich keiner Vernunftprüfung unterzogen." Andererseits bekennt er sich auch jetzt noch zu seiner von einem "sportlichen Geist" dominierten Antwerpener HJ-Zeit. Hatte nicht, fragt Leysen heute, die Mehrzahl der gleich altrigen Deutschen, die ja automatisch zur Hitler-Jugend zählten, ähnliche Gefühle? Zugleich zeigt er damit, daß der Nationalsozialismus in erster Linie, aber keineswegs ausschließlich ein deutsches Problem war.
Auch wenn das Buch in seiner Originalversion vor Beginn der jüngsten, durch den amerikanischen Historiker Daniel Goldhagen ausgelösten neuen Kontroverse um eine deutsche Kollektivschuld erschienen ist, kann es als Beitrag zu dieser Debatte dienen. Natürlich hätten in Deutschland einzelne Personen oder größere Gruppen schreckliche Verbrechen gegen die Menschheit begangen. Deshalb könne man jedoch nicht ein ganzes Volk dämonisieren. "Wenn wir dies täten", schreibt Leysen, "würden wir dem Nationalsozialismus und seinen Theorien einen späten Sieg verschaffen, denn seine größte Untat bestand darin, gerade dies dem jüdischen Volk angetan zu haben, indem er es kollektiv für vermeintliche Verbrechen verantwortlich machte." Auch wenn es für den Weg Deutschlands eine "kollektive Verantwortung" gebe, erscheine es unangemessen, "Generationen von Deutschen mit dem Trauma der Kollektivschuld zu belasten".
Das persönliche Schicksal des jungen Leysen läßt sich an zwei Ereignissen festmachen. Im April 1943 kamen durch einen amerikanischen Luftangriff auf seine Heimatstadt Antwerpen mehr als 900 Zivilisten ums Leben. Die Schreckensbilder und die propagandistische Ausschlachtung festigten den blinden Glauben an die vermeintlich gute deutsche Sache. Erst knapp zwei Jahre später, unter dem Eindruck eines massiven alliierten Angriffs auf Berlin, folgte die Läuterung. Seit September 1944 hatte sich der 17jährige Leysen in der deutschen Hauptstadt aufgehalten als rechte Hand von René Lagrou, dem "Premierminister" einer von den nationalsozialistischen Machthabern geförderten flämischen Exilregierung. Unter dem Eindruck des bis dahin größten alliierten Tagesangriffs auf Berlin erinnert sich Leysen an jenen 3. Februar 1945: "Ich war sehr mitgenommen, und allmählich begann mir klarzuwerden, daß eine weitere Verlängerung des Krieges nichts mehr mit der Hoffnung auf den Endsieg zu tun hatte, sondern nur einer Weigerung gleichkam, die Realität ins Auge zu fassen."
Hatten 1943 Bilder des Schreckens in Antwerpen den Irrglauben Leysens an das Hitler-Regime erst recht gefestigt, so waren es zwei Jahre später die Eindrücke des in Schutt und Asche gelegten Berlins, die ihm die Abkehr erlauben. Die Beschreibung seines siebenmonatigen Aufenthalts in der deutschen Hauptstadt gehört zu den stärksten Passagen seines Buchs. Am 13. April 1945 verläßt Leysen Berlin und beginnt den "langen Rückzug, weg vom Glauben an den Nationalsozialismus und hin zum Bürger in einer demokratischen Ordnung".
Leysen gibt zu, die Läuterung sei nicht nur sehr spät, sondern auch keineswegs durch eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eingetreten. Dieses ehrliche Eingeständnis verschafft Leysen Glaubwürdigkeit. Der Hinweis auf die "Gnade der späten Geburt" fiel im deutschen Text der "political correctness" zum Opfer. Er wisse nicht, ob er als Volljähriger damals genauso gehandelt hätte, sagt Leysen heute. Sicher sei nur, daß die Folgen dann schwerwiegender gewesen wären. Entscheidend sei für ihn, so Leysen heute, daß er noch 1945 die richtigen Lehren gezogen habe.
Es ist diese Ehrlichkeit, die Leysens Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit prägt. Ein manchmal zu spürender Hauch von Selbstgerechtigkeit trübt diesen Eindruck nicht. Damit erklären sich auch Fleiß, Pflichtbewußtsein und Beharrlichkeit, die den Autodidakten André Leysen zu einem erfolgreichen Industrieboß und Medienmanager aufsteigen ließen. Nach wie vor ist Leysen Aufsichtsratsvorsitzender der Agfa-Gevaert-Gruppe sowie in den Aufsichtsgremien verschiedener europäischer, nicht zuletzt auch deutscher Unternehmen. Der mit einer Deutschen verheiratete Katholik Leysen erscheint als ein Relikt jener calvinistischen Industriellen, wie man sie im 19. Jahrhundert im rheinischen Elberfeld oder im elsässischen Mülhausen antraf. Die Lektionen der Jahre 1939 bis 1945 haben ihn bis zum heutigen Tage geprägt: Sein Herz schlage für Flandern, mit Belgien verbinde ihn sein rationelles Denken, sein ganzes Sinnen und Trachten sei jedoch auf die europäische Einigung gerichtet, schreibt er in seinem Buch. Es ist eine Kombination aus persönlichen Erinnerungen, historischer Analyse und einer Mahnung an kommende Generationen. Schon deshalb lohnt die Lektüre. MICHAEL STABENOW
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Jugend in den Fängen des Nationalsozialismus
André Leysen: Hinter dem Spiegel. Eine Jugend in Flandern 1939-1945. Goldmann Taschenbuch 12709. Wilhelm Goldmann Verlag, München1996. 247 Seiten, 14,90 Mark.
Tagebücher geben Aufschluß darüber, wie der Verfasser seinen Lebensweg zum jeweiligen Zeitpunkt gesehen hat. Der flämische Unternehmer André Leysen, der jetzt die Erinnerungen über seine Jugend in den Fängen des Nationalsozialismus veröffentlicht, hat damals kein Tagebuch geführt. Aus der Distanz von über fünf Jahrzehnten beschreibt er, wie ein Sprößling aus gutbürgerlichen Antwerpener Verhältnissen in den Bann des Hitlerregimes geraten und sich erst im Frühjahr 1945 im Anblick des brennenden Berlin daraus lösen konnte. "Das ursprüngliche Erlebnis und die tatsächliche Verarbeitung sind zwei verschiedene Dinge", schreibt Leysen. "Hinter dem Spiegel" steht im Spannungsfeld zwischen der Verlockung, den Irrweg aus der damaligen Warte des verblendeten Schülers zu rechtfertigen, und dem Versuch, ihn aus der Perspektive des gereiften 69 Jahre alten Demokraten zu erklären. Mit der Offenheit, die er auch als einziger Ausländer im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt an den Tag gelegt hat, meistert Leysen diesen schwierigen Balanceakt.
Die 1995 erschienene niederländischsprachige Originalausgabe enthält einen umfassenderen geschichtsdarstellenden Teil. Auch der deutschsprachigen Übersetzung ist jedoch zu entnehmen, wie in Flandern die nationalsozialistische Ideologie auf fruchtbaren Boden fiel. Im niederländischsprachigen Nordteil Belgiens fügten sich mehrere Einflüsse unheilvoll zusammen: das Aufbegehren gegen die jahrzehntelange Unterdrückung durch den Süden und die französischsprachige Oberschicht Flanderns, die brüchige parlamentarische Demokratie und die auch in anderen westlichen Ländern zeitweilig verbreitete Auffassung, der Nationalsozialismus stelle ein Bollwerk gegen den Bolschewismus dar. Für Leysen, dessen Großvater einer ausgeprägt flämischen Partei nahestand, war es keine Frage, auf welche Seite er sich zu schlagen hatte. Während er von 1941 an die Deutsche Schule in Antwerpen besuchte und sich in der Hitler-Jugend engagierte, führte seinen älteren Bruder der Weg mit der später in die Waffen-SS eingegliederten "Flämischen Legion" an die Ostfront.
Leysen nimmt für seine Haltung einerseits sein damaliges jugendliches Alter in Anspruch. Im Alter von 15 Jahren mache man sich keine Gedanken über politische Hintergründe. "Der Glaube, daß die deutsche Sache gerecht war, wurde von mir wahrscheinlich keiner Vernunftprüfung unterzogen." Andererseits bekennt er sich auch jetzt noch zu seiner von einem "sportlichen Geist" dominierten Antwerpener HJ-Zeit. Hatte nicht, fragt Leysen heute, die Mehrzahl der gleich altrigen Deutschen, die ja automatisch zur Hitler-Jugend zählten, ähnliche Gefühle? Zugleich zeigt er damit, daß der Nationalsozialismus in erster Linie, aber keineswegs ausschließlich ein deutsches Problem war.
Auch wenn das Buch in seiner Originalversion vor Beginn der jüngsten, durch den amerikanischen Historiker Daniel Goldhagen ausgelösten neuen Kontroverse um eine deutsche Kollektivschuld erschienen ist, kann es als Beitrag zu dieser Debatte dienen. Natürlich hätten in Deutschland einzelne Personen oder größere Gruppen schreckliche Verbrechen gegen die Menschheit begangen. Deshalb könne man jedoch nicht ein ganzes Volk dämonisieren. "Wenn wir dies täten", schreibt Leysen, "würden wir dem Nationalsozialismus und seinen Theorien einen späten Sieg verschaffen, denn seine größte Untat bestand darin, gerade dies dem jüdischen Volk angetan zu haben, indem er es kollektiv für vermeintliche Verbrechen verantwortlich machte." Auch wenn es für den Weg Deutschlands eine "kollektive Verantwortung" gebe, erscheine es unangemessen, "Generationen von Deutschen mit dem Trauma der Kollektivschuld zu belasten".
Das persönliche Schicksal des jungen Leysen läßt sich an zwei Ereignissen festmachen. Im April 1943 kamen durch einen amerikanischen Luftangriff auf seine Heimatstadt Antwerpen mehr als 900 Zivilisten ums Leben. Die Schreckensbilder und die propagandistische Ausschlachtung festigten den blinden Glauben an die vermeintlich gute deutsche Sache. Erst knapp zwei Jahre später, unter dem Eindruck eines massiven alliierten Angriffs auf Berlin, folgte die Läuterung. Seit September 1944 hatte sich der 17jährige Leysen in der deutschen Hauptstadt aufgehalten als rechte Hand von René Lagrou, dem "Premierminister" einer von den nationalsozialistischen Machthabern geförderten flämischen Exilregierung. Unter dem Eindruck des bis dahin größten alliierten Tagesangriffs auf Berlin erinnert sich Leysen an jenen 3. Februar 1945: "Ich war sehr mitgenommen, und allmählich begann mir klarzuwerden, daß eine weitere Verlängerung des Krieges nichts mehr mit der Hoffnung auf den Endsieg zu tun hatte, sondern nur einer Weigerung gleichkam, die Realität ins Auge zu fassen."
Hatten 1943 Bilder des Schreckens in Antwerpen den Irrglauben Leysens an das Hitler-Regime erst recht gefestigt, so waren es zwei Jahre später die Eindrücke des in Schutt und Asche gelegten Berlins, die ihm die Abkehr erlauben. Die Beschreibung seines siebenmonatigen Aufenthalts in der deutschen Hauptstadt gehört zu den stärksten Passagen seines Buchs. Am 13. April 1945 verläßt Leysen Berlin und beginnt den "langen Rückzug, weg vom Glauben an den Nationalsozialismus und hin zum Bürger in einer demokratischen Ordnung".
Leysen gibt zu, die Läuterung sei nicht nur sehr spät, sondern auch keineswegs durch eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eingetreten. Dieses ehrliche Eingeständnis verschafft Leysen Glaubwürdigkeit. Der Hinweis auf die "Gnade der späten Geburt" fiel im deutschen Text der "political correctness" zum Opfer. Er wisse nicht, ob er als Volljähriger damals genauso gehandelt hätte, sagt Leysen heute. Sicher sei nur, daß die Folgen dann schwerwiegender gewesen wären. Entscheidend sei für ihn, so Leysen heute, daß er noch 1945 die richtigen Lehren gezogen habe.
Es ist diese Ehrlichkeit, die Leysens Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit prägt. Ein manchmal zu spürender Hauch von Selbstgerechtigkeit trübt diesen Eindruck nicht. Damit erklären sich auch Fleiß, Pflichtbewußtsein und Beharrlichkeit, die den Autodidakten André Leysen zu einem erfolgreichen Industrieboß und Medienmanager aufsteigen ließen. Nach wie vor ist Leysen Aufsichtsratsvorsitzender der Agfa-Gevaert-Gruppe sowie in den Aufsichtsgremien verschiedener europäischer, nicht zuletzt auch deutscher Unternehmen. Der mit einer Deutschen verheiratete Katholik Leysen erscheint als ein Relikt jener calvinistischen Industriellen, wie man sie im 19. Jahrhundert im rheinischen Elberfeld oder im elsässischen Mülhausen antraf. Die Lektionen der Jahre 1939 bis 1945 haben ihn bis zum heutigen Tage geprägt: Sein Herz schlage für Flandern, mit Belgien verbinde ihn sein rationelles Denken, sein ganzes Sinnen und Trachten sei jedoch auf die europäische Einigung gerichtet, schreibt er in seinem Buch. Es ist eine Kombination aus persönlichen Erinnerungen, historischer Analyse und einer Mahnung an kommende Generationen. Schon deshalb lohnt die Lektüre. MICHAEL STABENOW
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main