"Hinter der Fassade der Wirklichkeit" lautete das Motto des Journalisten und Schriftstellers Leo Lania (1896 - 1961). Zeitlebens war es sein Anliegen, unter die Oberfläche der sozialen Wirklichkeit zu dringen und deren Ursachen aufzudecken und zu analysieren. Das Buch rekonstruiert erstmals auch anhand des umfangreichen und unveröffentlichten Materials im amerikanischen Nachlass das Leben und Werk eines in Vergessenheit geratenen, aber dennoch essentiellen Protagonisten des politischen und kulturellen Lebens der Weimarer Republik. Politisiert durch seine Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg schloss sich Lania 1919 den österreichischen Kommunisten an und wurde zum Mitbegründer der Wiener "Roten Fahne". Nach seinem Bruch mit der kommunistischen Partei 1921 zog er nach Berlin, wo er sich u.a. durch seine Undercover-Recherchen bei Hitler rasch als einer der maßgeblichen Reporter der Weimarer Republik etablierte. Als Dramaturg lieferte er wesentliche Beiträge zum "politischen Theater" Erwin Piscators, als Geschäftsführer des "Volksfilmverbandes" schuf er eine der ersten deutschen Filmreportagen, auf Wunsch von Bertolt Brecht schrieb er 1931 das Drehbuch zur Dreigroschenoper. Im amerikanischen Exil engagierte sich Lania für eine basisdemokratische Gesellschaft, im Kalten Krieg opponierte er als intellektueller Querdenker. Noch kurz vor seinem Tod schrieb er 1959 als Ghostwriter eine Autobiografie für Willy Brandt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2018Die Reportage ist eine Kampfform
Der Aufdecker der Weimarer Republik: Michael Schwaiger erinnert eindrucksvoll an den Journalisten und Publizisten Leo Lania.
Dass er trotz namhafter Fürsprecher kein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof erhielt, mag man heute kleinlich finden. Dass ihm stattdessen drei Jahre nach seinem Tod, 1964, auf Initiative Willy Brandts diese Ehre auf dem Waldfriedhof Zehlendorf zuteilwurde, ist indessen durchaus folgerichtig. Denn aufgewachsen war der 1896 in Charkow im Russischen Kaiserreich als Lazar Hermann geborene Publizist Leo Lania zwar in der Hauptstadt der Habsburgermonarchie; und getragen hatte er als kriegsfreiwilliger Artillerie-Leutnant an der galizischen und an der Isonzo-Front deren Uniform. Debütiert hatte er zwar in der sozialdemokratischen Wiener "Arbeiter-Zeitung"; und erste Erfahrungen als Redakteur hatte er bei der kommunistischen "Roten Fahne" in den Jahren 1919 bis 1921 gesammelt. Einen Namen aber hatte er sich erst in Berlin gemacht, wohin er im September 1921 übergesiedelt war. Wie spektakulär er das tat, kann man in Michael Schwaigers Buch nachlesen.
Im Oktober 1923, wenige Wochen vor dem Marsch auf die Feldherrnhalle, schlich Lania sich, fließend Italienisch sprechend und ein gefälschtes Empfehlungsschreiben von Arnaldo Mussolini, dem Bruder des "Duce" und Herausgeber der faschistischen Parteizeitung "Il Popolo d'Italia", bei der Hand, ins damalige Hauptquartier Adolf Hitlers ein, in die Redaktion des "Völkischen Beobachters" in der Münchner Schellingstraße. Acht Tage lang ging er dort als "Gesandter des Duce" ein und aus, bevor ihm der Boden zu heiß wurde. Mit diesem Husarenstück etablierte sich Lania als der Enthüllungsjournalist der Weimarer Republik, ganz nach dem Vorbild amerikanischer "Muckraker" (Schmutzaufwirbler) à la Upton Sinclair.
Ende Februar 1924 wieder zurück in München fasste er seine Eindrücke vom Prozess gegen die Rädelsführer des Hitler-Ludendorff-Putsches in zwei Reportagebüchern zusammen. Dass Lania, anders als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, den Münchner Umsturzversuch nicht als kläglich durchgefallene Groteske auffasste, mit der sich eine Handvoll Hasardeure auf der politischen Bühne versucht hatte, signalisiert der Titel des einen Buches: "Die Totengräber Deutschlands" (1924). Im Prolog des anderen schilderte Lania seinen "Besuch bei Hitler", die Undercover-Recherche beim "Völkischen Beobachter".
Ende Mai 1924 landete er mit "Gewehre auf Reisen. Bilder aus deutscher Gegenwart" den nächsten Coup. Ein Freikorpsoffizier, den seine Kumpane übers Ohr gehauen hatten, hatte Lania detaillierte Informationen und umfangreiches Dokumentenmaterial über geheime Waffendepots der "Schwarzen Reichswehr" und großangelegte Waffenschiebereien zugespielt. Lania listete im Anhang des Buchs sämtliche an den Machenschaften Beteiligten mit Namen und Adresse auf. Monatelang musste er sich daraufhin versteckt halten. Die Behörden traktierten den missliebigen Aufdecker mit der Drohung, ihn wegen "Landesverrats" hinter Schloss und Riegel zu bringen, sollte er sich weigern, seinen Informanten preiszugeben.
Die republikanische Presse machte indes Lanias Sache, die längst zum Politikum geworden war, zu der ihren - auch weil allzu klar war, dass man an Lania ein Exempel statuieren wollte. Im Juli 1926 stellte die Weimarer Justiz das Verfahren ein, und Ende Dezember nahm der Reichstag eine Gesetzesnovelle an, die Journalisten das Recht auf "Zeugnisverweigerung aus beruflichen Gründen" einräumte, anders gesagt, das Redaktionsgeheimnis unter Schutz stellte.
"Das war die erste - und einzige - Schlacht, die ich gegen die deutsche Reaktion tatsächlich gewonnen habe", hielt Lania in seiner Autobiographie fest. Eine ernüchternde Bilanz, verstand er doch die investigative Reportage nicht als Kunst-, sondern als Kampfform. Sein aktivistisches Credo formulierte er Mitte 1926 im programmatischen Aufsatz "Reportage als soziale Funktion", in Abgrenzung zu Egon Erwin Kisch. Der Reporter nehme nicht die Haltung "des - überlegenen oder unterwürfigen - Betrachters ein, sondern des Spions - er beschreibt nicht, er enthüllt. (. . .) Der Reporter soll ja nicht bloß Internist sein, sondern er ist auch erbarmungsloser Chirurg, er muß schneiden, um den Aufbau des Organismus zu zeigen, oder die lächerliche Eiterblase, die alle Funktionen stört. Kein ästhetisches Gewerbe: ,Schmutzaufwirbler'."
Lania schrieb - zeitlebens als "Freier" - für eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, quer durch alle Ressorts und Genres und unermüdlich "vor Ort", ob nun in Deutschland oder im Ausland. 1924 bereiste er die kriegszerstörten Städte Nordfrankreichs, im Spätsommer 1926 Griechenland und den Balkan, im Mai 1928 Italien, im November 1928 das Baltikum, 1930 Irland - wo er unter dem Titel "Frauen der Rebellion" die "Führerinnen der irischen Freiheitskämpfer" porträtierte -, 1932 vier Monate lang die Sowjetunion.
Ab 1926 verlegte Lania sich mehr und mehr auf Belletristik und Theater, auf Hörfunk und Film. Damit war keineswegs eine Absage an sein operatives Ethos verbunden, sondern das Bestreben, breitere Wirkung zu erzielen. Nicht von ungefähr thematisierte seine 1927 erschienene "Docu-Fiction" um die Telegraphenagentur "Indeta" die den Macht- oder ideologischen Interessen der jeweiligen Financiers dienende Nachrichtenproduktion. Er verarbeitete darin eigene Erfahrungen. Ende 1921 hatte er die "Internationale Telegraphenagentur" gegründet, um die monopolistische Situation auf dem Nachrichtenmarkt der Weimarer Republik - beherrscht vom offiziösen WTB (Wolffs Telegraphisches Bureau) und der rechtsnationalistischen hugenbergschen "Telegraphen-Union" - zu durchbrechen. Die Intel hatte kurzzeitig floriert, ehe sie 1923 im Strudel der Hyperinflation untergegangen war.
Der nämliche aufklärerische Impetus beseelte seine Zeit ab Sommer 1927 im dramaturgischen Büro der "Piscator-Bühne": die Bühne als Tribüne, auf der die öffentlichen Angelegenheiten verhandelt werden. Ein Jahr hielt es ihn im Theater am Nollendorfplatz, im Herbst 1928 wurde er zum Geschäftsführer des "Volksverbands für Filmkunst" gewählt. Dessen Programm: der Film als moralische Anstalt, ergänze: für das überwiegend den unteren sozialen Schichten angehörende Kinopublikum. In dieser Funktion produzierte er unter anderem "Um's tägliche Brot", einen Dokumentarfilm über die verheerenden Arbeitsbedingungen im niederschlesischen Steinkohlerevier Waldenburg.
Reisereportagen, Hörspiele, Drehbücher, ein "biographischer Roman" über eine der schillerndsten Persönlichkeiten der "Roaring Twenties", Anita Berber, Inbegriff des Vamps: Lania war ein gefragter Mann - und musste im Herbst 1932 seinen komfortablen Haushalt inklusive Dienstmädchen und Gouvernante in Berlin-Steglitz auflösen, um mit Ehefrau und Sohn nach Wien zu übersiedeln. Der Beginn einer achtjährigen Odyssee, die trotz einiger gefeierter Bücher und zahlreicher Engagements als Drehbuchautor, gekennzeichnet war von äußerst prekären Umständen.
Mit 3 Dollar 50 in der Tasche und ohne Gepäck im September 1940 endlich in New York angekommen, stand Lania wieder einmal vor einem Neuanfang - und entfaltete umgehend rastlose Aktivität. Er rührte die Trommel für Roosevelts "New Deal", der ihm musterhaft schien für sein Ideal einer "sozialen Demokratie". Er warb für den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, setzte zahlreiche Initiativen in Gang zur Vernetzung und Mobilisierung der europäischen Emigranten und erlangte mit dem Anfang 1941 veröffentlichten Bericht über seine abenteuerliche Flucht, "The Darkest Hour", und seiner im Mai 1942 erschienenen Autobiographie "Today We Are Brothers" - 1954 überarbeitet unter dem Titel "Welt im Umbruch" auf Deutsch - einige Bekanntheit. Ab April 1942 arbeitete er am "German Desk" des "Radio Program Bureau" für die amerikanische Gegenpropaganda, reiste als "Fundraiser" für jüdische Organisationen und als Vortragsredner kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten.
Von Mitte der fünfziger Jahre an schrieb Lania wieder vorwiegend für deutsche, österreichische und Schweizer Zeitungen, war regelmäßig in Österreich und Deutschland zu Besuch; längerfristig ab 1959, da er in enger Zusammenarbeit mit dem damaligen Regierenden Bürgermeister Berlins an einem Buch über Willy Brandt schrieb, das 1960 in Englisch und Deutsch und in acht weiteren Sprachen erschien: "Willy Brandt: Mein Weg nach Berlin". Unvollendet blieb wie vieles andere das Projekt, an dem Lania - er starb im November 1961 in München - zuletzt arbeitete, der Roman "Die Generale", der mit der Mär von der "sauberen Wehrmacht" aufräumt.
Michael Schwaiger nimmt, durchaus emphatisch, aber gleichzeitig mit der nötigen Distanz, mehr das Werk als das Leben Leo Lanias in den Blick und da wiederum hauptsächlich die politische Arbeit. Genau genommen, müsste man einschränken: das veröffentlichte Werk. Im Nachlass in der Wisconsin Historical Society in Madison harren Konvolute von Roman- und Hörspielmanuskripten, Theaterstücke, Drehbücher und Filmentwürfe der Aufarbeitung - Gesamtumfang: 10 000 Seiten.
WALTER SCHÜBLER
Michael Schwaiger:
"Hinter der Fassade der Wirklichkeit". Leben und Werk von Leo Lania.
Mandelbaum Verlag,
Wien 2017.
461 S., br., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Aufdecker der Weimarer Republik: Michael Schwaiger erinnert eindrucksvoll an den Journalisten und Publizisten Leo Lania.
Dass er trotz namhafter Fürsprecher kein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof erhielt, mag man heute kleinlich finden. Dass ihm stattdessen drei Jahre nach seinem Tod, 1964, auf Initiative Willy Brandts diese Ehre auf dem Waldfriedhof Zehlendorf zuteilwurde, ist indessen durchaus folgerichtig. Denn aufgewachsen war der 1896 in Charkow im Russischen Kaiserreich als Lazar Hermann geborene Publizist Leo Lania zwar in der Hauptstadt der Habsburgermonarchie; und getragen hatte er als kriegsfreiwilliger Artillerie-Leutnant an der galizischen und an der Isonzo-Front deren Uniform. Debütiert hatte er zwar in der sozialdemokratischen Wiener "Arbeiter-Zeitung"; und erste Erfahrungen als Redakteur hatte er bei der kommunistischen "Roten Fahne" in den Jahren 1919 bis 1921 gesammelt. Einen Namen aber hatte er sich erst in Berlin gemacht, wohin er im September 1921 übergesiedelt war. Wie spektakulär er das tat, kann man in Michael Schwaigers Buch nachlesen.
Im Oktober 1923, wenige Wochen vor dem Marsch auf die Feldherrnhalle, schlich Lania sich, fließend Italienisch sprechend und ein gefälschtes Empfehlungsschreiben von Arnaldo Mussolini, dem Bruder des "Duce" und Herausgeber der faschistischen Parteizeitung "Il Popolo d'Italia", bei der Hand, ins damalige Hauptquartier Adolf Hitlers ein, in die Redaktion des "Völkischen Beobachters" in der Münchner Schellingstraße. Acht Tage lang ging er dort als "Gesandter des Duce" ein und aus, bevor ihm der Boden zu heiß wurde. Mit diesem Husarenstück etablierte sich Lania als der Enthüllungsjournalist der Weimarer Republik, ganz nach dem Vorbild amerikanischer "Muckraker" (Schmutzaufwirbler) à la Upton Sinclair.
Ende Februar 1924 wieder zurück in München fasste er seine Eindrücke vom Prozess gegen die Rädelsführer des Hitler-Ludendorff-Putsches in zwei Reportagebüchern zusammen. Dass Lania, anders als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, den Münchner Umsturzversuch nicht als kläglich durchgefallene Groteske auffasste, mit der sich eine Handvoll Hasardeure auf der politischen Bühne versucht hatte, signalisiert der Titel des einen Buches: "Die Totengräber Deutschlands" (1924). Im Prolog des anderen schilderte Lania seinen "Besuch bei Hitler", die Undercover-Recherche beim "Völkischen Beobachter".
Ende Mai 1924 landete er mit "Gewehre auf Reisen. Bilder aus deutscher Gegenwart" den nächsten Coup. Ein Freikorpsoffizier, den seine Kumpane übers Ohr gehauen hatten, hatte Lania detaillierte Informationen und umfangreiches Dokumentenmaterial über geheime Waffendepots der "Schwarzen Reichswehr" und großangelegte Waffenschiebereien zugespielt. Lania listete im Anhang des Buchs sämtliche an den Machenschaften Beteiligten mit Namen und Adresse auf. Monatelang musste er sich daraufhin versteckt halten. Die Behörden traktierten den missliebigen Aufdecker mit der Drohung, ihn wegen "Landesverrats" hinter Schloss und Riegel zu bringen, sollte er sich weigern, seinen Informanten preiszugeben.
Die republikanische Presse machte indes Lanias Sache, die längst zum Politikum geworden war, zu der ihren - auch weil allzu klar war, dass man an Lania ein Exempel statuieren wollte. Im Juli 1926 stellte die Weimarer Justiz das Verfahren ein, und Ende Dezember nahm der Reichstag eine Gesetzesnovelle an, die Journalisten das Recht auf "Zeugnisverweigerung aus beruflichen Gründen" einräumte, anders gesagt, das Redaktionsgeheimnis unter Schutz stellte.
"Das war die erste - und einzige - Schlacht, die ich gegen die deutsche Reaktion tatsächlich gewonnen habe", hielt Lania in seiner Autobiographie fest. Eine ernüchternde Bilanz, verstand er doch die investigative Reportage nicht als Kunst-, sondern als Kampfform. Sein aktivistisches Credo formulierte er Mitte 1926 im programmatischen Aufsatz "Reportage als soziale Funktion", in Abgrenzung zu Egon Erwin Kisch. Der Reporter nehme nicht die Haltung "des - überlegenen oder unterwürfigen - Betrachters ein, sondern des Spions - er beschreibt nicht, er enthüllt. (. . .) Der Reporter soll ja nicht bloß Internist sein, sondern er ist auch erbarmungsloser Chirurg, er muß schneiden, um den Aufbau des Organismus zu zeigen, oder die lächerliche Eiterblase, die alle Funktionen stört. Kein ästhetisches Gewerbe: ,Schmutzaufwirbler'."
Lania schrieb - zeitlebens als "Freier" - für eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, quer durch alle Ressorts und Genres und unermüdlich "vor Ort", ob nun in Deutschland oder im Ausland. 1924 bereiste er die kriegszerstörten Städte Nordfrankreichs, im Spätsommer 1926 Griechenland und den Balkan, im Mai 1928 Italien, im November 1928 das Baltikum, 1930 Irland - wo er unter dem Titel "Frauen der Rebellion" die "Führerinnen der irischen Freiheitskämpfer" porträtierte -, 1932 vier Monate lang die Sowjetunion.
Ab 1926 verlegte Lania sich mehr und mehr auf Belletristik und Theater, auf Hörfunk und Film. Damit war keineswegs eine Absage an sein operatives Ethos verbunden, sondern das Bestreben, breitere Wirkung zu erzielen. Nicht von ungefähr thematisierte seine 1927 erschienene "Docu-Fiction" um die Telegraphenagentur "Indeta" die den Macht- oder ideologischen Interessen der jeweiligen Financiers dienende Nachrichtenproduktion. Er verarbeitete darin eigene Erfahrungen. Ende 1921 hatte er die "Internationale Telegraphenagentur" gegründet, um die monopolistische Situation auf dem Nachrichtenmarkt der Weimarer Republik - beherrscht vom offiziösen WTB (Wolffs Telegraphisches Bureau) und der rechtsnationalistischen hugenbergschen "Telegraphen-Union" - zu durchbrechen. Die Intel hatte kurzzeitig floriert, ehe sie 1923 im Strudel der Hyperinflation untergegangen war.
Der nämliche aufklärerische Impetus beseelte seine Zeit ab Sommer 1927 im dramaturgischen Büro der "Piscator-Bühne": die Bühne als Tribüne, auf der die öffentlichen Angelegenheiten verhandelt werden. Ein Jahr hielt es ihn im Theater am Nollendorfplatz, im Herbst 1928 wurde er zum Geschäftsführer des "Volksverbands für Filmkunst" gewählt. Dessen Programm: der Film als moralische Anstalt, ergänze: für das überwiegend den unteren sozialen Schichten angehörende Kinopublikum. In dieser Funktion produzierte er unter anderem "Um's tägliche Brot", einen Dokumentarfilm über die verheerenden Arbeitsbedingungen im niederschlesischen Steinkohlerevier Waldenburg.
Reisereportagen, Hörspiele, Drehbücher, ein "biographischer Roman" über eine der schillerndsten Persönlichkeiten der "Roaring Twenties", Anita Berber, Inbegriff des Vamps: Lania war ein gefragter Mann - und musste im Herbst 1932 seinen komfortablen Haushalt inklusive Dienstmädchen und Gouvernante in Berlin-Steglitz auflösen, um mit Ehefrau und Sohn nach Wien zu übersiedeln. Der Beginn einer achtjährigen Odyssee, die trotz einiger gefeierter Bücher und zahlreicher Engagements als Drehbuchautor, gekennzeichnet war von äußerst prekären Umständen.
Mit 3 Dollar 50 in der Tasche und ohne Gepäck im September 1940 endlich in New York angekommen, stand Lania wieder einmal vor einem Neuanfang - und entfaltete umgehend rastlose Aktivität. Er rührte die Trommel für Roosevelts "New Deal", der ihm musterhaft schien für sein Ideal einer "sozialen Demokratie". Er warb für den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, setzte zahlreiche Initiativen in Gang zur Vernetzung und Mobilisierung der europäischen Emigranten und erlangte mit dem Anfang 1941 veröffentlichten Bericht über seine abenteuerliche Flucht, "The Darkest Hour", und seiner im Mai 1942 erschienenen Autobiographie "Today We Are Brothers" - 1954 überarbeitet unter dem Titel "Welt im Umbruch" auf Deutsch - einige Bekanntheit. Ab April 1942 arbeitete er am "German Desk" des "Radio Program Bureau" für die amerikanische Gegenpropaganda, reiste als "Fundraiser" für jüdische Organisationen und als Vortragsredner kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten.
Von Mitte der fünfziger Jahre an schrieb Lania wieder vorwiegend für deutsche, österreichische und Schweizer Zeitungen, war regelmäßig in Österreich und Deutschland zu Besuch; längerfristig ab 1959, da er in enger Zusammenarbeit mit dem damaligen Regierenden Bürgermeister Berlins an einem Buch über Willy Brandt schrieb, das 1960 in Englisch und Deutsch und in acht weiteren Sprachen erschien: "Willy Brandt: Mein Weg nach Berlin". Unvollendet blieb wie vieles andere das Projekt, an dem Lania - er starb im November 1961 in München - zuletzt arbeitete, der Roman "Die Generale", der mit der Mär von der "sauberen Wehrmacht" aufräumt.
Michael Schwaiger nimmt, durchaus emphatisch, aber gleichzeitig mit der nötigen Distanz, mehr das Werk als das Leben Leo Lanias in den Blick und da wiederum hauptsächlich die politische Arbeit. Genau genommen, müsste man einschränken: das veröffentlichte Werk. Im Nachlass in der Wisconsin Historical Society in Madison harren Konvolute von Roman- und Hörspielmanuskripten, Theaterstücke, Drehbücher und Filmentwürfe der Aufarbeitung - Gesamtumfang: 10 000 Seiten.
WALTER SCHÜBLER
Michael Schwaiger:
"Hinter der Fassade der Wirklichkeit". Leben und Werk von Leo Lania.
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