»Wir müssen diese Bilder aushalten«, sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer im November 2021 angesichts frierender Geflüchteter an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Seine Worte machen deutlich, was oft in Vergessenheit gerät: Grenzen sind nicht nur Hindernisse für Menschen, die sie von außerhalb überwinden wollen. Sie verändern auch die Gesellschaften, die sich abzuschotten versuchen.
Volker M. Heins und Frank Wolff zeigen, welche Wirkung Mauern und die Abwehr von Migration »nach innen« entfalten: Das Drängen der EU auf »sichere Außengrenzen« untergräbt das europäische Versprechen auf Frieden und Rechtsstaatlichkeit. Letztendlich gefährden befestigte Grenzen gerade jene demokratischen Werte und Strukturen, die sie zu schützen vorgeben.
Volker M. Heins und Frank Wolff zeigen, welche Wirkung Mauern und die Abwehr von Migration »nach innen« entfalten: Das Drängen der EU auf »sichere Außengrenzen« untergräbt das europäische Versprechen auf Frieden und Rechtsstaatlichkeit. Letztendlich gefährden befestigte Grenzen gerade jene demokratischen Werte und Strukturen, die sie zu schützen vorgeben.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Laut Rezensent Cord Aschenbrenner richten Volker H. Meins und Frank Wolff in ihrer Arbeit über die Gegenwart der europäischen Grenzpolitik den Blick nicht nach außen, sondern nach innen. Primär gehe es dem Politikwissenschaftler Heins und dem Historiker Wolff nämlich nicht um die ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer oder deren Lebensbedingungen in den Herkunftsländern, sondern um die Auswirkungen der dominierenden Abschottungspolitik für die europäischen Gesellschaften. Die Autoren zeigen auf, so Aschenbrenner, dass eine Politik der kategorisch geschlossenen Grenzen auch im Inneren verheerende Auswirkungen hat, insbesondere für die demokratische Kultur. Der Rezensent schließt sich der Auffassung der Autoren an, dass Versuche, das Eigene wie einen Garten zu hüten und in allem Fremden automatisch Schädliches zu sehen, Verrohung nach sich ziehen muss. Dem Fazit von Meins und Wolff, dass stattdessen ein demokratisch legitimiertes Grenzregime angezeigt sei, an dem auch zivilgesellschaftliche Akteure beteiligen sollten, schließt sich Aschenbrenner ohne Einschränkung an.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.07.2023Der hohe Preis der Abschottung
Volker M. Heins und Frank Wolff erklären eindrücklich, was Gesellschaften droht, die „illegale Migration“ unterbinden wollen
Wer der unumstößlichen Meinung ist und bleiben möchte, die Außengrenzen der Europäischen Union sollten deren Mitglieder vor „illegaler Migration“ schützen, wofür ein striktes Grenzregime vonnöten sei – der möge dieses Buch lieber nicht lesen. Es könnte nämlich verunsichernd wirken. Denn der Politikwissenschaftler Volker M. Heins und der Historiker Frank Wolff legen – detailliert recherchiert und mit großer gedanklicher Klarheit – dar, was es für die Seele und den demokratischen Kern von Gesellschaften – nicht nur der europäischen – bedeutet, sich gegen Menschen abzuschotten, die aus welcher Not auch immer versuchen, Zutritt zu ihnen zu erlangen. Gesellschaften also wie die deutsche, die bewusst in Kauf nehmen, dass viele dieser Menschen, unter ihnen Kinder, Schwangere, Kranke und Traumatisierte, auf dem Weg nach Europa entweder sterben, mit massiver Gewalt an den Grenzen zurückgedrängt oder Monate und Jahre in Lagern mehr vegetieren als leben, um dann doch abgewiesen zu werden.
Also: Nicht auf die oft skandalösen Zustände am Rande Europas blicken die beiden Autoren hauptsächlich. Vielmehr richten sie ihr Augenmerk nach innen, darauf nämlich, welche Folgen der Bau von Grenzzäunen und Mauern für offene Gesellschaften hat, die im Schutz dieser Mauern und Zäune leben – aber was heißt hier Schutz? Die Europäer mögen sich wünschen, unbehelligt durch unerwünschte Fremde zu bleiben; was aber Schaden nimmt, ist nicht nur die europäische Idee von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit, sondern auch „die Gegenwart der liberalen Demokratie“, wie die Autoren schreiben. Die Mauern wirkten „destruktiv in die Gesellschaft zurück“, diese werde zur „Akzeptanz von Gewalt und Ausschluss“ erzogen.
Was bedeutet es also für die demokratischen Gesellschaften Europas mit ihren qua Geburt bevorzugten Bürgern, sich zu verbarrikadieren und jene, die über die Barrikaden hinüber wollen, mit Gewalt davon abzuhalten und sie zu kriminalisieren? Denn nichts anderes heißt ja die gängige Formel von der „illegalen Migration“, die sich längst zum Kampfbegriff verselbständigt hat – jeder Schutzsuchende wird erst einmal misstrauisch betrachtet, zumal es Wege der legalen Migration kaum gibt. Hinzu kommt, auch darauf weisen Heins und Wolff hin, dass die gegenwärtigen Grenzregimes, ob im Süden der USA oder an den europäischen Küsten, „ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen“ seien.
Als ob die Realität den beiden Wissenschaftlern in diesen Wochen noch einmal recht geben wollte, sind kürzlich Hunderte Menschen, die aus Libyen aufgebrochen waren, vor Griechenland ertrunken, offenbar, weil die griechische Küstenwache sich weigerte, sie von ihrem maroden Schiff zu retten. Nur einer von vielen derartigen Fällen in den vergangenen Jahren, Folge dessen, dass im Mittelmeer keine staatliche Seenotrettung mehr existiert. Das tut sie deshalb nicht, weil man so Flüchtlinge abschrecken will, das Meer zu überqueren. Auch der jüngste Vorstoß des CDU-Politikers Thorsten Frei zur Abschaffung des individuellen Grundrechts auf Asyl oder seine Idee, Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zurückzuschicken in das Land, wo sie aufbrachen Richtung Europa, zählt dazu.
Den historischen Konstanten Flucht und Migration lässt sich auf diese Art nicht beikommen. Sicher ist aber, dass die Verantwortlichen für die verweigerte Rettung vor den Küsten Schuld an tausendfachem Leid und Tod tragen; eine Schuld, die letztlich die der europäischen Regierungen und Institutionen wie der Grenzschutzagentur Frontex ist (deren großen Einfluss und nur unzureichend kontrolliertes Wirken die Autoren zu Recht als „Musterbeispiel für die Demokratiedefizite der EU“ scharf kritisieren) – und damit unser aller Schuld. Das meinen Heins und Wolff, wenn sie schreiben, die Gewalt an der Grenze greife nach „innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt. Zum anderen fördert sie eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche“. Dazu gehört auch die Gewöhnung an die Kooperation mit autoritären, die Menschenrechte verachtenden Regimen wie in Libyen, Marokko oder der Türkei, um Flüchtlinge und Migranten von Europa fernzuhalten. Die jüngste Entwicklung: Tunesien soll Europas Partner gegen illegale Migration werden.
Geschlossene, möglichst unüberwindliche Grenzen sind eine dunkle, alte Fantasie der extremen politischen Rechten in den USA und Europa, die mittlerweile Anhänger bis tief ins moderate bürgerliche Lager hat. Statt einer offenen Gesellschaft soll ein gegen die Außenwelt geschützter Garten ohne fremdes Unkraut her, metaphorisch gesprochen. Volker M. Heins und Frank Wolff verwahren sich gegen dieses Bild; sie plädieren mit ihrem eindrücklichen, lobenswert verständlich und nachvollziehbar geschriebenen Buch für eine „Demokratisierung der Grenzen“, was nicht deren Abschaffung bedeutet. Sie setzen aber dem „ideenlosen Status quo“ der Abschottung die Idee einer „globalen Nachbarschaft“ entgegen, die Grenzgestaltung nicht nur als staatliche, sondern auch als gesellschaftliche Aufgabe begreift, bei der Gemeinden, Arbeitgeber, Schulen, NGOs ebenso wie Migrationswillige und -gegner ein Mitspracherecht haben.
Zu idealistisch? Angesichts der Lage jenseits und des Denkens diesseits der Mauern nicht.
CORD ASCHENBRENNER
Akzeptanz von Gewalt,
Gewöhnung an Rechtsbruch,
Beschädigung der Demokratie
Volker M. Heins,
Frank Wolff:
Hinter Mauern.
Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene
Gesellschaft.
Suhrkamp-Verlag
(edition suhrkamp),
Berlin 2023. 198 Seiten, 18 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
Zutritt verboten: Griechische Grenzschützer überwachen die türkische Grenze mit der Absicht, „illegale Migration“ zu verhindern.
Foto: Nicolas Economou/Imago
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Volker M. Heins und Frank Wolff erklären eindrücklich, was Gesellschaften droht, die „illegale Migration“ unterbinden wollen
Wer der unumstößlichen Meinung ist und bleiben möchte, die Außengrenzen der Europäischen Union sollten deren Mitglieder vor „illegaler Migration“ schützen, wofür ein striktes Grenzregime vonnöten sei – der möge dieses Buch lieber nicht lesen. Es könnte nämlich verunsichernd wirken. Denn der Politikwissenschaftler Volker M. Heins und der Historiker Frank Wolff legen – detailliert recherchiert und mit großer gedanklicher Klarheit – dar, was es für die Seele und den demokratischen Kern von Gesellschaften – nicht nur der europäischen – bedeutet, sich gegen Menschen abzuschotten, die aus welcher Not auch immer versuchen, Zutritt zu ihnen zu erlangen. Gesellschaften also wie die deutsche, die bewusst in Kauf nehmen, dass viele dieser Menschen, unter ihnen Kinder, Schwangere, Kranke und Traumatisierte, auf dem Weg nach Europa entweder sterben, mit massiver Gewalt an den Grenzen zurückgedrängt oder Monate und Jahre in Lagern mehr vegetieren als leben, um dann doch abgewiesen zu werden.
Also: Nicht auf die oft skandalösen Zustände am Rande Europas blicken die beiden Autoren hauptsächlich. Vielmehr richten sie ihr Augenmerk nach innen, darauf nämlich, welche Folgen der Bau von Grenzzäunen und Mauern für offene Gesellschaften hat, die im Schutz dieser Mauern und Zäune leben – aber was heißt hier Schutz? Die Europäer mögen sich wünschen, unbehelligt durch unerwünschte Fremde zu bleiben; was aber Schaden nimmt, ist nicht nur die europäische Idee von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit, sondern auch „die Gegenwart der liberalen Demokratie“, wie die Autoren schreiben. Die Mauern wirkten „destruktiv in die Gesellschaft zurück“, diese werde zur „Akzeptanz von Gewalt und Ausschluss“ erzogen.
Was bedeutet es also für die demokratischen Gesellschaften Europas mit ihren qua Geburt bevorzugten Bürgern, sich zu verbarrikadieren und jene, die über die Barrikaden hinüber wollen, mit Gewalt davon abzuhalten und sie zu kriminalisieren? Denn nichts anderes heißt ja die gängige Formel von der „illegalen Migration“, die sich längst zum Kampfbegriff verselbständigt hat – jeder Schutzsuchende wird erst einmal misstrauisch betrachtet, zumal es Wege der legalen Migration kaum gibt. Hinzu kommt, auch darauf weisen Heins und Wolff hin, dass die gegenwärtigen Grenzregimes, ob im Süden der USA oder an den europäischen Küsten, „ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen“ seien.
Als ob die Realität den beiden Wissenschaftlern in diesen Wochen noch einmal recht geben wollte, sind kürzlich Hunderte Menschen, die aus Libyen aufgebrochen waren, vor Griechenland ertrunken, offenbar, weil die griechische Küstenwache sich weigerte, sie von ihrem maroden Schiff zu retten. Nur einer von vielen derartigen Fällen in den vergangenen Jahren, Folge dessen, dass im Mittelmeer keine staatliche Seenotrettung mehr existiert. Das tut sie deshalb nicht, weil man so Flüchtlinge abschrecken will, das Meer zu überqueren. Auch der jüngste Vorstoß des CDU-Politikers Thorsten Frei zur Abschaffung des individuellen Grundrechts auf Asyl oder seine Idee, Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zurückzuschicken in das Land, wo sie aufbrachen Richtung Europa, zählt dazu.
Den historischen Konstanten Flucht und Migration lässt sich auf diese Art nicht beikommen. Sicher ist aber, dass die Verantwortlichen für die verweigerte Rettung vor den Küsten Schuld an tausendfachem Leid und Tod tragen; eine Schuld, die letztlich die der europäischen Regierungen und Institutionen wie der Grenzschutzagentur Frontex ist (deren großen Einfluss und nur unzureichend kontrolliertes Wirken die Autoren zu Recht als „Musterbeispiel für die Demokratiedefizite der EU“ scharf kritisieren) – und damit unser aller Schuld. Das meinen Heins und Wolff, wenn sie schreiben, die Gewalt an der Grenze greife nach „innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt. Zum anderen fördert sie eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche“. Dazu gehört auch die Gewöhnung an die Kooperation mit autoritären, die Menschenrechte verachtenden Regimen wie in Libyen, Marokko oder der Türkei, um Flüchtlinge und Migranten von Europa fernzuhalten. Die jüngste Entwicklung: Tunesien soll Europas Partner gegen illegale Migration werden.
Geschlossene, möglichst unüberwindliche Grenzen sind eine dunkle, alte Fantasie der extremen politischen Rechten in den USA und Europa, die mittlerweile Anhänger bis tief ins moderate bürgerliche Lager hat. Statt einer offenen Gesellschaft soll ein gegen die Außenwelt geschützter Garten ohne fremdes Unkraut her, metaphorisch gesprochen. Volker M. Heins und Frank Wolff verwahren sich gegen dieses Bild; sie plädieren mit ihrem eindrücklichen, lobenswert verständlich und nachvollziehbar geschriebenen Buch für eine „Demokratisierung der Grenzen“, was nicht deren Abschaffung bedeutet. Sie setzen aber dem „ideenlosen Status quo“ der Abschottung die Idee einer „globalen Nachbarschaft“ entgegen, die Grenzgestaltung nicht nur als staatliche, sondern auch als gesellschaftliche Aufgabe begreift, bei der Gemeinden, Arbeitgeber, Schulen, NGOs ebenso wie Migrationswillige und -gegner ein Mitspracherecht haben.
Zu idealistisch? Angesichts der Lage jenseits und des Denkens diesseits der Mauern nicht.
CORD ASCHENBRENNER
Akzeptanz von Gewalt,
Gewöhnung an Rechtsbruch,
Beschädigung der Demokratie
Volker M. Heins,
Frank Wolff:
Hinter Mauern.
Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene
Gesellschaft.
Suhrkamp-Verlag
(edition suhrkamp),
Berlin 2023. 198 Seiten, 18 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
Zutritt verboten: Griechische Grenzschützer überwachen die türkische Grenze mit der Absicht, „illegale Migration“ zu verhindern.
Foto: Nicolas Economou/Imago
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»Volker M. Heins und Frank Wolff plädieren mit ihrem eindrücklichen, lobenswert verständlich und nachvollziehbar geschriebenen Buch für eine 'Demokratisierung der Grenzen', was nicht deren Abschaffung bedeutet.« Süddeutsche Zeitung