Im rauen Herzen der Maremma liegt der alte, in Felsen gehauene Ort, Le Case. Es ist ein aussterbendes Dorf, ein Provinznest, in dem sich die Bewohner in einem Fluss öder Tage dahinschleppen - bis ihre Gemeinschaft durch die Ankunft von Samuele Radi aufgerüttelt wird. Samuele ist in Le Case geboren und aufgewachsen, hat aber den Absprung in die Welt geschafft.Seine Rückkehr haucht alten Geheimnissen und Animositäten neues Leben ein. Samueles heimliche Liebesbeziehung zu Eleanora, die neu im Dorf ist, macht die Sache nicht einfacher.Mit seiner vielperspektivischen Erzählweise schafft Sacha Naspini einen kraftvollen Roman. Seine raffinierte Struktur und die unvergesslichen Charaktere machen das Buch zu einem psychologischen Meisterwerk und einer scharfsinnigen Analyse der menschlichen Abgründe.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit "Hinter verschlossenen Türen" hat Sasha Naspini ein wenig vorteilhaftes Portrait seines Heimatdorfs in der italienischen Region Maremma geschaffen, findet Rezensentin Christiane Pöhlmann. Aus dreiundzwanzig unterschiedlichen Perspektiven, die laut der Rezensentin allerdings kaum aufeinander bezogen werden, wird vom Leben in diesem Dorf erzählt - vom körperlichen Verfall der alten Menschen, von Gewalt in einem ungewöhnlichen Mikrokosmos. Als der im Klappentext als "Unmensch" benannte Samuele in das Dorf zurückkehrt, ändert sich laut Pöhlmann wenig; allenfalls werde durch die gesteigerte Unzuverlässigkeit der Erzählstimme die Wahrhaftigkeit der Geschichte infrage gestellt. Auch von der durch Mirjam Bitter und Henrieke Markert besorgten Übersetzung aus dem Italienischen ist Pöhlmann nicht ganz überzeugt. Der Roman kommt also in ihrer Rezension nur stellenweise besser davon als das Dorf Le Case in Naspinis Text.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2024Die abgehängte Toskanafraktion
Bitte drauf achten, die Bewohner nicht zu füttern: In seinem neuen Roman "Hinter verschlossenen Türen" stellt Sacha Naspini ein Dorf in der Maremma bloß
Vor gut dreißig Jahren brachte Gianna Nannini ein Album mit einer Interpretation des traditionellen Liedes "Maremma" heraus: Alle reden ständig von ihr, aber verflucht sei sie, diese sumpfige Gegend, die doch nur das eigene Ich verbiegt und zerreißt . . . Das nachfolgende Stück in Nanninis Album trug den Titel "Lamento" - was bestens die Leseerfahrung von Sacha Naspinis neuem Roman "Hinter verschlossenen Türen" zusammenfasst. Sein Ort Le Case liegt irgendwo in diesem Sumpfland, das Dorf "bringt dich zur Welt, und dann vernichtet es dich".
Zunächst lässt es sich erzählerisch noch halbwegs passabel an. Naspini, 1976 ebenfalls in dieser Gegend zur Welt gekommen, nimmt dreiundzwanzig Einzelstimmen und spendiert ihnen ihre Viertelstunde Ruhm, in der sie allein auf der Bühne stehen und ihre Lebensgeschichte vortragen dürfen. Hauptsächlich sind es alte Menschen, die ihren körperlichen Verfall genüsslich beschreiben: Der Dorfdepp lässt sich von einer Tattergreisin einen blasen, nachdem die vorher ihr Gebiss herausgenommen hat. Der Arzt setzt alles daran, eine Fresssüchtige in den Masttod zu treiben, ein Gespann aus Vater und Sohn streut in einer engen Kurve Schotter, jagt damit Autos in den Abgrund und fleddert anschließend die Leichen. Es ist ein reines Gruselkabinett. "Wer möchte, soll nach Le Case hinaufkommen und eine Runde in diesem Park der seltsamen Tiere drehen, aber darauf achten, sie nicht zu füttern." Um mit diesem Figurenreigen Spannung aufzubauen, müsste Naspini geschickt Fährten auslegen. Das tut er nicht. Sein Roman ist zwar vielstimmig, aber insofern nicht multiperspektivisch, als die einzelnen Figuren nicht einander widersprechen. Der Vorwurf der Redundanz ist Naspini nicht zu machen, wohl aber jener der Beliebigkeit.
Der Klappentext verheißt dann Aufruhr, als Samuele, der "Unmensch" oder "Wüstling", nach ein paar Jahren in das Dorf zurückkehrt. Doch ein junger Mann ist keine alte Dame, sein Besuch ändert - Dürrenmatt zum Trotz - rein gar nichts, vor allem weil er nach wie vor ein armer Schlucker ist, der keine Milliarde für einen Mord bieten kann. Dass dieser sofort begangen werden würde, dürfte kein Gegenstand von Wetten sein.
Naspini sucht Zuflucht in einer ebenso naheliegenden wie banalen Lösung: Er stellt die Wahrhaftigkeit des Erzählten infrage. Dafür bietet er mehrere Szenarien an: Die Geschichten gehen auf die Zwergin Piera zurück, die von Geburt an taub ist, nach einem Blitzschlag aber hören kann. Das verheimlicht sie, denn die "neue Fähigkeit war ein Geschenk. Eingequetscht von Le Cases Pöbel hörte ich die Gespräche der garstigen Hexen." Le Case geht als Roman in Serie, das Dorf wird zur touristischen Attraktion. Alternativ hat Samuele seiner ersten Liebe Clara alles erzählt, die daraus einen Roman gemacht hat. Möglicherweise stellt das Beschriebene auch einen Fieberwahn von ihm dar, die Folge eines Gedächtnisverlusts nach einem Unfall oder eine psychische Störung. In der Schwebe bleibt dann, ob Le Case einem Erdbeben zum Opfer fällt oder ob es unverdrossen weiter herumsumpft.
Sprachlich sieht es ähnlich trist aus. Naspini neigt gegen Ende zu kitschigen Bildern - "Unsere Küsse waren Balsam für Pflanzen und Vögel" - und erklärt, was keiner Erklärung bedarf. Als Le Case in Geröll und Schlamm untergeht, legt er Piera die Worte in den Mund: "All das Böse, das über sich selbst zusammenbricht wie ein Ungeheuer, das seine eigene Abscheulichkeit nicht mehr erträgt." Mirjam Bitter, sonst eine gute Übersetzerin, hat zusammen mit Henrieke Markert leider nicht ihre beste Arbeit abgeliefert. Es geht mit dem ersten Satz los: "Sie sagen alle, die silberne Maschine ist mit hundert Sachen auf der großen Straße vom alten Kramladen zum Dorf hinaufgerast." Die "Maschine" ist kein Motorrad, im Original steht auch nicht, wie zunächst vermutet, "macchina", sondern "bolide": ein (schnelles) Auto, eben ein Bolide. Vor allem überzeugt das Mündliche nicht ganz: Bildschöne Konjunktive kombinieren die Übersetzerinnen mit ein, zwei gewagteren Ausdrücken, wobei sie selbst zugeben, in Absprache mit dem Lektorat "die sprachliche Gewalt etwas zurückgenommen" zu haben, auch wenn sie nichts "beschönigen" wollten. Immerhin diese Fragen bieten einige Anregungen: Wie weit muss eine Leserschaft beschützt werden, die ja freiwillig in diese fiktive Welt eintritt, wie steht es um die Gestaltungshoheit des Autors oder der Autorin, und wie können Figuren mit sensibler Sprache in ihrem unsensiblen Verletzen glaubhaft dargestellt werden?
"In der Maremma wird dir nichts geschenkt" - in diesem Fall nicht einmal das Glück einer anregenden Lektüre. Lamento. CHRISTIANE PÖHLMANN
Sacha Naspini:
"Hinter verschlossenen Türen". Roman.
Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter und
Henrieke Markert.
Kein & Aber Verlag,
Zürich 2024.
576 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Bitte drauf achten, die Bewohner nicht zu füttern: In seinem neuen Roman "Hinter verschlossenen Türen" stellt Sacha Naspini ein Dorf in der Maremma bloß
Vor gut dreißig Jahren brachte Gianna Nannini ein Album mit einer Interpretation des traditionellen Liedes "Maremma" heraus: Alle reden ständig von ihr, aber verflucht sei sie, diese sumpfige Gegend, die doch nur das eigene Ich verbiegt und zerreißt . . . Das nachfolgende Stück in Nanninis Album trug den Titel "Lamento" - was bestens die Leseerfahrung von Sacha Naspinis neuem Roman "Hinter verschlossenen Türen" zusammenfasst. Sein Ort Le Case liegt irgendwo in diesem Sumpfland, das Dorf "bringt dich zur Welt, und dann vernichtet es dich".
Zunächst lässt es sich erzählerisch noch halbwegs passabel an. Naspini, 1976 ebenfalls in dieser Gegend zur Welt gekommen, nimmt dreiundzwanzig Einzelstimmen und spendiert ihnen ihre Viertelstunde Ruhm, in der sie allein auf der Bühne stehen und ihre Lebensgeschichte vortragen dürfen. Hauptsächlich sind es alte Menschen, die ihren körperlichen Verfall genüsslich beschreiben: Der Dorfdepp lässt sich von einer Tattergreisin einen blasen, nachdem die vorher ihr Gebiss herausgenommen hat. Der Arzt setzt alles daran, eine Fresssüchtige in den Masttod zu treiben, ein Gespann aus Vater und Sohn streut in einer engen Kurve Schotter, jagt damit Autos in den Abgrund und fleddert anschließend die Leichen. Es ist ein reines Gruselkabinett. "Wer möchte, soll nach Le Case hinaufkommen und eine Runde in diesem Park der seltsamen Tiere drehen, aber darauf achten, sie nicht zu füttern." Um mit diesem Figurenreigen Spannung aufzubauen, müsste Naspini geschickt Fährten auslegen. Das tut er nicht. Sein Roman ist zwar vielstimmig, aber insofern nicht multiperspektivisch, als die einzelnen Figuren nicht einander widersprechen. Der Vorwurf der Redundanz ist Naspini nicht zu machen, wohl aber jener der Beliebigkeit.
Der Klappentext verheißt dann Aufruhr, als Samuele, der "Unmensch" oder "Wüstling", nach ein paar Jahren in das Dorf zurückkehrt. Doch ein junger Mann ist keine alte Dame, sein Besuch ändert - Dürrenmatt zum Trotz - rein gar nichts, vor allem weil er nach wie vor ein armer Schlucker ist, der keine Milliarde für einen Mord bieten kann. Dass dieser sofort begangen werden würde, dürfte kein Gegenstand von Wetten sein.
Naspini sucht Zuflucht in einer ebenso naheliegenden wie banalen Lösung: Er stellt die Wahrhaftigkeit des Erzählten infrage. Dafür bietet er mehrere Szenarien an: Die Geschichten gehen auf die Zwergin Piera zurück, die von Geburt an taub ist, nach einem Blitzschlag aber hören kann. Das verheimlicht sie, denn die "neue Fähigkeit war ein Geschenk. Eingequetscht von Le Cases Pöbel hörte ich die Gespräche der garstigen Hexen." Le Case geht als Roman in Serie, das Dorf wird zur touristischen Attraktion. Alternativ hat Samuele seiner ersten Liebe Clara alles erzählt, die daraus einen Roman gemacht hat. Möglicherweise stellt das Beschriebene auch einen Fieberwahn von ihm dar, die Folge eines Gedächtnisverlusts nach einem Unfall oder eine psychische Störung. In der Schwebe bleibt dann, ob Le Case einem Erdbeben zum Opfer fällt oder ob es unverdrossen weiter herumsumpft.
Sprachlich sieht es ähnlich trist aus. Naspini neigt gegen Ende zu kitschigen Bildern - "Unsere Küsse waren Balsam für Pflanzen und Vögel" - und erklärt, was keiner Erklärung bedarf. Als Le Case in Geröll und Schlamm untergeht, legt er Piera die Worte in den Mund: "All das Böse, das über sich selbst zusammenbricht wie ein Ungeheuer, das seine eigene Abscheulichkeit nicht mehr erträgt." Mirjam Bitter, sonst eine gute Übersetzerin, hat zusammen mit Henrieke Markert leider nicht ihre beste Arbeit abgeliefert. Es geht mit dem ersten Satz los: "Sie sagen alle, die silberne Maschine ist mit hundert Sachen auf der großen Straße vom alten Kramladen zum Dorf hinaufgerast." Die "Maschine" ist kein Motorrad, im Original steht auch nicht, wie zunächst vermutet, "macchina", sondern "bolide": ein (schnelles) Auto, eben ein Bolide. Vor allem überzeugt das Mündliche nicht ganz: Bildschöne Konjunktive kombinieren die Übersetzerinnen mit ein, zwei gewagteren Ausdrücken, wobei sie selbst zugeben, in Absprache mit dem Lektorat "die sprachliche Gewalt etwas zurückgenommen" zu haben, auch wenn sie nichts "beschönigen" wollten. Immerhin diese Fragen bieten einige Anregungen: Wie weit muss eine Leserschaft beschützt werden, die ja freiwillig in diese fiktive Welt eintritt, wie steht es um die Gestaltungshoheit des Autors oder der Autorin, und wie können Figuren mit sensibler Sprache in ihrem unsensiblen Verletzen glaubhaft dargestellt werden?
"In der Maremma wird dir nichts geschenkt" - in diesem Fall nicht einmal das Glück einer anregenden Lektüre. Lamento. CHRISTIANE PÖHLMANN
Sacha Naspini:
"Hinter verschlossenen Türen". Roman.
Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter und
Henrieke Markert.
Kein & Aber Verlag,
Zürich 2024.
576 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»Eine bitterböse, hochkomische und raffiniert konstruierte Geschichte über die Enge der italienischen Provinz (...) Sacha Naspinis Roman sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen.« Christine Gorny, Radio Bremen 2, 10.08.2024 Bremen Zwei 20240810