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Die neuesten Ergebnisse der Neurowissenschaften zeugen von dem hohen Interesse am Zusammenhang von Hirn und Zeit. Wenn sie statuieren, dass Impulse im Hirn Handlungen bereits vor der bewussten Entscheidung auslösen, hat dies weitreichende Konsequenzen u.a. für Philosophie, Recht, Ethik und Soziologie. Diese 'neuen' Ergebnisse beruhen im Wesentlichen auf einem Experiment, dessen Geschichte ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht. Henning Schmidgen erzählt sie in diesem Standardwerk der Wissenschaftsgeschichte erstmals und wirft ein neues Licht auf das Wesen des Experiments im Allgemeinen. Er…mehr

Produktbeschreibung
Die neuesten Ergebnisse der Neurowissenschaften zeugen von dem hohen Interesse am Zusammenhang von Hirn und Zeit. Wenn sie statuieren, dass Impulse im Hirn Handlungen bereits vor der bewussten Entscheidung auslösen, hat dies weitreichende Konsequenzen u.a. für Philosophie, Recht, Ethik und Soziologie. Diese 'neuen' Ergebnisse beruhen im Wesentlichen auf einem Experiment, dessen Geschichte ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht. Henning Schmidgen erzählt sie in diesem Standardwerk der Wissenschaftsgeschichte erstmals und wirft ein neues Licht auf das Wesen des Experiments im Allgemeinen. Er zeigt die Wirksamkeit des Historischen, auch da, wo es vermeintlich keine Rolle spielt und skizziert die Geschichte einer Moderne, die nie modern gewesen ist.
Autorenporträt
Henning Schmidgen, 1965 in Münster geboren, studierte Psychologie, Philosophie und Linguistik in Berlin und Paris, promovierte über Félix Guattari und war anschließend Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, dann Professor für Medienästhetik an der Universität Regensburg. Seit 2014 ist er Professor für Theorie medialer Welten an der Bauhaus- Universität Weimar.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Psychophysiologie beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen unseren körperlichen Reizen und unserem Bewusstsein, erfährt Thomas Thiel in Henning Schmidgens "Hirn und Zeit", in dem dieser die gesamte Geschichte der Disziplin "bis hin zur kleinsten experimentellen Stellschraube" aufrollt, was das Buch für Laien zu einer echten Herausforderung macht, wie der Rezensent warnt. Das vorläufige Ergebnis, das bereits 1850 von Hermann von Helmholtz formuliert wurde: eine Zehntelsekunde Verzögerung liegt zwischen Reiz und Wahrnehmung, verrät Thiel. Die spannendste Frage war für die Psychophysiologie seitdem, wie sich unsere Vorstellung eines freien Willens mit den bisherigen Erkenntnissen vereinen lässt, so der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2014

So zuckt der Froschschenkel
Henning Schmidgens Geschichte der Psychophysiologie

Die Frage, mit welcher Geschwindigkeit ein Reiz durch die Nervenbahnen läuft, ist nur auf den ersten Blick reine Medizinersache. Berühmt wurde das Experiment des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet, das mit dem behaupteten Nachweis, unser Bewusstsein verarbeite erst nachträglich, was sich im Gehirn längst entschieden habe, eine Debatte über die Willensfreiheit vom Zaun brach. Libets Versuch datiert aus den achtziger Jahren. Er fiel nicht aus der Luft. Vor ihm lagen rund hundertfünfzig Jahre experimentelle Erforschung der zeitlichen Taktung von Gehirnprozessen. Berühmte Physiologen, Psychologen, Kybernetiker waren an ihr beteiligt, klangvolle Namen wie Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond sind mit ihr verknüpft. Kaum zu überblicken sind die Umstellungen des experimentellen Aufbaus, die wechselnden Interessen, die Aufzeichnungmethoden und Versuchsobjekte, die Libets These den Weg bahnten, und mehr noch: sie teils schon vorwegnahmen.

Die wuchtige Studie des Wissenschaftshistorikers Henning Schmidgen folgt dem Gang dieser Versuche zur Freude des Physiologiehistorikers und zur Mühsal des Laien bis hin zur kleinsten experimentellen Stellschraube. Damit wird die Annahme, man habe beim Experimentieren in den Laboren von Heidelberg, Berlin, Königsberg oder Amsterdam schon immer gewusst, wo man später einmal landen werde, zwar wirksam zerstört, aber es stellt sich auch die Frage, ob es aus verlegerischer Sicht nicht sinnvoll gewesen wäre, dem breiten Publikum eine weniger detailreiche Version zu präsentieren.

Es dauert einige hundert Seiten, bis ein erzählerisches Plateau erreicht ist, von dem aus der Leser auch gern den Seitenwegen der Experimentalgeschichte folgt, weil er sie als relevant für den Hauptstrom begreift, und dargestellte Nebengleise und Sackgassen der Forschung Eigengewicht gewinnen. Unbestreitbar ist Schmidgen aber ein eleganter Erzähler. Etwas zugespitzt könnte man von der romanesken Struktur wissenschaftlichen Fortschritts sprechen, gespiegelt in der Form ihrer Präsentation.

Wer doch ein Zentrum in diesem Geflecht sucht, ist mit Hermann von Helmholtz gut beraten. Der berühmte Physiologe kam in seinen Versuchen zur Messung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Reizes in den Nervenbahnen dem verspäteten Bewusstsein als einer der Ersten auf die Spur - sofern man nicht auf Schopenhauer Spekulationen zurückkommen möchte, die in ähnliche Richtung wiesen. Für die praktischen Interessen, resümierte Helmholtz damals, spiele die Verspätung allerdings keine Rolle.

So steht es in einem Forschungsbericht von 1850, der Helmholtz' Messungen am Froschmuskel zusammenfasst. Neu waren diese Versuche darin, dass sie die Reizgeschwindigkeit direkt am Muskel maßen, sich also von psychologischen Faktoren unabhängig machten. Freilich brachte das eine Verengung des Erkenntnisspektrums auf unwillkürliche, zumindest unreflektierte Bewegungen. Wie ging Helmholtz vor? Er stimulierte verschiedene Punkte auf den Nervenbahnen, die zu dem Froschmuskel führten, und leitete aus der zeitlichen Differenz der jeweiligen Muskelreaktion die Impulsgeschwindigkeit ab. Das Ergebnis, also die Zeit, die das Bewusstsein der Wahrnehmung hinterherläuft, pendelte sich bei einer Zehntelsekunde ein. Beim Wal dauert es demnach fast eine Sekunde, bis er merkt, dass ihn die Schwanzflosse juckt. Als Helmholtz das Experiment vom Frosch auf den Menschen übertrug, wuchs auch das öffentliche Interesse.

Von Helmholtz macht Schmidgen einen Sprung von fast hundert Jahren zur Kybernetik. In ihrem Versuch, den menschlichen Organismus als Schaltkreis zu konfigurieren, stießen nämlich auch die Kybernetiker auf einen Grundtakt, eine Art innere Uhr, die allen Körperprozessen zugrunde liegt. Es war genau jene Helmholtzsche Zehntelsekunde. Was aus dieser Erkenntnis folgt, bleibt leider offen. Es schließt sich immerhin der Kreis zu Benjamin Libet, der an den kybernetischen Versuchen beteiligt war. Im Unterschied zur klassischen Kybernetik, die den humanen Faktor als Black Box konzipierte, als Teil unter anderen im technischen Versuchsapparat, brachte Libet Begriffe wie Wille und Bewusstsein in die Diskussion zurück.

Das alte Vokabular der Psychologie war da schon lange unter Beschuss geraten, die willentliche Lenkung des Bewusstseins vielfach vom transzendenten Vermögen zur reinen Illusion zurückgestuft worden. Es war der Freiburger Psychologe Hugo Münsterberg, der Ende des 19. Jahrhunderts Begriffe wie Überlegung und Wille in Anführungszeichen setzte, weil er jede Willenshandlung für genauso bedingt und reflexhaft wie die Muskelzuckungen eines Froschschenkels hielt. Hier war das Seelenleben ausdrücklich nur noch Epiphänomen, ein passives Anhängsel des Körpers. In Pointenform: Wir zittern nicht, weil wir Angst haben, sondern wir haben Angst, weil wir zittern.

Schmidgen lässt Zweifel an der Reduktion der Psyche auf das Reflexhafte zwar anklingen, eine Einordnung von Libets Experiment vermisst man jedoch. Nicht nur, weil das Leserinteresse damit zu Beginn geködert wurde, sondern auch als Auskunft über die Erkenntnisgrenzen der Psychophysiologie. Allein die kaum zu klärende Frage, auf welchen Impuls die experimentelle Erforschung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit zurückgeht, könnte ein Anlass sein, den Willen nicht so schnell auszusortieren.

THOMAS THIEL.

Henning Schmidgen: "Hirn und Zeit". Die Geschichte eines Experiments 1800-1950. Matthes & Seitz, Berlin 2014. 698 S., Abb., geb., 49,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Auf wenigen Seiten zusammenzufassen, was sich in Henning Schmidgens Buch so alles zuträgt, ist nicht einfach [...], weil sich hier viel Liebe zum Detail mit fast ebenso viel Hingabe in Sachen theoretisch-historiographischer Programmatik verbündet. Das Resultat ist so vielschichtig wie weitschweifig, so nuancen- wie umfangreich.« Max Stadler Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 20150901