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Können Sie sich vorstellen, plötzlich nicht mehr in der Lage zu sein, sich im Spiegel zu erkennen oder beim Lesen den Sinn der Buchstaben zu erfassen? Episoden wie diese zeigen, wie eng unser gesamtes Weltverständnis mit einer intakten Hirnfunktion verwoben ist. Indem Reinhard Werth als Kliniker und Neurowissenschaftler seine Begegnungen mit Betroffenen schildert, vermittelt er einen ungewöhnlichen Einblick in die Welten menschlichen Erlebens, Denkens und Handelns.

Produktbeschreibung
Können Sie sich vorstellen, plötzlich nicht mehr in der Lage zu sein, sich im Spiegel zu erkennen oder beim Lesen den Sinn der Buchstaben zu erfassen? Episoden wie diese zeigen, wie eng unser gesamtes Weltverständnis mit einer intakten Hirnfunktion verwoben ist. Indem Reinhard Werth als Kliniker und Neurowissenschaftler seine Begegnungen mit Betroffenen schildert, vermittelt er einen ungewöhnlichen Einblick in die Welten menschlichen Erlebens, Denkens und Handelns.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Hirnforschung mit Getriebeschaden
Per Allradantrieb ins Reich der Sinne: Reinhard Werth untersucht neurologische Phänomene - auf dem Seziertisch und in der Wüste / Von Achim Bahnen

Als der Stationsarzt am Morgen zur Visite vorbeischaut, klagt der Patient: Sein Nachbar habe ihn die ganze Nacht über betastet, richtig indiskret sei er gewesen. Der Arzt sieht den Patienten allein im Zimmer liegen und weiß, daß es sich nicht um ein soziales, sondern ein neurologisches Problem handelt: eine Bewußtseinsstörung, die als unilateraler Neglect bezeichnet wird. Infolge einer Hirnschädigung ist plötzlich nur noch eine Hälfte der Welt vorhanden, in schweren Fällen sogar nur noch eine Seite des eigenen Körpers wahrnehmbar.

Skurrile Pathologien tragen ein gut Teil zur Faszination der Hirnforschung bei. Dem unversehrten Leser tut sich dabei eine fantastisch anmutende, kaum nachvollziehbare Welt auf. Kann man sich vorstellen, das Gesicht einer vertrauten Person zu sehen, es auch als Gesicht wahrzunehmen und dennoch keiner Person zuordnen zu können? Erst durch Stimme oder Kleidung wird sie als Tochter, Vater oder Bruder identifziert. Oliver Sacks hat ähnliche Krankheitsbilder in Büchern wie "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" einem großen Publikum nahegebracht. Dem Münchner Neuropsychologen Reinhard Werth geht es nun nicht darum, die Liste solcher Beschreibungen einfach zu verlängern. Seine "Hirnwelten" eröffnen über die einfühlsame Schilderung von Patientenschicksalen hinaus viele weitere Welten eines passionierten Hirnforschers. Abenteuerliche Reisen in die Wüsten der Tuareg zählen ebenso dazu wie die unappetitliche Arbeit in den Kühlräumen der Gerichtsmedizin. Keine Schädelstätten des Geistes liegen vor uns, sondern ein fesselnder, ein mitreißender Erfahrungsbericht von stellenweise schonungsloser Offenheit.

"Mit der Spitze einer kräftigen chirurgischen Schere stach ich unter dem Brustbein ein, schnitt den Brustkorb in der Länge auf. Eine große scherenartige Klammer spreizte die beiden Brusthälften auseinander und fixierte sie in dieser Position." Und eine kleine Aster glitt in das Gehirn, möchte man hinzufügen, verstört - wie frühere Leser von den Versen des Mediziners Benn - durch die Präsenz der nüchtern beschriebenen physischen Gewalt. Sprache kann schneidend sein wie ein Seziermesser.

Kein ersoffener Bierfahrer liegt hier auf dem Tisch, sondern Katzen oder Affen. Kein Individuum, sondern namenlose Versuchsobjekte, die zu Forschungszwecken ihr Leben lassen. "Nach einer gewissen Eingewöhnungszeit werden derartige Experimente und auch das Töten zur Routine." Der Zorn von Tierschützern ist Reinhard Werth gewiß; er hat ihn nicht verdient. Wie einfach wäre es gewesen, die unangenehmen Seiten seiner Disziplin pietätvoll auszublenden. Aber Werth will weder verschweigen noch beschönigen, daß vor geistreichen neurowissenschaftlichen Theorien auch brutale, im Wortsinne brachiale, mit den Armen geleistete Arbeit steht - Tötungsarbeit eingeschlossen. Foucaults Satz, daß der Tod der Spiegel sei, in dem das Wissen das Leben betrachtet, hat nichts an Gültigkeit eingebüßt.

Nur ist es heute oft die Eitelkeit, die in den Spiegel blickt, wenn Lebewesen etwa für die Kosmetikforschung leiden und sterben. Für Tierexperimente zur Herstellung "überflüssiger Produkte" hat Werth auch kein Verständnis; in der klinischen Forschung aber bleibe ein unvermeidlicher Rest von Gewalt bestehen: "Außenstehende mögen solche Szenen grausam finden. Doch um dem menschlichen Leben mit neuen Erkenntnissen der Medizin zu dienen, müssen Tiere sterben, auch wenn sie klein sind und unsere Zuneigung gewinnen." Der Schluß ist nicht ganz so zwingend, wie es scheint. Medizinischer Fortschritt ist auch ohne Tierversuche möglich, allerdings bei weitem nicht mit jener Dynamik und Sicherheit, an die wir gewöhnt sind und von deren Ergebnissen wir im Krankheitsfall gern profitieren.

Weitaus friedlicher als im heimischen Labor gestaltet sich die Forschung bei Nomadenstämmen. Um Menschen fernab der Zivilisationszentren für Experimente zur Raum- und Zeitwahrnehmung zu gewinnen, braucht es vor allem Geduld und Gespür für fremde Gebräuche. Die ersten Ergebnisse waren nicht sonderlich aufregend: Die von Werth besuchten Tuareg halbierten Linien genauso treffsicher wie Durchschnittseuropäer, nur Tondauern wurden leicht verkürzt oder verlängert reproduziert. Um so abenteuerlicher stellte sich dagegen der Weg in diese entlegenen Regionen dar. Mit Lust und einem Schuß Egozentrik zeichnet Werth ein Selbstporträt des Wissenschaftlers als junge Wüstenreisende. Getriebeschäden und zerquetschte Reifen - auch das ist Teil der Forschungsrealität. Das ursprüngliche Erkenntnisinteresse kann dabei leicht in den Hintergrund treten, und bald entsteht der "Eindruck der Relativität eines allein auf Forschung ausgerichteten Denkens der Wissenschaftsgemeinschaft".

Zu diesem Denken gehört in den sogenannten Erfahrungswissenschaften die systematische Reduktion von Wirklichkeitserfahrung auf experimentell reproduzierte Sachverhalte. Genau darum geht es dem Hirnforscher Werth: nachzuweisen, daß das Bewußtsein als wissenschaftlicher Gegenstand Experiment und Analyse zugleich ist. Als Sachbuchautor hingegen will er das ganze Spektrum der Erfahrung zur Geltung bringen, als verlange die berufliche Wirklichkeitsverkürzung nach erzählerischer Kompensation. Die dabei angestrebte "Vermischung von Sach- und persönlicher Erlebnisebene" ist Werth beispielhaft geglückt. Für die stereotype Art, in der Forschungsergebnisse gemeinhin veröffentlicht werden, hat er nur vernichtende Kritik übrig, denn hier "entsteht kein Aufwind, der in intellektuelle Höhenlagen trägt". Auch die übertriebene Spezialisierung in den Naturwissenschaften kritisiert er mit kurzen, harschen Bemerkungen, ohne in Larmoyanz zu verfallen.

Das eigene, wissenschaftlich einschlägige Fachwissen will Werth dem Leser nicht vorenthalten. Eine knappe, verständliche Darstellung der neurophysiologischen Grundlagen ist ebenso in den Text eingebettet wie Werths Ansatz zur Einführung eines "wissenschaftlich adäquaten Bewußtseinsbegriffs". Um das in der Forschungsliteratur meist als "unbewußtes Sehen" bezeichnete Phänomen genauer zu analysieren, wurden Experimente entwickelt, mit denen sich der Grad, in dem eine bestimmte Wahrnehmung bewußt ist, quantifizieren läßt. Auch die Wahrnehmung visueller Reize, die keinen gewöhnlichen Seheindruck hervorrufen, läßt sich so als bewußte Empfindung beschreiben. Werths Argumentation ist trotz ihrer Kürze nachvollziehbar, auch wenn hier erst "Bewußtheit" erfaßt sein mag und noch keine vollständige Bewußtseinstheorie vorliegt. Und bevor der Leser sich fragt, wo darin das Selbstbewußtsein zu finden wäre, wird er wieder vom Rande des Bewußtseins mitten in die weite Wüstenwelt entführt.

Zum Schluß kehrt die Gewalt zurück. Werth zeigt sich dann von Kriminalfällen ähnlich fasziniert wie der einstige Student der vergleichenden Anatomie und Psychopathologie Georg Büchner: "Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren." Wäre Dantons Ansinnen realisierbar, hätte sich Derrick manche Ermittlungsarbeit erspart. Bei dem von Werth beschriebenen amerikanischen Mordfall geht es nicht um Zurechnungsfähigkeit und Halluzinationen, sondern lediglich um die Frage, ob die Tat von einem Linkshänder begangen werden konnte. Das ist aus Sicht der Bewußtseinsforschung nicht sehr ergiebig und ließe sich bündig klären. Werth aber füllt mit den Details des Tathergangs und der Urteilsfindung acht - zugegebenermaßen spannende - Seiten. Er wird zum Opfer seiner eigenen Erzähllust, und das Buch bekommt eine unnötige Schieflage hin zum effektvoll Spektakulären. Im Gegensatz zu den übrigen Episoden aus der Gerichtsmedizin fehlt Werth nämlich in diesem Fall, den er sich offenbar aus Presseberichten erschlossen hat, die persönliche Erfahrungsbasis. Die aber ist ansonsten reich genug, um den Leser durchweg in Bann zu ziehen.

Reinhard Werth: "Hirnwelten". Berichte vom Rande des Bewußtseins. Verlag C. H. Beck, München 1998. 231 S., 11 Abb., geb., 38,- DM.

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