Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2019Eine Liebesgeschichte von goldiger Naivität
Und zugleich die gelungenste Parodie der Gattung: "Daphnis und Chloe", Longos' antiker Roman über Verlangen und Erfüllung, ist von Kurt Steinmann neu ins Deutsche übertragen worden, vergnüglich.
Man müßte ein ganzes Buch schreiben, um alle großen Vordienste dieses Gedichts nach Würden zu schätzen. Man tut wohl, es alle Jahr einmal zu lesen, um immer wieder daran zu lernen und den Eindruck seiner großen Schönheit aufs neue zu empfinden." Als Goethe mit diesen Worten gegenüber Eckermann am 20. März 1831 den kleinen Schäferroman "Daphnis und Chloe" zu jährlich neuer Lektüre empfahl, war das Interesse des Publikums an allen Gattungen der Bukolik gerade auf den tiefsten Punkt gesunken. Die Romantik konnte mit dem tändelnden Ton und der Symbolik der Hirtendichtung nichts mehr anfangen, einer antiken literarischen Form, deren neuzeitliche Wiederbelebung im Humanismus begann und in Rokoko endete und zu der Goethe im seiner Jugend selbst noch beigetragen hatte. Er hatte "Daphnis und Chloe", den berühmtesten Roman der Antike, nicht im griechischen Original gelesen, sondern in der französischen Übersetzung des Humanisten Jacques Amyot aus dem Jahre 1559, die noch vor dem griechischen Erstdruck (Paris 1598) erschien. Der Geistliche Amyot ist überhaupt der neuzeitliche Wiederentdecker des griechischen Romans und hat unter anderem auch die großen welthaltigen, wohl im 3. Jahrhundert n. Chr. entstandenen "Aithiopika" ("Äthiopische Geschichten") des Heliodor aus Emesa in französischer Übertragung herausgebracht.
Die "Äthiopischen Geschichten" sind ein richtiger ,Wälzer' voller Abenteuer, doch an Bekanntheit und Beliebtheit unter den zahlreichen, großenteils verlorenen griechischen Romanen wurden sie schon im Altertum von "Daphnis und Chloe" weit übertroffen, dem kleinsten griechischen Hirtenroman. Über den Autor des Buches weiß man so gut wie nichts. Er trug den Namen Longos, dessen lateinische Form Longus in der Spätantike ein verbreiteter Name für freigelassene griechische Sklaven war. Er lebte, wie man aus Indizien, etwa der subtilen Bauform, schließen möchte, nicht vor dem Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus in Mytilene auf der Insel Lesbos, wo rund 800 Jahre zuvor auch Sappho, die berühmteste Dichterin des Altertums, ihre Lieder von der "süß-bitteren" (so ihr Wort!) Macht der Liebe gesungen hatte. Kein schlechter Herkunftsort also auch für den Dichter eines Liebesromans, der unter den zahlreichen Werken dieser Gattung deutlich herausragt. Es ist erfreulich, dass Kurt Steinmann, der in diesem Jahr den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhält, nach den Übertragungen von "Ilias" und "Odyssee" und der Orestie des Aischylos seine Kunst an die Übertragung dieses eher selten verdeutschten heiteren Romans gewandt hat.
Die Handlung ist ganz auf zwei junge Menschen konzentriert, die, als Findelkinder von Hirten aufgenommen, selbst als Ziegen- und Schafhirten in einer schönen Landschaft aufwachsen. "Schön" ist eines der häufigsten Adjektive, mit dem immer wieder sie selbst oder zu ihnen gehörige Gegenstände charakterisiert werden, so auch die ihnen bei der Aussetzung in Körbchen gelegten kostbaren Erkennungszeichen. Findelkinder mit solchen Requisiten finden sich überall auch in der sogenannten Neuen Komödie Menanders, der zur Zeit Alexanders des Großen schrieb. Aus den "Idyllen" Theokrits, des wenige Jahrzehnte jüngeren Begründers der Hirtendichtung, übernahm Longos zahlreiche Stellen wörtlich.
Daphnis und Chloe sind zu Beginn des Romans 15 und 13 Jahre alt und brauchen knapp zwei Jahre, um die Geheimnisse der Liebe kennenzulernen, so dass sie am Ende des Romans, wenn sie heiraten, ganz realistisch in dem damals üblichen Heiratsalter stehen. In den zwei Jahren kann der Leser sie als Voyeur beobachten, wie etwa an der folgenden Stelle, wo er Chloe beim Schauen zuschaut: "Rückte der Mittag heran, wurden ihre Augen gebannt und bezaubert. Wenn sie Daphnis nackt sah, verfiel sie sogleich seiner Schönheit, und ihr Herz schmolz dahin, konnte sie doch nicht den geringsten Makel an ihm entdecken. Er aber glaubte, wenn er sie im Rehfell und mit dem Fichtenkranz sah, wie sie ihm die Schale reichte, eine von den Nymphen aus der Grotte zu sehen. Dann riss er ihr den Fichtenkranz vom Haupt und bekränzte sich selbst damit, nicht ohne ihn zuvor zu küssen, und sie schlüpfte, wenn er sich nackt ausgezogen hatte und badete, in sein Kleid, nachdem sie es zuvor geküsst hatte." Das alles ist mit einer so ,goldigen' Naivität erzählt, dass man auf den ersten Blick übersehen könnte, wie sehr dieser bekannteste aller griechischen Romane zugleich die gelungenste Parodie der Gattung ist.
Der Roman zeigt eine immer wieder neue Folge von Entdeckungen der Liebe mit immer wieder neuer Unerfülltheit: Der Anblick der Schönheit macht ganz unruhig; diese Unruhe wird beim Küssen nur gesteigert und endet in Verwirrung. Sie verschwindet auch dadurch nicht, dass die Liebenden den guten Rat, man müsse nur aufeinander liegen, ganz parzivalisch dumm allzu wörtlich nehmen und von neuer Unruhe gepeinigt werden. Der lange Weg zur endlichen Erfüllung ihres Verlangens führt über die Mitwirkung einer lüsternen Liebeslehrerin, die sich den Daphnis greift, und das Eingreifen des knabenhaften Gottes Eros selbst, der sich als in Wirklichkeit ältester aller Götter zu erkennen gibt. Zum Schluss des Spiels tauchen auch die Eltern von Daphnis und Chloe auf und erkennen ihre Kinder, denen sie ein Leben in städtischem Wohlstand schenken wollen.
Endlich vereinigt, beschließen Daphnis und Chloe aber, ganz "reformpädagogisch", das Landleben fortzusetzen und ihre eigenen Kinder nicht in der reichen städtischen Umwelt aufwachsen zu lassen, sondern sie genau den eigenen Lebensweg als Hirtenkinder auf dem Lande wiederholen zu lassen.
Endlich einmal Eltern, die ihren Kindern nicht dadurch schaden, dass sie es für sie besser haben wollen. Auch hier aber hebt der raffinierte Roman sich selbst sogleich wieder ironisch auf. Denn die wichtigste Voraussetzung ihrer Existenz werden Daphnis und Chloe an die künftigen eigenen Kindern ja nicht weitergeben können: nämlich das Dasein als Findelkinder.
Die neue Übersetzung lädt zu vergnüglicher Lektüre eines Werks ein, das in den europäischen Künsten und Literaturen zahllose Spuren hinterlassen hat: von Salomon Geßner bis zu Arno Holz, von Giovanni Battista Guarini bis zu Torquato Tasso, von Paris Bordone bis zu Auguste Rodin. Den schönsten Ausdruck aber hat das Wechselspiel glückender und zugleich missglückender Annäherung vielleicht durch Sergei Diaghilev und Maurice Ravel 1912 in der Choreographie von Michel Fokine in den "Ballets Russes" gefunden.
HANS-ALBRECHT KOCH
Longos: "Daphnis und Chloe". Ein Liebesroman.
Aus dem Altgriechischen übersetzt und mit einem Nachwort von Kurt Steinmann. Manesse Verlag, München 2019. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und zugleich die gelungenste Parodie der Gattung: "Daphnis und Chloe", Longos' antiker Roman über Verlangen und Erfüllung, ist von Kurt Steinmann neu ins Deutsche übertragen worden, vergnüglich.
Man müßte ein ganzes Buch schreiben, um alle großen Vordienste dieses Gedichts nach Würden zu schätzen. Man tut wohl, es alle Jahr einmal zu lesen, um immer wieder daran zu lernen und den Eindruck seiner großen Schönheit aufs neue zu empfinden." Als Goethe mit diesen Worten gegenüber Eckermann am 20. März 1831 den kleinen Schäferroman "Daphnis und Chloe" zu jährlich neuer Lektüre empfahl, war das Interesse des Publikums an allen Gattungen der Bukolik gerade auf den tiefsten Punkt gesunken. Die Romantik konnte mit dem tändelnden Ton und der Symbolik der Hirtendichtung nichts mehr anfangen, einer antiken literarischen Form, deren neuzeitliche Wiederbelebung im Humanismus begann und in Rokoko endete und zu der Goethe im seiner Jugend selbst noch beigetragen hatte. Er hatte "Daphnis und Chloe", den berühmtesten Roman der Antike, nicht im griechischen Original gelesen, sondern in der französischen Übersetzung des Humanisten Jacques Amyot aus dem Jahre 1559, die noch vor dem griechischen Erstdruck (Paris 1598) erschien. Der Geistliche Amyot ist überhaupt der neuzeitliche Wiederentdecker des griechischen Romans und hat unter anderem auch die großen welthaltigen, wohl im 3. Jahrhundert n. Chr. entstandenen "Aithiopika" ("Äthiopische Geschichten") des Heliodor aus Emesa in französischer Übertragung herausgebracht.
Die "Äthiopischen Geschichten" sind ein richtiger ,Wälzer' voller Abenteuer, doch an Bekanntheit und Beliebtheit unter den zahlreichen, großenteils verlorenen griechischen Romanen wurden sie schon im Altertum von "Daphnis und Chloe" weit übertroffen, dem kleinsten griechischen Hirtenroman. Über den Autor des Buches weiß man so gut wie nichts. Er trug den Namen Longos, dessen lateinische Form Longus in der Spätantike ein verbreiteter Name für freigelassene griechische Sklaven war. Er lebte, wie man aus Indizien, etwa der subtilen Bauform, schließen möchte, nicht vor dem Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus in Mytilene auf der Insel Lesbos, wo rund 800 Jahre zuvor auch Sappho, die berühmteste Dichterin des Altertums, ihre Lieder von der "süß-bitteren" (so ihr Wort!) Macht der Liebe gesungen hatte. Kein schlechter Herkunftsort also auch für den Dichter eines Liebesromans, der unter den zahlreichen Werken dieser Gattung deutlich herausragt. Es ist erfreulich, dass Kurt Steinmann, der in diesem Jahr den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhält, nach den Übertragungen von "Ilias" und "Odyssee" und der Orestie des Aischylos seine Kunst an die Übertragung dieses eher selten verdeutschten heiteren Romans gewandt hat.
Die Handlung ist ganz auf zwei junge Menschen konzentriert, die, als Findelkinder von Hirten aufgenommen, selbst als Ziegen- und Schafhirten in einer schönen Landschaft aufwachsen. "Schön" ist eines der häufigsten Adjektive, mit dem immer wieder sie selbst oder zu ihnen gehörige Gegenstände charakterisiert werden, so auch die ihnen bei der Aussetzung in Körbchen gelegten kostbaren Erkennungszeichen. Findelkinder mit solchen Requisiten finden sich überall auch in der sogenannten Neuen Komödie Menanders, der zur Zeit Alexanders des Großen schrieb. Aus den "Idyllen" Theokrits, des wenige Jahrzehnte jüngeren Begründers der Hirtendichtung, übernahm Longos zahlreiche Stellen wörtlich.
Daphnis und Chloe sind zu Beginn des Romans 15 und 13 Jahre alt und brauchen knapp zwei Jahre, um die Geheimnisse der Liebe kennenzulernen, so dass sie am Ende des Romans, wenn sie heiraten, ganz realistisch in dem damals üblichen Heiratsalter stehen. In den zwei Jahren kann der Leser sie als Voyeur beobachten, wie etwa an der folgenden Stelle, wo er Chloe beim Schauen zuschaut: "Rückte der Mittag heran, wurden ihre Augen gebannt und bezaubert. Wenn sie Daphnis nackt sah, verfiel sie sogleich seiner Schönheit, und ihr Herz schmolz dahin, konnte sie doch nicht den geringsten Makel an ihm entdecken. Er aber glaubte, wenn er sie im Rehfell und mit dem Fichtenkranz sah, wie sie ihm die Schale reichte, eine von den Nymphen aus der Grotte zu sehen. Dann riss er ihr den Fichtenkranz vom Haupt und bekränzte sich selbst damit, nicht ohne ihn zuvor zu küssen, und sie schlüpfte, wenn er sich nackt ausgezogen hatte und badete, in sein Kleid, nachdem sie es zuvor geküsst hatte." Das alles ist mit einer so ,goldigen' Naivität erzählt, dass man auf den ersten Blick übersehen könnte, wie sehr dieser bekannteste aller griechischen Romane zugleich die gelungenste Parodie der Gattung ist.
Der Roman zeigt eine immer wieder neue Folge von Entdeckungen der Liebe mit immer wieder neuer Unerfülltheit: Der Anblick der Schönheit macht ganz unruhig; diese Unruhe wird beim Küssen nur gesteigert und endet in Verwirrung. Sie verschwindet auch dadurch nicht, dass die Liebenden den guten Rat, man müsse nur aufeinander liegen, ganz parzivalisch dumm allzu wörtlich nehmen und von neuer Unruhe gepeinigt werden. Der lange Weg zur endlichen Erfüllung ihres Verlangens führt über die Mitwirkung einer lüsternen Liebeslehrerin, die sich den Daphnis greift, und das Eingreifen des knabenhaften Gottes Eros selbst, der sich als in Wirklichkeit ältester aller Götter zu erkennen gibt. Zum Schluss des Spiels tauchen auch die Eltern von Daphnis und Chloe auf und erkennen ihre Kinder, denen sie ein Leben in städtischem Wohlstand schenken wollen.
Endlich vereinigt, beschließen Daphnis und Chloe aber, ganz "reformpädagogisch", das Landleben fortzusetzen und ihre eigenen Kinder nicht in der reichen städtischen Umwelt aufwachsen zu lassen, sondern sie genau den eigenen Lebensweg als Hirtenkinder auf dem Lande wiederholen zu lassen.
Endlich einmal Eltern, die ihren Kindern nicht dadurch schaden, dass sie es für sie besser haben wollen. Auch hier aber hebt der raffinierte Roman sich selbst sogleich wieder ironisch auf. Denn die wichtigste Voraussetzung ihrer Existenz werden Daphnis und Chloe an die künftigen eigenen Kindern ja nicht weitergeben können: nämlich das Dasein als Findelkinder.
Die neue Übersetzung lädt zu vergnüglicher Lektüre eines Werks ein, das in den europäischen Künsten und Literaturen zahllose Spuren hinterlassen hat: von Salomon Geßner bis zu Arno Holz, von Giovanni Battista Guarini bis zu Torquato Tasso, von Paris Bordone bis zu Auguste Rodin. Den schönsten Ausdruck aber hat das Wechselspiel glückender und zugleich missglückender Annäherung vielleicht durch Sergei Diaghilev und Maurice Ravel 1912 in der Choreographie von Michel Fokine in den "Ballets Russes" gefunden.
HANS-ALBRECHT KOCH
Longos: "Daphnis und Chloe". Ein Liebesroman.
Aus dem Altgriechischen übersetzt und mit einem Nachwort von Kurt Steinmann. Manesse Verlag, München 2019. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main