Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 21,00 €
  • Gebundenes Buch

Als Slobodan Milosevi? während der Massenproteste 1989 den Demonstranten zurief: »Ich kann Sie nicht verstehen«, konnte er nicht wissen, daß dieser Satz zum geflügelten Wort wurde, das immer dann Anwendung fand, wenn man etwas nur allzu gut verstand. Seine Entgegnung auf die stimmgewaltigen Demonstranten zeigt, daß die Stimme den Kern der Politik betrifft: die vox populi und die Taubheit der Politiker, das Stimmrecht und das Überhören einer Stimmung. Die Stimme ist eines der flüchtigsten Dinge überhaupt und erweist sich doch als eines der komplexesten Phänomene. So gibt es auch kaum einen…mehr

Produktbeschreibung
Als Slobodan Milosevi? während der Massenproteste 1989 den Demonstranten zurief: »Ich kann Sie nicht verstehen«, konnte er nicht wissen, daß dieser Satz zum geflügelten Wort wurde, das immer dann Anwendung fand, wenn man etwas nur allzu gut verstand. Seine Entgegnung auf die stimmgewaltigen Demonstranten zeigt, daß die Stimme den Kern der Politik betrifft: die vox populi und die Taubheit der Politiker, das Stimmrecht und das Überhören einer Stimmung. Die Stimme ist eines der flüchtigsten Dinge überhaupt und erweist sich doch als eines der komplexesten Phänomene. So gibt es auch kaum einen Bereich der Theorie, der ohne eine Analyse der Stimme auskäme: Von der Linguistik zum Vorwurf des Logophonozentrismus in der Dekonstruktion über die innere Stimme als moralisches Gebot, der Gesangsstimme als ästhetische Erfahrung bis hin zur Radiostimme als mitunter massenmedialer Indoktrination reicht das Spektrum der Themen.Dem slowenischen Philosophen und Kulturtheoretiker Mladen Dolar gelingt es, diese vielfältigen Themen in einer Theorie der Stimme zu bündeln. Ihre besondere Qualität ist, systematische Aspekte mit historischen Darstellungen zu verknüpfen und so die theoretische Evidenz aus der Fülle der Phänomene zu gewinnen. Es eröffnet sich ein Feld, das kaum einen Aspekt der modernen Theorie unberücksichtigt läßt: die Linguistik, Physik und Metaphysik, die Ethik, Politik und Ästhetik der Stimme und nicht zuletzt die besonderen Stimmen bei Freud und bei Kafka.
Autorenporträt
Mladen Dolar war Professor für Philosophie an der Universität Ljubljana und arbeitet dort heute als Senior Research Fellow.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007

Können Sie mich hören, hallo?
Geheimnivsoll: Mladen Dolar entdeckt die Geschichte der Stimme

Ein Mann rupfte eine Nachtigall und sprach, da er nur wenig zu essen fand: "Du bist eine Stimme und sonst nichts." Mit diesem Aphorismus Plutarchs beginnt der slowenische Philosoph Mladen Dolar seine Theorie der Stimme und beschreibt damit zugleich sein Vorhaben: Es gibt die Stimme als Trägerin einer Botschaft, das ist ihre übliche Verwendung im täglichen Sprechen. Es gibt sie als Gegenstand ästhetischer Bewunderung, etwa in der Oper. Und dann, so der Autor, gibt es noch eine dritte Ebene. Auf dieser kommt man der Sprache weder bei, indem man Gesagtes versteht, noch, indem man in die Oper geht. Dolar meint die Stimme selbst als Schnittstelle zwischen Körper und Seele, Körper und Sprache, Ich und Anderem, die menschliche Stimme als das, was gerade nichts zur Sinngebung beiträgt, die Leiter, die man wegwirft, wenn man den Gipfel der Bedeutung erklommen hat.

Dolar will die Stimme von allem rupfen, was von diesem dritten Moment ablenkt, sie selbst in den Vordergrund rücken. Dazu präsentiert er dem Leser eine mit viel Freud und noch mehr Lacan gespickte Theorie der Stimme, denn die angemessene Methode, sie freizulegen, sei eben die Psychoanalyse.

Je weiter er in der Lektüre fortschreitet, desto mehr wundert sich der Leser, wie ungewohnt und faszinierend sich die abendländische Geistesgeschichte liest, wenn man sie aus dem Blickwinkel der Stimme betrachtet. Und nichts Geringeres als einen Schnelldurchgang durch dieselbe liefert Dolar, wenn er dem Leser Physik, Linguistik, Metaphysik, Ethik und Politik der Stimme auseinanderlegt. Was ist so faszinierend am Gesang der Sirenen? Warum widmet Platon in seinem Dialog "Das Gastmahl" lange Passagen der Bekämpfung des Schluckaufs, wenn nicht, um auf die Bedeutung der Stimme aufmerksam zu machen?

Die menschliche Stimme ist ein Faszinosum, gerade wenn sie aus ihrem gewöhnlichen Zusammenhang gerissen wird. Als der Hofrat Wolfgang von Kempelen der österreichischen Kaiserin Maria Theresia 1769 seinen berühmten Schachautomaten präsentierte, ging es ihm vor allem darum, Eindruck zu schinden und sich damit der Unterstützung Ihrer Majestät für ein anderes Projekt zu versichern: einen Sprachautomaten. Der gelang nach vielen Versuchen, und die Faszination seiner Zeitgenossen minderte selbst die Tatsache nicht, dass man die wenigen Worte, die der Automat sprechen konnte, kaum verstand. Das bloße Faktum, eine Menschenstimme aus einem ganz offensichtlich nicht menschlichen Apparat zu vernehmen, lies die Besucher schaudern.

Die Metaphysik hat die Stimme ebenso wie die Musik stets misstrauisch beäugt. Dolar zitiert einen chinesischen Herrscher aus dem dritten Jahrtausend vor Christus, der verlangte, die Musik müsse dem Sinn der Worte folgen. Wenn die Stimme sich von den Worten löst, wird sie sinnlos und bedrohlich. Platon sah das ähnlich: Gift und Medizin in einem sei die Musik und müsse mit Bedacht gehandhabt werden. Augustinus riet, sich gegen die verführerischen Einflüsse der Musik an das Wort zu halten, und Hildegard von Bingen, die die Musik als Weg zu Gott empfohlen hatte, bedurfte der Fürsprache eines Bernhard von Clairvaux, um der Verurteilung zu entgehen.

Aber auch das Wort, das Gesetz braucht eine Stimme, damit es sich Gehör verschaffen kann. Mose musste reden, damit das Volk das Gesetz vernehmen konnte. Und so steht bei Dolar Stimme gegen Stimme, die des Genießens und der Dekadenz, vorzugsweise mit dem Weiblichen assoziiert, gegen die männliche des Gesetzes. Und zwar bis hin zu Kafka der in "Vor dem Gesetz" vermuten lässt, es gebe vielleicht gar kein Gesetz, sondern nur Stimmen.

Das Medium jedoch, das heute wie kein zweites die Macht der Stimme verdeutlicht, ist paradoxerweise das Fernsehen. Denn es lässt nicht nur die Bilder sprechen, sondern auch die körperlose, die "akusmatische" Stimme aus dem Off. Dolar diskutiert berühmte Beispiele von Doktor Mabuse über Psycho und den Zauberer von Oz bis zu The Matrix.

Es sind die vielfältigen Rollen der Stimme in den verschiedensten Bereichen, einschließlich der Politik, im Spektakel für die Massen, aber auch in ihren Extremformen wie dem Schweigen und dem Lachen, die Dolar analysiert. Die Stimme, so der Autor, ist das Fleisch der Seele, weshalb auch die Seele den Körper niemals abstreifen kann. Nur, warum er seine interessanten Überlegungen in eine lacansche leserquälend-unverständliche Diktion kleiden muss, bleibt dabei sein Geheimnis.

MANUELA LENZEN

Mladen Dolar: "His Master's Voice". Eine Theorie der Stimme. Aus dem Englischen von Michael Adrian und Bettina Engels. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 259 S., geb., 26,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Einige interessante Überlegungen hat Rezensentin Karen Knoll aus diesem theoretisch offenbar ein wenig überladenen Buch des slowenischen Philosophen Mladen Dolar herausgearbeitet. Dolar gehe der Stimme im Sinne Lacans nach, wobei sie weder Trägerin von Bedeutung noch Gegenstand ästhetischer Bewunderung ist, sondern etwas Materielles, das sich allerdings bereits im Moment seiner Anwendung von seiner eigenen Körperlichkeit löst. Ein weiterer Aspekt, der Knolls Interesse geweckt hat, ist Dolars Kritik an der strukturalistischen Linguistik. Diese beschränke sich zunehmend auf die Phonologie und deren kleinste bedeutungstragende Elementen, den Phonemen, wobei die Phonetik die Lautlehren immer stärker in den Hintergrund rückt. Knoll findet dies alles nicht uninteressant, sagt zum Schluss aber sehr deutlich, dass Dolar vieles auch viel einfacher hätte sagen können, wenn er sich nicht so ausschließlich auf Lacan berufen hätte.

© Perlentaucher Medien GmbH