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Volksgeschichte und Politik im Nationalsozialismus
Die Rolle der Historiker im Nationalsozialismus ist Gegenstand heftiger Diskussionen. Ingo Haar untersucht das personelle und institutionelle Netzwerk der "Volksgeschichte", einer einflussreichen Richtung der deutschen Geschichtswissenschaft, und ihre Verflechtung mit staatlichen Instanzen und politischen Kreisen. Im Mittelpunkt steht die "Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft", ein großer Forschungsverbund, in dem Staat, Partei und Wissenschaft eng miteinander verflochten waren. Die "Volksgeschichte" suchte bewusst die Nähe zu einer…mehr

Produktbeschreibung
Volksgeschichte und Politik im Nationalsozialismus

Die Rolle der Historiker im Nationalsozialismus ist Gegenstand heftiger Diskussionen. Ingo Haar untersucht das personelle und institutionelle Netzwerk der "Volksgeschichte", einer einflussreichen Richtung der deutschen Geschichtswissenschaft, und ihre Verflechtung mit staatlichen Instanzen und politischen Kreisen. Im Mittelpunkt steht die "Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft", ein großer Forschungsverbund, in dem Staat, Partei und Wissenschaft eng miteinander verflochten waren. Die "Volksgeschichte" suchte bewusst die Nähe zu einer Bevölkerungspolitik, die die "völkische" und "rassische" Neuordnung Europas anstrebte und in Völkermord und Vernichtungskrieg mündete. Gerade auch Historiker der jüngeren Generation stellten sich in den Dienst der NS-Diktatur. Ingo Haar analysie rt diese Entwicklung erstmals im Zusammenhang, beschreibt die institutionellen und ideologischen Grundlagen der "Volksgeschichte" und untersucht deren Rolle im "Volkstumskampf".
Autorenporträt
Dr. Ingo Haar ist Historiker in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2000

Zynische Gedankenlosigkeit und Planungseuphorie
"Volkstumskampf" und "Lebensraum": Namhafte Historiker als Politikberater im Nationalsozialismus

Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der "Volkstumskampf" im Osten. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 143. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen und Zürich 2000. 433 Seiten, 10 Abbildungen, 78,- Mark.

Die Rolle der Historiker im "Dritten Reich" ist seit den sechziger Jahren immer wieder Gegenstand kritischer Untersuchungen gewesen. Die Gruppe der besonders belasteten "Ostforscher" blieb jedoch weitgehend ausgeklammert. Der vor einigen Jahren verstorbene Osteuropa-Historiker Werner Philipp blieb mit seinem Aufsatz "Nationalsozialismus und Ostwissenschaften" von 1966 jahrelang allein auf weiter Flur.

In der DDR setzte scharfe Kritik dagegen schon früh ein, aber anfangs durchweg in einer so polemischen Form, daß die Fakten, die darin zutage kamen, im Westen kaum zur Kenntnis genommen wurden. So ist eine umfassende selbstkritische Debatte erst nach dem Ende der DDR von westdeutschen Historikern der jüngeren Generation wieder angestoßen worden. Ingo Haar gehört dazu. Er nimmt einen besonders fatalen Ausschnitt aus dem Gesamtproblem unter die Lupe: die aktive Beteiligung von Historikern am "Volkstumskampf".

Das Buch setzt mit der berüchtigten Polen-Denkschrift von 1939 ein, für die Theodor Schieder zumindest als Mitautor gelten kann und die als Exempel für die These herangezogen wird, daß es im Nationalsozialismus eine wissenschaftliche Begleitforschung für die Politik der "völkischen Flurbereinigung" gab, die in letzter Konsequenz in die "Endlösung" mündete. Waren Schieder, Werner Conze, Hermann Aubin und andere also doch "Vordenker der Vernichtung", wie Götz Aly behauptet hat? Haars Antwort ist differenzierter.

"Volksgeschichte" als neues Paradigma, das sich unter den politischen Bedingungen der Weimarer Republik unter dem Schock der Versailler Grenzziehungen herausbildete, beinhaltete eine doppelte Stoßrichtung. Sie setzte sich ab von der dominanten Tradition des auf politische Geschichte fixierten Historismus, verstand sich von Beginn an als "kämpfende Wissenschaft" und bediente sich zugleich neuer Methoden in der Operationalisierung ihres Forschungsprogramms. Im Begriff der "Großforschung" sieht Haar den Kern der komplexen Interdependenz von nationalsozialistischen Funktionseliten, die "Volksgruppenpolitik" zu implementieren hatten, und wissenschaftlicher Begleitforschung, die sich vornehmlich in den außeruniversitären Forschungsinstitutionen ansiedelte. Die von Albert Brackmann, dem Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, geleitete "Publikationsstelle" in Berlin-Dahlem entwickelte sich in diesem Zusammenhang zur strategischen Schaltstelle, von der aus die Weichen gestellt wurden für die politisch gewünschte Forschung.

Die 1933 gegründete "Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft" (NOFG) bildete mit ihrem schnell wachsenden staatlichen Etat die wichtigste Großforschungseinrichtung und zugleich die Veto-Instanz, ohne die kein auf den Osten bezogenes Forschungsvorhaben begonnen werden konnte. Ihre Experten lieferten den Planungsstäben der NS-Politik die notwendigen Daten, um "Volkstumspolitik" (insbesondere in den besetzten polnischen Gebieten) von der Ebene allgemeiner Zielformulierungen in bürokratische Praxis umsetzen zu können. Die Deutsche Volksliste (DVL) war eines der wichtigsten Instrumente solcher Politik. Dafür benötigte man, wie Haar im einzelnen zeigt, genaue ethnographische, historische und geographische Daten.

Haar skizziert zunächst den allmählichen Aufstieg der Volks- und Kulturbodenforschung in der Weimarer Republik und ordnet diese dem jugendbewegten Milieu revisionistischer Historiker um Hans Rothfels in Königsberg in den dreißiger Jahren zu. Mit Albert Brackmann und seiner "Publikationsstelle" gelang eine weitreichende Gleichschaltung der Ostforschung. In der NOFG wurde die neue Linie umgesetzt, und die Volksgeschichte als neues Paradigma drängte die Traditionalisten um Friedrich Meinecke in der Historischen Reichskommission (der zentralen Anlaufstelle für alle auf amtlichen Akten beruhenden Forschungsvorhaben zur Geschichte des Deutschen Reiches) endgültig ins Abseits. Damit war der Weg frei, um der "kämpfenden Wissenschaft" ihr Betätigungsfeld in der Praxis zu öffnen.

"Die Wissenschaft kann nicht einfach warten, bis sie gefragt wird", schrieb Aubin im September 1939, "sie muß sich selber zu Worte melden." Das tat sie in den folgenden Jahren energisch, auch wenn die erwähnte Denkschrift von 1939 zu spät kam, um die vorgesehenen ministeriellen Adressaten zu erreichen, da sie vom Verlauf der Kriegsereignisse überholt worden war. Wie diese Symbiose von Politik und historischer Forschung aussah, schildert Haar in den beiden Kapiteln "Geschichtswissenschaft und NS-Volkstumspolitik" und "Ostforschung und Lebensraum". Die Ergebnisse sind fatal und zeigen, daß die lange Zeit gültige Interpretation eines distanzierten Verhaltens der Geschichtswissenschaft gegenüber dem Nationalsozialismus für diese Gruppe in keiner Weise aufrechtzuerhalten ist. Die Ostexperten wurden nicht gedrängt, sondern stellten sich offensichtlich aus Überzeugung und in Übereinstimmung mit ihrer Grundüberzeugung von einer engagierten Wissenschaft in den Dienst der Besatzungspolitik.

Der Wunsch nach Verbindung von wissenschaftlicher Qualifikation und ostpolitischem Engagement war gerade für die jüngere Generation der Mitglieder der "Deutsch-Akademischen Gildenschaft" in Königsberg wie Schieder, Conze, Wirsing und andere charakteristisch. Hans Rothfels figurierte als Mentor für eine "kämpfende Wissenschaft", bei der diskursive Strategien zur Wahrheitsfindung nicht gefragt waren. Albert Brackmann rückte zur Zentralfigur in der offiziell als "Abwehr gegen die geistige Offensive des Polentums" deklarierten Forschung auf.

Minutiös und nüchtern breitet Haar die Formen von "Politikberatung" aus: historische Minderheitenforschungen, statistische Einzelanalysen, karthographische Expertisen, demographische Bilanzen. Auf der mittleren Ebene lassen sich die unmittelbaren Verbindungen zu den Planungsstäben der SS nachweisen, die zumindest indirekt in hypertrophe Projekte wie den "Generalplan Ost" mündeten. 1943 unterstellte sich das Reichssicherheitshauptamt die Publikationsstelle und die NOFG direkt. Damit stellte sich auch die Frage nach der unmittelbaren Verantwortlichkeit einzelner Ostforscher für die "Endlösung". Haars Antwort ist hier nicht eindeutig und kann es auch nicht sein, weil kausale Zusammenhänge nur selten unzweideutig faßbar sind.

Die zynische Gedankenlosigkeit und Planungseuphorie vieler Ostforscher, etwa des Spezialisten für ostjüdische Geschichte, Peter Heinz Seraphim, der in den fünfziger Jahren wieder im Herder-Forschungsrat in Marburg eine prominente Rolle spielte, sind jedoch erschreckend. Auch für Schieder bietet Haar etliche neue Hinweise, die zeigen, daß die Denkschrift von 1939 durchaus als Leitlinie für die Praxis der Bevölkerungspolitik zu verstehen war. 1942 meldete Schieder , daß in der Region Bialystock die Juden völlig "entfernt" und nur noch in den "Ghetti der Städte" anzutreffen seien. Gauleiter Koch dankte ihm persönlich im März 1942 für seine "selbstlose und erfolgreiche Tätigkeit". Den Materialien der Königsberger Landesstelle sei es zu verdanken, daß die "Neugestaltung" des Regierungsbezirks Bialystock so rasch habe umgesetzt werden können. Das Oberpräsidium sorgte für Schieders Hausberufung auf den Königsberger Lehrstuhl.

Auch Conze erhielt im Juni 1942 durch Fürsprache von Aubin und Reinhard Wittram das neu geschaffene Extraordinariat für osteuropäische Geschichte in Breslau, obwohl er eine Venia legendi für Soziologie besaß. Den grotesken Gipfel der Einbindung der NOFG in die Aktivitäten der SS bildete die "Holländertagung" im Februar 1943, die ein Konzept zur Trockenlegung der Pripet-Sümpfe durch holländische Siedler in Gang brachte. Erich Keyser, seit 1951 Direktor des Marburger Herder-Instituts, setzte sich in diesem Zusammenhang dafür ein, der Niederländerforschung einen kriegswichtigen Status zu verleihen.

"Die Historiker unter den Mitarbeitern der NOFG", resümiert Haar, "arbeiteten weder die konzeptionellen Grundzüge beispielsweise des ,Generalplans Ost' aus, noch gehörten sie in der Regel den Sonderkommandos der SS an. Die Expertisen der Historiker zu den unterschiedlichsten Fragen der ethnischen Zusammensetzung der polnischen Bevölkerung wurden von verschiedenen Planungszentren der nationalsozialistischen Siedlungs- und Bevölkerungspolitik eingeholt, nachdem die Grundentscheidungen zur ethnischen ,Neuordnung Europas' bereits gefällt worden waren. Die Antizipation dieser Planungen war gleichwohl eine Voraussetzung dafür, dem hochgradig komplexen Planungsapparat der nationalsozialistischen Siedlungs- und Bevölkerungspolitik zuarbeiten zu können."

So eindrucksvoll die Einzelergebnisse sind, so hätte dem Buch im Strom der detaillierten Darstellung von Institutionen und personellen Netzwerken mehr Pointierung und zusammenfassende Reflexion gutgetan. Den roten Faden im Dickicht der Details wiederzufinden ist für den Leser nicht immer leicht. Dennoch hat Haar einen grundlegenden Beitrag zu einem trostlosen Kapitel zeithistorischer Wissenschaftsgeschichte geleistet. Ein besonders schaler Nachgeschmack bleibt bei diesem Kapitel, weil die ungebrochenen personellen Kontinuitätslinien in die Periode nach 1945, die der Verfasser nicht mehr behandelt, auf Schritt und Tritt erkennbar werden. Sie blieben jahrzehntelang tabu.

CHRISTOPH KLESSMANN

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Christoph Jahr weist darauf hin, dass diese Studie bereits vor Erscheinen "für erhebliches Aufsehen gesorgt" hat. Denn Haar hat, so der Rezensent, mit großer "Detailtreue und Quellenfülle" aufgezeigt, was lange Zeit für abwegig galt, nämlich dass es im Dritten Reich durchaus Vorstellungen von historischer Wissenschaft gab, und dass diese - vor allem in der Form der 'Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften' - nach festen Richtlinien arbeitete. Was die Frage betrifft, ob die Historikerzunft für den Völkermord an den Juden mitverantwortlich war, so diagnostiziert Jahr beim Autor eine "eher vorsichtig verneinende Antwort", da die Historiker an den entsprechenden Entscheidungen nicht direkt beteiligt waren, wohl aber "Begleitforschung" betrieben haben. Insgesamt ist der Rezensent der Ansicht, dass niemand, der sich mit Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus in Zukunft beschäftigen will, um Haars Studie herumkommt, auch wenn Jahr auch an einigen wenigen Punkten Kritik anbringt. So vermisst er beispielsweise eine deutliche Klärung der Begriffe 'Rasse' und 'Volkstum' und einen Blick auf zahlreiche andere Forschungsorganisationen als die 'Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften'.

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