Produktdetails
- Verlag: Böhlau Wien
- Artikelnr. des Verlages: BVW0008921
- 1996.
- Seitenzahl: 324
- Deutsch
- Abmessung: 22mm x 135mm x 209mm
- Gewicht: 488g
- ISBN-13: 9783205985563
- ISBN-10: 3205985567
- Artikelnr.: 06556574
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996Mit dem Steigeisen
Gert Dressel in den Klippen der historischen Anthropologie / Von Michael Jeismann
Daß der Mensch sich selbst fragwürdig sein kann, ist eine Voraussetzung von Religion und Anthropologie. Fügt man zur Anthropologie die Geschichte hinzu, dann erhält man die Abfolge solcher Fragwürdigkeiten in der Zeit. Eine "historische Anthropologie" ist also gleichermaßen Wissenschaft vom Menschen wie Wissenschaft ihrer selbst, also Wissenschaftsgeschichte als Überlieferung von Menschenbildern.
Die wissenschaftlichen Menschenbilder sind Bestandteil einer "symbolischen Ideation", wie es Ernst Cassirer nannte. Und so sehr habe sich der Mensch ein symbolisches Universum zum Instrument gemacht, "daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe". Diese "artifiziellen" Medien sind gewissermaßen die Natur der Menschen. Und als solche sind sie ubiquitär - in jedem Bereich menschlichen Lebens enthalten.
Eine solche Anthropologie der Geschichte und Kulturen ist tatsächlich eine "Centralwissenschaft", wie Wilhelm Heinrich Riehl schon um 1850 glaubte. Neben Riehl waren es vor allem der Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal und Moritz Lazarus, die in Anknüpfung an an Wilhelm von Humboldt mit der "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" einer "neuen Culturwissenschaft" den Weg bahnen wollten. Ohne institutionellen Rückhalt wurden ihre Anregungen marginalisiert. Hier sind noch umgelenkte Linien europäischer Wissenschaftsgeschichte zu entdecken, die heute zum großen Teil aus den Vereinigten Staaten wiederaufgenommen werden - in einer Situation, da die Geschichtswissenschaft nach neuen Scharnieren sucht, über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so zu verknüpfen wären, und einen Begriff ihrer selbst zu gewinnen strebt.
Diese Versuche werden mit einer ganzen Reihe von Begriffen tituliert, von denen die "Historische Anthropologie" sicher den weitesten Anspruch erhebt. Ihr hat der österreichische Historiker Gert Dressel eine Einführung gewidmet. Daß so ein einführender Überblick dringend nötig ist, wird niemand bezweifeln, der einmal erlebt hat, wie bei Diskussionen in tausend Zungen von "Alltagsgeschichte", "Mikro-, Makrogeschichte", "Kulturgeschichte" oder eben von Historischer Anthropologie gesprochen wird und niemand genau weiß, ob man unter denselben Begriffen dasselbe versteht. Die Frage ist, ob es Gert Dressel gelungen ist, für diejenigen, die sich für das Thema zu interessieren beginnen, einen deutlichen Begriff der "Historischen Anthropologie" zu vermitteln. Vor allem müßte dem Leser der Unterschied zu anderen Geschichtsauffassungen plausibel werden. Um es gleich zu sagen: Dies gelingt Dressel nicht.
Gelungen ist ihm dagegen ein aufzählender Abriß der verschiedenen "Anthropologien", ein Umriß bevorzugter Themenfelder der "Historischen Anthropologie" und eine Aufzählung verschiedener Ansätze innerhalb der Historischen Anthropologie. Dressels Arbeit läßt einen echten theoretischen Standpunkt und eine begreifende Mitte vermissen. Das kann damit zu tun haben, daß er die oben angeführte europäische Traditionslinie nur unvollständig eingearbeitet hat: Im Literaturverzeichnis fehlt eine ganze Reihe wichtiger Titel.
Der Vergleich, der im neunzehnten Jahrhundert als Angelpunkt dieser neuen Wissenschaft vom Menschen und seiner Kultur verstanden wurde, ist Dressel nicht einmal einen eigenen Unterpunkt wert. Zwar hebt er das "Interesse und die Sensibilität für Subjektivität" und für "Fremdes und Fremde" hervor. Aber nirgends wird klar, warum diese Kategorien so wichtig sind. Und wenn ein Kapitel "Geschichten statt Geschichte" genannt wird, ist damit die Frage nach der Einheit der Geschichte keineswegs abgetan. Die Antworten auf diese Fragen, die zum Beispiel Hans Medick oder Alf Lüdtke im Verlauf diverser Debatten gerade mit der Sozialgeschichte gegeben haben, tauchen allenfalls in sehr verwässerter Form auf.
Es soll aber Gert Dressel nicht unrecht getan werden. Wie ein guter Hausmeister will er alle Zimmer einmal aufgeschlossen haben, will die Flure und die dunklen Ecken kennen. Und es ist keine Frage, daß man von diesem Buch profitieren kann. Den Versuch war es wert. Anstatt aber "massiv" (eines der immer wiederkehrenden Lieblingswörter Dressels) "Ich" zu sagen und die "eigene Subjektivität zu thematisieren", hätte er besser ohne "Ich" einen eigenen erkenntnisleitenden Standpunkt gewonnen, der dann auch manche sprachliche und gedankliche Nachlässigkeit hätte verhindern können. Denn die gehört nicht zum Programm der Historischen Anthropologie, verdunkelt hier aber merklich den Gesamteindruck. So wären wir wieder beim Fragwürdigen als einer produktiven Kategorie, die nicht nur Menschen, sondern auch Bücher betreffen kann.
Gert Dressel: "Historische Anthropologie". Eine Einführung. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 1996. 324 S., br., 51,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gert Dressel in den Klippen der historischen Anthropologie / Von Michael Jeismann
Daß der Mensch sich selbst fragwürdig sein kann, ist eine Voraussetzung von Religion und Anthropologie. Fügt man zur Anthropologie die Geschichte hinzu, dann erhält man die Abfolge solcher Fragwürdigkeiten in der Zeit. Eine "historische Anthropologie" ist also gleichermaßen Wissenschaft vom Menschen wie Wissenschaft ihrer selbst, also Wissenschaftsgeschichte als Überlieferung von Menschenbildern.
Die wissenschaftlichen Menschenbilder sind Bestandteil einer "symbolischen Ideation", wie es Ernst Cassirer nannte. Und so sehr habe sich der Mensch ein symbolisches Universum zum Instrument gemacht, "daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe". Diese "artifiziellen" Medien sind gewissermaßen die Natur der Menschen. Und als solche sind sie ubiquitär - in jedem Bereich menschlichen Lebens enthalten.
Eine solche Anthropologie der Geschichte und Kulturen ist tatsächlich eine "Centralwissenschaft", wie Wilhelm Heinrich Riehl schon um 1850 glaubte. Neben Riehl waren es vor allem der Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal und Moritz Lazarus, die in Anknüpfung an an Wilhelm von Humboldt mit der "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" einer "neuen Culturwissenschaft" den Weg bahnen wollten. Ohne institutionellen Rückhalt wurden ihre Anregungen marginalisiert. Hier sind noch umgelenkte Linien europäischer Wissenschaftsgeschichte zu entdecken, die heute zum großen Teil aus den Vereinigten Staaten wiederaufgenommen werden - in einer Situation, da die Geschichtswissenschaft nach neuen Scharnieren sucht, über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so zu verknüpfen wären, und einen Begriff ihrer selbst zu gewinnen strebt.
Diese Versuche werden mit einer ganzen Reihe von Begriffen tituliert, von denen die "Historische Anthropologie" sicher den weitesten Anspruch erhebt. Ihr hat der österreichische Historiker Gert Dressel eine Einführung gewidmet. Daß so ein einführender Überblick dringend nötig ist, wird niemand bezweifeln, der einmal erlebt hat, wie bei Diskussionen in tausend Zungen von "Alltagsgeschichte", "Mikro-, Makrogeschichte", "Kulturgeschichte" oder eben von Historischer Anthropologie gesprochen wird und niemand genau weiß, ob man unter denselben Begriffen dasselbe versteht. Die Frage ist, ob es Gert Dressel gelungen ist, für diejenigen, die sich für das Thema zu interessieren beginnen, einen deutlichen Begriff der "Historischen Anthropologie" zu vermitteln. Vor allem müßte dem Leser der Unterschied zu anderen Geschichtsauffassungen plausibel werden. Um es gleich zu sagen: Dies gelingt Dressel nicht.
Gelungen ist ihm dagegen ein aufzählender Abriß der verschiedenen "Anthropologien", ein Umriß bevorzugter Themenfelder der "Historischen Anthropologie" und eine Aufzählung verschiedener Ansätze innerhalb der Historischen Anthropologie. Dressels Arbeit läßt einen echten theoretischen Standpunkt und eine begreifende Mitte vermissen. Das kann damit zu tun haben, daß er die oben angeführte europäische Traditionslinie nur unvollständig eingearbeitet hat: Im Literaturverzeichnis fehlt eine ganze Reihe wichtiger Titel.
Der Vergleich, der im neunzehnten Jahrhundert als Angelpunkt dieser neuen Wissenschaft vom Menschen und seiner Kultur verstanden wurde, ist Dressel nicht einmal einen eigenen Unterpunkt wert. Zwar hebt er das "Interesse und die Sensibilität für Subjektivität" und für "Fremdes und Fremde" hervor. Aber nirgends wird klar, warum diese Kategorien so wichtig sind. Und wenn ein Kapitel "Geschichten statt Geschichte" genannt wird, ist damit die Frage nach der Einheit der Geschichte keineswegs abgetan. Die Antworten auf diese Fragen, die zum Beispiel Hans Medick oder Alf Lüdtke im Verlauf diverser Debatten gerade mit der Sozialgeschichte gegeben haben, tauchen allenfalls in sehr verwässerter Form auf.
Es soll aber Gert Dressel nicht unrecht getan werden. Wie ein guter Hausmeister will er alle Zimmer einmal aufgeschlossen haben, will die Flure und die dunklen Ecken kennen. Und es ist keine Frage, daß man von diesem Buch profitieren kann. Den Versuch war es wert. Anstatt aber "massiv" (eines der immer wiederkehrenden Lieblingswörter Dressels) "Ich" zu sagen und die "eigene Subjektivität zu thematisieren", hätte er besser ohne "Ich" einen eigenen erkenntnisleitenden Standpunkt gewonnen, der dann auch manche sprachliche und gedankliche Nachlässigkeit hätte verhindern können. Denn die gehört nicht zum Programm der Historischen Anthropologie, verdunkelt hier aber merklich den Gesamteindruck. So wären wir wieder beim Fragwürdigen als einer produktiven Kategorie, die nicht nur Menschen, sondern auch Bücher betreffen kann.
Gert Dressel: "Historische Anthropologie". Eine Einführung. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 1996. 324 S., br., 51,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main