Immer mehr menschliche Gegebenheiten, die lange Zeit für "natürlich" und invariant gehalten wurden, haben sich in den letzten Jahrzehnten als kontingent, als so und auch anders möglich herausgestellt. Man denke nur an den Wandel von Geschlechterrollen oder an die medizinischen Möglichkeiten, den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens zu beeinflussen. Historische Anthropologie interessiert sich in dieser Situation für die Menschen vergangener Zeiten - für ihre Körperlichkeit, ihre Psyche, ihre gesellschaftlichen Beziehungen, ihren Alltag und die kulturellen Muster, mit denen sie ihre Zeit deuteten.
Die vorliegende Auswahl von Basistexten zur Historischen Anthropologie dient drei Zielen: Sie stellt die unterschiedlichen begrifflichen und theoretischen Prämissen der wichtigsten Konzeptionen von Historischer Anthropologie vor. Sie schafft dadurch größere Klarheit für künftige Forschung. Sie bietet eine praktische Zusammenstellung zentraler Texte für die akademische Lehre.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die vorliegende Auswahl von Basistexten zur Historischen Anthropologie dient drei Zielen: Sie stellt die unterschiedlichen begrifflichen und theoretischen Prämissen der wichtigsten Konzeptionen von Historischer Anthropologie vor. Sie schafft dadurch größere Klarheit für künftige Forschung. Sie bietet eine praktische Zusammenstellung zentraler Texte für die akademische Lehre.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2007Die Suche nach Verbindlichkeit
Klassiker und Basistexte zu Geschichte und Politik
Das ZDF hatte vor einigen Jahren zur Wahl gebeten: Demnach ist der beste deutsche Kicker aller Zeiten Franz Beckenbauer, der witzigste Deutsche Loriot und unser Bester überhaupt ist der, den keiner versteht: Albert Einstein. Der Mensch, zumindest der deutsche männliche, braucht Tabellen, um seinen Spieltrieb auszuleben und um die Welt zu ordnen. Das gilt auch und erst recht für die Wissenschaft: Nicht nur ist das Uni-Ranking im Zeitalter der Exzellenz mittlerweile fast so wichtig wie die Bundesligatabelle, die Wissenschaft ist zudem selbst ein Projekt zur Ordnung von Natur und Kultur.
Auf dieser Welle scheinen auf den ersten Blick auch drei Geschichtsbücher zu surfen, welche „50 Klassiker der Zeitgeschichte”, Basistexte zur historischen Anthropologie und historische Schlüsseltexte zur politischen Theorie präsentieren. Doch hier werden keine Suchspielchen nach den hundert schlauesten Historikern veranstaltet, sondern es geht um Ernsthafteres: um Selbstreflektion mittels Selbsthistorisierung und um die Bergung von kleinen und großen Schätzen. Und natürlich um Ordnung und Orientierung.
Die 50 Klassiker der Zeitgeschichte – von Ernst Fraenkels „Doppelstaat” über Joachim Fests Hitlerbiographie bis zum Katalog der Wehrmachtsausstellung – werden jeweils knapp und kompetent vorgestellt und historisiert. Neben den NS-Büchern liegt der Schwerpunkt auf der DDR, die Geschichte der Bundesrepublik ist offensichtlich noch nicht reif für eine Rückschau. In jedem Fall wird deutlich: Zeitgeschichte in Deutschland ist eine sehr deutsche Zeitgeschichte. Und eine männliche: Außer Hannah Arendt, die so berühmt ist, dass sie auch der Kerner kennt, hat nicht eine Historikerin Eingang ins Pantheon gefunden. Das Buch dokumentiert aber nicht nur die nationale Bezogenheit und die männliche Dominanz der Zeitgeschichte, sondern die grundlegenden Veränderungen sowohl der Inhalte und Methoden als auch der wechselnden politischen und sozialphilosophischen Fragestellungen deutscher Geschichtswissenschaft nach 1945, und das in prächtig kommensurabler Form.
Männliche Dominanz
Das von Marcus Llanque und Herfried Münkler herausgegebene opulente Lehr- und Textbuch zur Politischen Theorie und Ideengeschichte möchte dazu beitragen, die Unklarheit und Unübersichtlichkeit der theoretischen Bemühungen zur Klärung des Politischen zu vermindern. Dabei gilt die Prämisse: „Jede Generation muss sich den für sie verbindlichen Begriff des Politischen selbst erarbeiten.” Der Grundaufbau des Buches ist demnach klassisch politikwissenschaftlich: das Politische, politisches Handeln, politische Institutionen, politische Normen. Die Auswahl der Texte dagegen bemüht sich, nicht bei den Klassikern, den Hobbes, Rousseaus und Montesquieus, stehenzubleiben, sondern zum einen von der Gesellschaft her denkende Kritiker des Politischen wie Marx oder Adorno aufzunehmen und zum anderen näher an die Gegenwart heranzukommen. So hat man etwa den Menschenrechten einen Abschnitt gewidmet, wohlwissend, dass globaler Menschenrechtspolitik heute größere Aufmerksamkeit zuteil wird als vergleichender Regierungslehre.
Die Basistexte zur historischen Anthropologie, die der Freiburger Historiker Aloys Winterling zusammengestellt hat, beginnen sogar mit der Kritik der Anthropologie, nämlich Jürgen Habermas’ Aufsatz von 1958 zur „Philosophischen Anthropologie”: „Weil Menschen sich erst zu dem machen, was sie sind, und das, den Umständen nach, je auf eine andere Weise, gibt es sehr wohl Gesellschaften oder Kulturen, über die sich, wie über Pflanzenarten oder Tiergattungen, allgemeine Aussagen machen lassen; aber nicht über ‚den’ Menschen.” In einer sehr erhellenden und reflektierten Einleitung zeigt Winterling, wie sich die historische Anthropologie seitdem entwickelt hat, was man darunter versteht und wozu sie zu gebrauchen ist. Kontinuität durch Wandel scheint die Entwicklungsformel dieser Disziplin und historischen Perspektive zu sein. Sie steht, das belegen die Basistexte von Clifford Geertz über Thomas Nipperdey, Jochen Martin bis zur jüngsten Generation, auf durchaus breiten Schultern, pflegt jedoch noch immer ein Mauerblümchendasein.
Ordnung muss sein
Drei als konservativ geltende Fächer versuchen sich somit über eine Selbsthistorisierung zu reformieren. Herausgekommen sind drei schöne und spannende Lehr- und Textbücher, die sowohl Studierenden wie Lehrenden als auch einem interessierten Laienpublikum eine Orientierung über Geschichte und Gegenwart der Geschichtswissenschaft verschaffen. Auf meinem persönlichen Bücherranking dieses Sommers stehen sie weit oben. JÖRG SPÄTER
JÜRGEN DANYEL, JAN-HOLGER KIRSCH, MARTIN SABROW (Hrsg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007. 247 Seiten, 19, 90 Euro.
MARCUS LLANQUE, HERFRIED MÜNKLER (Hrsg.): Politische Theorie und Ideengeschichte. Lehr- und Textbuch. Akademie Verlag, Berlin 2007. 480 Seiten, 29,80 Euro.
ALOYS WINTERLING (Hrsg.): Historische Anthropologie. Basistexte. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, 301 Seiten, 28 Euro.
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Klassiker und Basistexte zu Geschichte und Politik
Das ZDF hatte vor einigen Jahren zur Wahl gebeten: Demnach ist der beste deutsche Kicker aller Zeiten Franz Beckenbauer, der witzigste Deutsche Loriot und unser Bester überhaupt ist der, den keiner versteht: Albert Einstein. Der Mensch, zumindest der deutsche männliche, braucht Tabellen, um seinen Spieltrieb auszuleben und um die Welt zu ordnen. Das gilt auch und erst recht für die Wissenschaft: Nicht nur ist das Uni-Ranking im Zeitalter der Exzellenz mittlerweile fast so wichtig wie die Bundesligatabelle, die Wissenschaft ist zudem selbst ein Projekt zur Ordnung von Natur und Kultur.
Auf dieser Welle scheinen auf den ersten Blick auch drei Geschichtsbücher zu surfen, welche „50 Klassiker der Zeitgeschichte”, Basistexte zur historischen Anthropologie und historische Schlüsseltexte zur politischen Theorie präsentieren. Doch hier werden keine Suchspielchen nach den hundert schlauesten Historikern veranstaltet, sondern es geht um Ernsthafteres: um Selbstreflektion mittels Selbsthistorisierung und um die Bergung von kleinen und großen Schätzen. Und natürlich um Ordnung und Orientierung.
Die 50 Klassiker der Zeitgeschichte – von Ernst Fraenkels „Doppelstaat” über Joachim Fests Hitlerbiographie bis zum Katalog der Wehrmachtsausstellung – werden jeweils knapp und kompetent vorgestellt und historisiert. Neben den NS-Büchern liegt der Schwerpunkt auf der DDR, die Geschichte der Bundesrepublik ist offensichtlich noch nicht reif für eine Rückschau. In jedem Fall wird deutlich: Zeitgeschichte in Deutschland ist eine sehr deutsche Zeitgeschichte. Und eine männliche: Außer Hannah Arendt, die so berühmt ist, dass sie auch der Kerner kennt, hat nicht eine Historikerin Eingang ins Pantheon gefunden. Das Buch dokumentiert aber nicht nur die nationale Bezogenheit und die männliche Dominanz der Zeitgeschichte, sondern die grundlegenden Veränderungen sowohl der Inhalte und Methoden als auch der wechselnden politischen und sozialphilosophischen Fragestellungen deutscher Geschichtswissenschaft nach 1945, und das in prächtig kommensurabler Form.
Männliche Dominanz
Das von Marcus Llanque und Herfried Münkler herausgegebene opulente Lehr- und Textbuch zur Politischen Theorie und Ideengeschichte möchte dazu beitragen, die Unklarheit und Unübersichtlichkeit der theoretischen Bemühungen zur Klärung des Politischen zu vermindern. Dabei gilt die Prämisse: „Jede Generation muss sich den für sie verbindlichen Begriff des Politischen selbst erarbeiten.” Der Grundaufbau des Buches ist demnach klassisch politikwissenschaftlich: das Politische, politisches Handeln, politische Institutionen, politische Normen. Die Auswahl der Texte dagegen bemüht sich, nicht bei den Klassikern, den Hobbes, Rousseaus und Montesquieus, stehenzubleiben, sondern zum einen von der Gesellschaft her denkende Kritiker des Politischen wie Marx oder Adorno aufzunehmen und zum anderen näher an die Gegenwart heranzukommen. So hat man etwa den Menschenrechten einen Abschnitt gewidmet, wohlwissend, dass globaler Menschenrechtspolitik heute größere Aufmerksamkeit zuteil wird als vergleichender Regierungslehre.
Die Basistexte zur historischen Anthropologie, die der Freiburger Historiker Aloys Winterling zusammengestellt hat, beginnen sogar mit der Kritik der Anthropologie, nämlich Jürgen Habermas’ Aufsatz von 1958 zur „Philosophischen Anthropologie”: „Weil Menschen sich erst zu dem machen, was sie sind, und das, den Umständen nach, je auf eine andere Weise, gibt es sehr wohl Gesellschaften oder Kulturen, über die sich, wie über Pflanzenarten oder Tiergattungen, allgemeine Aussagen machen lassen; aber nicht über ‚den’ Menschen.” In einer sehr erhellenden und reflektierten Einleitung zeigt Winterling, wie sich die historische Anthropologie seitdem entwickelt hat, was man darunter versteht und wozu sie zu gebrauchen ist. Kontinuität durch Wandel scheint die Entwicklungsformel dieser Disziplin und historischen Perspektive zu sein. Sie steht, das belegen die Basistexte von Clifford Geertz über Thomas Nipperdey, Jochen Martin bis zur jüngsten Generation, auf durchaus breiten Schultern, pflegt jedoch noch immer ein Mauerblümchendasein.
Ordnung muss sein
Drei als konservativ geltende Fächer versuchen sich somit über eine Selbsthistorisierung zu reformieren. Herausgekommen sind drei schöne und spannende Lehr- und Textbücher, die sowohl Studierenden wie Lehrenden als auch einem interessierten Laienpublikum eine Orientierung über Geschichte und Gegenwart der Geschichtswissenschaft verschaffen. Auf meinem persönlichen Bücherranking dieses Sommers stehen sie weit oben. JÖRG SPÄTER
JÜRGEN DANYEL, JAN-HOLGER KIRSCH, MARTIN SABROW (Hrsg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007. 247 Seiten, 19, 90 Euro.
MARCUS LLANQUE, HERFRIED MÜNKLER (Hrsg.): Politische Theorie und Ideengeschichte. Lehr- und Textbuch. Akademie Verlag, Berlin 2007. 480 Seiten, 29,80 Euro.
ALOYS WINTERLING (Hrsg.): Historische Anthropologie. Basistexte. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, 301 Seiten, 28 Euro.
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"In der akademischen Lehre wird der Band aufgrund der gelungenen Textauswahl sicherlich zu einem wichtigen Hilfsmittel werden. Und man darf bereits jetzt gespannt sein auf weitere Bände der Reihe 'Basistexte'."
Achim Landwehr Zeitschrift für Historische Forschung, 2008/3
Achim Landwehr Zeitschrift für Historische Forschung, 2008/3