In unserer Welt schneller Schnappschüsse, eines 24-Stunden-Nachrichtenzyklus und medialer Dauervernetzung gilt eine illustrierte Presse, die Bild und Text gleichermaßen würdigt, mittlerweile als rare Kunstform. Dieses detaillierte Kompendium feiert das goldene Zeitalter des grafischen Journalismus als ebenso eigenständiges wie einzigartiges Genre und als Entwicklungslabor avantgardistischer Ästhetik.
Das breite Spektrum der Sammlung reicht von 1819 bis 1921 und umfasst neben Nachrichtengrafiken auch politische und satirische Karikaturen. Zu Werken bekannter Künstler wie Jean Cocteau, Juan Gris und Käthe Kollwitz gesellen sich die Arbeiten der «special artists»: Den Fokus teilen sich dabei berühmte Pressegrafiker wie Thomas Nast, Honoré Daumier und Gustave Doré mit ihren zahlreichen und heute weitgehend vergessenen Kollegen, deren Wiederentdeckung das vorliegende Werk zelebriert.
Von ihrem wegweisenden Einfluss auf die moderne Kunst und den künstlerischen Ausdruck der nachfolgenden Avantgarde erzählen eindrucksvolle Beispiele protocineastischer Erzähltechniken, der Durchbrechung des Einzelbildraums und gewagter Vorstöße in die Abstraktion.
Einen besonderen Fokus widmet das Handbuch Vincent Van Goghs intensiver Auseinandersetzung mit der illustrierten Presse seiner Zeit. Dabei übte nicht nur deren künstlerischer Aspekt, sondern auch ihr sozialreformatorischer Geist eine unwiderstehliche Anziehung auf den engagierten Sammler aus, der seine 18-bändige Kollektion von Pressegrafiken anderen Künstlern gar als eine Art "Künstlerbibel" empfahl.
Das breite Spektrum der Sammlung reicht von 1819 bis 1921 und umfasst neben Nachrichtengrafiken auch politische und satirische Karikaturen. Zu Werken bekannter Künstler wie Jean Cocteau, Juan Gris und Käthe Kollwitz gesellen sich die Arbeiten der «special artists»: Den Fokus teilen sich dabei berühmte Pressegrafiker wie Thomas Nast, Honoré Daumier und Gustave Doré mit ihren zahlreichen und heute weitgehend vergessenen Kollegen, deren Wiederentdeckung das vorliegende Werk zelebriert.
Von ihrem wegweisenden Einfluss auf die moderne Kunst und den künstlerischen Ausdruck der nachfolgenden Avantgarde erzählen eindrucksvolle Beispiele protocineastischer Erzähltechniken, der Durchbrechung des Einzelbildraums und gewagter Vorstöße in die Abstraktion.
Einen besonderen Fokus widmet das Handbuch Vincent Van Goghs intensiver Auseinandersetzung mit der illustrierten Presse seiner Zeit. Dabei übte nicht nur deren künstlerischer Aspekt, sondern auch ihr sozialreformatorischer Geist eine unwiderstehliche Anziehung auf den engagierten Sammler aus, der seine 18-bändige Kollektion von Pressegrafiken anderen Künstlern gar als eine Art "Künstlerbibel" empfahl.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Hochinteressiert blättert Rezensent Paul Jandl durch Alexander Roobs "Prachtband" über die Geschichte der journalistischen Karikatur. Diese war, zeichnet Jandl anhand des Buches nach, stets ein Stachel im Fleisch der Zensur und nahm ihren Anfang in der Dritten Französischen Republik und Publikationen wie "L'Éclipse" und "Le Grelot". Das "dunkel funkelnde oder grelle" grafische Material, das Roob hier versammelt, belegt laut Jandl die historische Nähe von Karikatur und Avantgarde und ist gleichzeitig eine "Schule des Schauens". Außerdem lege Roob eine Verwandtschaft des Genres auch zu Schriftstellern wie Charles Dickens und Künstlern wie Vincent van Gogh offen. Der Band endet, lernen wir, in den frühen 1920ern mit dem Siegeszug der Fotografie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2023Eine Bildform wird rehabilitiert
Popularität als Tugend: Alexander Roob lädt ein zur Besichtigung von Pressegrafiken aus einem Jahrhundert.
Es wäre mir die größte Ehre gewesen, ein Ideal, ganz am Anfang für den Graphic gearbeitet zu haben", schrieb Vincent van Gogh im Dezember 1882 an seinen Bruder Theo. Der Maler besaß eine Sammlung von etwa 1500 Pressegrafiken in achtzehn Bänden, die für ihn "eine Art Bibel für den Künstler" darstellte, die man "ein für alle Mal im Atelier haben" sollte. In Alexander Roobs opulenter Bildgeschichte der Pressegrafik, die von 1819 bis 1921 reicht, steht das Kapitel über van Goghs Pressebilderbibel in der Mitte und bildet zugleich das Herzstück des Bandes. Hier konzentriert sich vieles: die Berührungen zwischen bildender Kunst und Pressegrafik, die Beziehungen zwischen Literatur und Illustrationen, die besonderen Formen der grafischen Darstellungen und nicht zuletzt eine Bilderwelt, die zwischen nachgerade surrealistischen Gestaltungen und sozialkritisch realistischen Darstellungen die nahe und ferne Welt durchmisst. Für van Gogh waren die Grafiken, die er unermüdlich sammelte, Vorbilder im besten Sinn des Wortes. Sie brachten weitere, andere Bilder hervor, die teilweise explizit auf Gebrauchsgrafiken Bezug nahmen.
Dieser stattliche Band ist seinerseits so etwas wie eine Bildermaschine, mit der sich ein Jahrhundert in großen Schritten durchqueren lässt. Er begnügt sich dabei nicht mit Altbekanntem und legt etwa en passant Honoré Daumier als kanonisierte Künstler-Heroengeschichte beiseite, um André Gill zu rehabilitieren, der in der Blütezeit der Karikatur in Frankreich als Künstler, Lehrer und Herausgeber ein Werk schuf, das tief im neunzehnten Jahrhundert die Avantgarden des zwanzigsten auf die Bildprobe stellt.
Gleichwohl fehlen keineswegs berühmte Namen wie Callot, Hogarth, Chodowiecki oder Goya; sie stehen aber nicht im Mittelpunkt der Darstellung. Ihr geht es nicht um eine neue Form der Kanonisierung, sondern um die grundlegende Rehabilitierung einer Bildform, für die sich die Kunstgeschichte und auch die Kulturwissenschaften nur sehr selektiv interessiert haben. Es ist trotz der Schattenseiten der kolonialen Tradition, die auch diese Edition nicht verhehlt, eine demokratische Kunstform, die den Willen zur Popularität als Tugend und nicht als Makel auffasste und mit Grenzüberschreitungen keine Probleme hatte, im Gegenteil: Mit der Kunst unterhielt sie eine Liaison des Gebens und Nehmens, mit der Politik ein kompliziertes Verhältnis, das zwischen Zensur und Bilderreservoir pendelte, und mit der Technikgeschichte eine Art Wahlverwandtschaft, da sich reproduktionstechnische Innovationen sogleich höchst konkret in der Bildproduktion niederschlugen.
Auch die verschiedenen Druckverfahren, deren Kenntnis für das Verständnis der Bildproduktion essenziell ist, werden daher in den Einleitungen zu den Kapiteln erläutert. Sie sind kompakte Einführungen zu neun Einblicken in chronologischer Folge, die dann durch die knappen Erläuterungen in den Bildlegenden ergänzt werden. Das xylographische Atelier erweist sich so etwa auch als ein Ort, der Sehgewohnheiten erzeugt hat. Diese verändern sich nachhaltig, als Anfang der 1920er-Jahre die Fotografie Einzug in die Illustrierte Presse hält und auch die Gestalt der Bilder insgesamt verändert. Damit endet das Jahrhundert der Pressegrafik, die ihrerseits zwischen Karikatur und Dokumentargrafik pendelt und auch putzmunter mit Gattungen spielt.
Das Buch schwelgt im Reichtum der Bilder, man wohnt merkwürdigen Verwandlungen von Formen und Figuren bei, erkundet mit Grandville das nächtliche London, sieht fasziniert dabei zu, wie sich Menschen in merkwürdige ameisenartige Wesen mit riesigen Köpfen und kleinen Körpern verwandeln, und entdeckt wenig bekannte Nebenwege der Kunst von Duchamp bis van Gogh.
Letzterer sah bereits kommen, dass das Jahrhundert der Bilder in Vergessenheit geraten würde. "Empty chairs - es gibt viele, mehr werden hinzukommen, und früher oder später wird es an der Stelle von Herkomer, Luke Fildes, Frank Holl, William Small etc. nur empty chairs geben", schreibt Vincent van Gogh am 11. Dezember 1882 traurig an seinen Bruder Theo. Der "empty chair" war jener von Charles Dickens. Die Abbildung nach einer Zeichnung, die Luke Fildes von Dickens' verwaistem Arbeitszimmer gemacht hatte, erschien unter diesem Titel erstmals in der Weihnachtsnummer 1870 des "Graphic". Aber van Gogh hatte bei seiner melancholischen Notiz nicht den berühmten Schriftsteller, sondern die ungleich weniger bekannten Künstler im Sinn und im Blick, die nimmermüde die Periodika mit Bildern versorgten.
Tatsächlich sollten viele ihrer Arbeiten in Vergessenheit geraten. Roobs Bildgeschichte zwischen Kompendium und Florilegium hat sich als Aufgabe gesetzt, sie zu bergen und van Goghs Bedenken zu zerstreuen. Wenn man sich für die Geschichte der Illustrierten Presse interessiert, sollte man sie im Regal stehen haben, man wird sie immer wieder studieren können. Und reichen einem die zahlreichen Bilder nicht, kann man auf der Website des Melton Prior Instituts, aus dessen Archiv viele der Vorlagen stammen, auf weitere Entdeckungsreisen gehen. Sie lohnen sich. BERND STIEGLER
Alexander Roob: "The History of Press Graphics. 1819-1921". The Golden Age of Graphic Journalism.
Deutsch/Englisch/ Französisch. Taschen Verlag, Köln 2023. 604 S., Abb., geb., 60,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Popularität als Tugend: Alexander Roob lädt ein zur Besichtigung von Pressegrafiken aus einem Jahrhundert.
Es wäre mir die größte Ehre gewesen, ein Ideal, ganz am Anfang für den Graphic gearbeitet zu haben", schrieb Vincent van Gogh im Dezember 1882 an seinen Bruder Theo. Der Maler besaß eine Sammlung von etwa 1500 Pressegrafiken in achtzehn Bänden, die für ihn "eine Art Bibel für den Künstler" darstellte, die man "ein für alle Mal im Atelier haben" sollte. In Alexander Roobs opulenter Bildgeschichte der Pressegrafik, die von 1819 bis 1921 reicht, steht das Kapitel über van Goghs Pressebilderbibel in der Mitte und bildet zugleich das Herzstück des Bandes. Hier konzentriert sich vieles: die Berührungen zwischen bildender Kunst und Pressegrafik, die Beziehungen zwischen Literatur und Illustrationen, die besonderen Formen der grafischen Darstellungen und nicht zuletzt eine Bilderwelt, die zwischen nachgerade surrealistischen Gestaltungen und sozialkritisch realistischen Darstellungen die nahe und ferne Welt durchmisst. Für van Gogh waren die Grafiken, die er unermüdlich sammelte, Vorbilder im besten Sinn des Wortes. Sie brachten weitere, andere Bilder hervor, die teilweise explizit auf Gebrauchsgrafiken Bezug nahmen.
Dieser stattliche Band ist seinerseits so etwas wie eine Bildermaschine, mit der sich ein Jahrhundert in großen Schritten durchqueren lässt. Er begnügt sich dabei nicht mit Altbekanntem und legt etwa en passant Honoré Daumier als kanonisierte Künstler-Heroengeschichte beiseite, um André Gill zu rehabilitieren, der in der Blütezeit der Karikatur in Frankreich als Künstler, Lehrer und Herausgeber ein Werk schuf, das tief im neunzehnten Jahrhundert die Avantgarden des zwanzigsten auf die Bildprobe stellt.
Gleichwohl fehlen keineswegs berühmte Namen wie Callot, Hogarth, Chodowiecki oder Goya; sie stehen aber nicht im Mittelpunkt der Darstellung. Ihr geht es nicht um eine neue Form der Kanonisierung, sondern um die grundlegende Rehabilitierung einer Bildform, für die sich die Kunstgeschichte und auch die Kulturwissenschaften nur sehr selektiv interessiert haben. Es ist trotz der Schattenseiten der kolonialen Tradition, die auch diese Edition nicht verhehlt, eine demokratische Kunstform, die den Willen zur Popularität als Tugend und nicht als Makel auffasste und mit Grenzüberschreitungen keine Probleme hatte, im Gegenteil: Mit der Kunst unterhielt sie eine Liaison des Gebens und Nehmens, mit der Politik ein kompliziertes Verhältnis, das zwischen Zensur und Bilderreservoir pendelte, und mit der Technikgeschichte eine Art Wahlverwandtschaft, da sich reproduktionstechnische Innovationen sogleich höchst konkret in der Bildproduktion niederschlugen.
Auch die verschiedenen Druckverfahren, deren Kenntnis für das Verständnis der Bildproduktion essenziell ist, werden daher in den Einleitungen zu den Kapiteln erläutert. Sie sind kompakte Einführungen zu neun Einblicken in chronologischer Folge, die dann durch die knappen Erläuterungen in den Bildlegenden ergänzt werden. Das xylographische Atelier erweist sich so etwa auch als ein Ort, der Sehgewohnheiten erzeugt hat. Diese verändern sich nachhaltig, als Anfang der 1920er-Jahre die Fotografie Einzug in die Illustrierte Presse hält und auch die Gestalt der Bilder insgesamt verändert. Damit endet das Jahrhundert der Pressegrafik, die ihrerseits zwischen Karikatur und Dokumentargrafik pendelt und auch putzmunter mit Gattungen spielt.
Das Buch schwelgt im Reichtum der Bilder, man wohnt merkwürdigen Verwandlungen von Formen und Figuren bei, erkundet mit Grandville das nächtliche London, sieht fasziniert dabei zu, wie sich Menschen in merkwürdige ameisenartige Wesen mit riesigen Köpfen und kleinen Körpern verwandeln, und entdeckt wenig bekannte Nebenwege der Kunst von Duchamp bis van Gogh.
Letzterer sah bereits kommen, dass das Jahrhundert der Bilder in Vergessenheit geraten würde. "Empty chairs - es gibt viele, mehr werden hinzukommen, und früher oder später wird es an der Stelle von Herkomer, Luke Fildes, Frank Holl, William Small etc. nur empty chairs geben", schreibt Vincent van Gogh am 11. Dezember 1882 traurig an seinen Bruder Theo. Der "empty chair" war jener von Charles Dickens. Die Abbildung nach einer Zeichnung, die Luke Fildes von Dickens' verwaistem Arbeitszimmer gemacht hatte, erschien unter diesem Titel erstmals in der Weihnachtsnummer 1870 des "Graphic". Aber van Gogh hatte bei seiner melancholischen Notiz nicht den berühmten Schriftsteller, sondern die ungleich weniger bekannten Künstler im Sinn und im Blick, die nimmermüde die Periodika mit Bildern versorgten.
Tatsächlich sollten viele ihrer Arbeiten in Vergessenheit geraten. Roobs Bildgeschichte zwischen Kompendium und Florilegium hat sich als Aufgabe gesetzt, sie zu bergen und van Goghs Bedenken zu zerstreuen. Wenn man sich für die Geschichte der Illustrierten Presse interessiert, sollte man sie im Regal stehen haben, man wird sie immer wieder studieren können. Und reichen einem die zahlreichen Bilder nicht, kann man auf der Website des Melton Prior Instituts, aus dessen Archiv viele der Vorlagen stammen, auf weitere Entdeckungsreisen gehen. Sie lohnen sich. BERND STIEGLER
Alexander Roob: "The History of Press Graphics. 1819-1921". The Golden Age of Graphic Journalism.
Deutsch/Englisch/ Französisch. Taschen Verlag, Köln 2023. 604 S., Abb., geb., 60,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Epochales Werk... Die Pressegrafik, für die sich Alexander Roob in seinem mit Fundstücken vollgepackten Prachtband interessiert, war ein larmender Motor der Avantgarde. Dass man in einem Buch, in dem man seinen Namen nicht vermuten würde, auf Vincent van Gogh trifft, gehort zu den schonsten Irritationen." Neue Zürcher Zeitung