Wo formte sich Hitlers Weltanschauung, in Wien oder München? Muß Hitler als Reaktionär oder Revolutionär begriffen werden? Welche Rolle spielte er bei der Judenvernichtung? Welcher Stellenwert kommt ihm in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu? John Lukacs' Darstellung der historiographischen Beschäftigung mit Hitler beschreibt den Wandel des Hitler-Bildes, das die zeitgeschichtliche Forschung und zahlreiche Biographien in vergangenen Jahrzehnten gezeichnet haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.1997Hitler und seine Deuter
John Lukacs vergleicht Thesen und Forschungsergebnisse
John Lukacs: Hitler. Geschichte und Geschichtsschreibung. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. Luchterhand Literaturverlag, München 1997. 367 Seiten, 48,- Mark.
Kann ein ernsthafter Mensch die Rehabilitierung Hitlers im Sinne haben? Ist die Rehabilitierung Hitlers überhaupt vorstellbar? Und was ist von einem Historiker zu halten, der sie sich vorstellen kann? Diese Fragen hat sich John Lukacs nicht gestellt. In seinem Buch über Hitler in der Geschichtsschreibung ist "Rehabilitierung" beinahe der am häufigsten verwendete Begriff. Lukacs sieht überall "offene und heimliche Bewunderer und Apologeten" Hitlers am Werke, "Fürsprecher" und eben Historiker und Biographen, deren Schriften im harmlosesten Fall "implizit Elemente einer Rehabilitierung Hitlers enthalten".
Dennoch wäre es schade, das Buch einfach beiseite zu legen. Denn Lukacs ist besser, wenn er nicht streitet, sondern einfach nur über die Hitler-Literatur berichtet, ältere Einsichten ausgräbt und gegen neuere hält, zusammenfaßt, vergleicht und auf Widersprüche oder Forschungslücken hinweist. Er findet dann selbst gern zu provokanten Deutungen.
Von Hitler als "Revolutionär" mit sehr modernen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Vorstellungen, die den politischen Erfolg Hitlers und seiner Partei erst erklären, hat vor zehn Jahren der vielgescholtene Historiker Rainer Zitelmann gesprochen. Die These wird vor allem von Historikern links der politischen Mitte bestritten. Lukacs geht über Zitelmann noch hinaus - was ihn nicht hindert, Zitelmann an anderer Stelle der "Rehabilitierung" Hitlers zu zeihen. Hitler, schreibt er, sei ein "populistischer Revolutionär in einem demokratischen Zeitalter" gewesen. Sein Ziel sei es gewesen, "mit der aktiven Zustimmung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu regieren". Es gelang ihm, und darin liegt die bleibende Warnung an das demokratische Zeitalter. Hitler selber hat sie 1941 formuliert, und Lukacs zitiert sie: "Die sogenannte nationalsozialistische Revolution hat in der Demokratie mit der Demokratie die Demokratie besiegt."
Die Erklärung für den Sieg Hitlers über die Demokratie findet auch Lukacs in den außen- und vor allem wirtschaftspolitischen Leistungen des Regimes. Die, das fand auch Zitelmann, waren keineswegs nur Ergebnis der Aufrüstung. "Hitlers nationalsozialistisches Deutschland", faßt Lukacs den Befund zusammen, "bewies, daß es möglich war, unter einer harten Diktatur einen hohen Lebensstandard zu erreichen." Sein vergleichender Blick auf die andere Diktatur weist auf die eigentliche Ursache des Streits über die "Modernität" des "Dritten Reiches" hin: "Im Vergleich zum Kommunismus war der Hitlerismus wirklich moderner. Und populärer."
Über die "Totalitarismus-Theorie", die Nationalsozialismus und Kommunismus nebeneinanderstellt und miteinander vergleicht, ist zur Zeit der Entspannungspolitik viel gestritten worden. Der Streit geht weiter. Wer seit 1989/90 die DDR mit Hitler-Deutschland verglich, dem konnte es passieren, "unerträgliche Verharmlosung des Dritten Reiches" (Wolfgang Wippermann) vorgeworfen zu bekommen. Lukacs dreht nun den Spieß um und zieht in Zweifel, daß das "Dritte Reich", jedenfalls bis 1938, ein totalitärer Staat war: "Von der Lage der Juden abgesehen, gab es im nationalsozialistischen Deutschland mehr persönliche und auch politische Freiheit als im kommunistischen Rußland." Ähnlich hat es 1978 übrigens auch Sebastian Haffner in seinen noch immer glänzenden "Anmerkungen zu Hitler" gesehen. Es hat ihm seinerzeit niemand übelgenommen.
Überfiel Hitler Rußland, um "Lebensraum" zu erobern, oder wollte er England den letzten potentiellen Bündnispartner auf dem Kontinent nehmen, um die Insel zum Frieden zu zwingen? Die Diskussion ist nicht neu. Lukacs hat selber schon wiederholt zu ihr beigetragen. Auf Äußerungen Hitlers gestützt, versucht er wieder zu belegen, Hitler habe sich nur zögernd, gar widerwillig zum Krieg gegen Rußland entschlossen. Nur vordergründig geht es hier um die strategische Alternative England oder Rußland. Lukacs stellt die übliche Vorstellung von der Bedeutung der "Weltanschauung Hitlers" in Frage und bohrt am Fundament der Erforschung des "Dritten Reiches": Es müsse, schreibt er, "die allgemein anerkannte Ansicht modifiziert werden, Antijudaismus und Eroberung von Lebensraum im europäischen Rußland seien die beiden nicht nur grundlegenden, sondern auch unveränderlichen Elemente von Hitlers Strategie gewesen".
Im Zusammenhang mit dem alten Streit darüber, ob das vielköpfige und chaotische nationalsozialistische Regime den "schwachen Diktator" beherrschte oder der "starke Diktator" das Regime, ist auch darauf hingewiesen worden, daß es einen schriftlichen Befehl Hitlers zur Ausführung der "Endlösung" nicht gebe. Es gab ihn nicht, so Lukacs, weil die "Endlösung" ein Staatsgeheimnis war und bleiben sollte. Aus einer Aussage Eichmanns in Jerusalem weiß man aber, daß Hitler 1943 eine eigens für ihn angefertigte statistische Aufstellung "über die noch im Osten verbliebenen Juden" erhielt. Lukacs ist sich sicher, daß Hitler selber die "Endlösung" befahl oder ihr zustimmte und von den Beschlüssen der Wannseekonferenz wußte. Allerdings trägt er auch Hinweise zusammen, daß seine Umgebung Hitler zu immer radikaleren Maßnahmen drängte. Im Zusammenhang mit den Mordaktionen in Rußland spekuliert er, daß auch ein starker Diktator nicht immer Herr der Ausführung seiner eigenen Befehle ist - "sie werden von seinen Handlangern zuweilen mit einer Genauigkeit ausgeführt, die über Qualifizierungen und Bedingungen, ja sogar mögliche Vorbehalte des Diktators hinausgeht".
Vor sieben Jahren hat Lukacs schon einmal betont, die Studie des "Staatsmannes Hitler" müsse noch geschrieben werden. Das kann er, wenn er meint, nun selbst tun - und Farbe bekennen. HEINRICH MAETZKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
John Lukacs vergleicht Thesen und Forschungsergebnisse
John Lukacs: Hitler. Geschichte und Geschichtsschreibung. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. Luchterhand Literaturverlag, München 1997. 367 Seiten, 48,- Mark.
Kann ein ernsthafter Mensch die Rehabilitierung Hitlers im Sinne haben? Ist die Rehabilitierung Hitlers überhaupt vorstellbar? Und was ist von einem Historiker zu halten, der sie sich vorstellen kann? Diese Fragen hat sich John Lukacs nicht gestellt. In seinem Buch über Hitler in der Geschichtsschreibung ist "Rehabilitierung" beinahe der am häufigsten verwendete Begriff. Lukacs sieht überall "offene und heimliche Bewunderer und Apologeten" Hitlers am Werke, "Fürsprecher" und eben Historiker und Biographen, deren Schriften im harmlosesten Fall "implizit Elemente einer Rehabilitierung Hitlers enthalten".
Dennoch wäre es schade, das Buch einfach beiseite zu legen. Denn Lukacs ist besser, wenn er nicht streitet, sondern einfach nur über die Hitler-Literatur berichtet, ältere Einsichten ausgräbt und gegen neuere hält, zusammenfaßt, vergleicht und auf Widersprüche oder Forschungslücken hinweist. Er findet dann selbst gern zu provokanten Deutungen.
Von Hitler als "Revolutionär" mit sehr modernen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Vorstellungen, die den politischen Erfolg Hitlers und seiner Partei erst erklären, hat vor zehn Jahren der vielgescholtene Historiker Rainer Zitelmann gesprochen. Die These wird vor allem von Historikern links der politischen Mitte bestritten. Lukacs geht über Zitelmann noch hinaus - was ihn nicht hindert, Zitelmann an anderer Stelle der "Rehabilitierung" Hitlers zu zeihen. Hitler, schreibt er, sei ein "populistischer Revolutionär in einem demokratischen Zeitalter" gewesen. Sein Ziel sei es gewesen, "mit der aktiven Zustimmung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu regieren". Es gelang ihm, und darin liegt die bleibende Warnung an das demokratische Zeitalter. Hitler selber hat sie 1941 formuliert, und Lukacs zitiert sie: "Die sogenannte nationalsozialistische Revolution hat in der Demokratie mit der Demokratie die Demokratie besiegt."
Die Erklärung für den Sieg Hitlers über die Demokratie findet auch Lukacs in den außen- und vor allem wirtschaftspolitischen Leistungen des Regimes. Die, das fand auch Zitelmann, waren keineswegs nur Ergebnis der Aufrüstung. "Hitlers nationalsozialistisches Deutschland", faßt Lukacs den Befund zusammen, "bewies, daß es möglich war, unter einer harten Diktatur einen hohen Lebensstandard zu erreichen." Sein vergleichender Blick auf die andere Diktatur weist auf die eigentliche Ursache des Streits über die "Modernität" des "Dritten Reiches" hin: "Im Vergleich zum Kommunismus war der Hitlerismus wirklich moderner. Und populärer."
Über die "Totalitarismus-Theorie", die Nationalsozialismus und Kommunismus nebeneinanderstellt und miteinander vergleicht, ist zur Zeit der Entspannungspolitik viel gestritten worden. Der Streit geht weiter. Wer seit 1989/90 die DDR mit Hitler-Deutschland verglich, dem konnte es passieren, "unerträgliche Verharmlosung des Dritten Reiches" (Wolfgang Wippermann) vorgeworfen zu bekommen. Lukacs dreht nun den Spieß um und zieht in Zweifel, daß das "Dritte Reich", jedenfalls bis 1938, ein totalitärer Staat war: "Von der Lage der Juden abgesehen, gab es im nationalsozialistischen Deutschland mehr persönliche und auch politische Freiheit als im kommunistischen Rußland." Ähnlich hat es 1978 übrigens auch Sebastian Haffner in seinen noch immer glänzenden "Anmerkungen zu Hitler" gesehen. Es hat ihm seinerzeit niemand übelgenommen.
Überfiel Hitler Rußland, um "Lebensraum" zu erobern, oder wollte er England den letzten potentiellen Bündnispartner auf dem Kontinent nehmen, um die Insel zum Frieden zu zwingen? Die Diskussion ist nicht neu. Lukacs hat selber schon wiederholt zu ihr beigetragen. Auf Äußerungen Hitlers gestützt, versucht er wieder zu belegen, Hitler habe sich nur zögernd, gar widerwillig zum Krieg gegen Rußland entschlossen. Nur vordergründig geht es hier um die strategische Alternative England oder Rußland. Lukacs stellt die übliche Vorstellung von der Bedeutung der "Weltanschauung Hitlers" in Frage und bohrt am Fundament der Erforschung des "Dritten Reiches": Es müsse, schreibt er, "die allgemein anerkannte Ansicht modifiziert werden, Antijudaismus und Eroberung von Lebensraum im europäischen Rußland seien die beiden nicht nur grundlegenden, sondern auch unveränderlichen Elemente von Hitlers Strategie gewesen".
Im Zusammenhang mit dem alten Streit darüber, ob das vielköpfige und chaotische nationalsozialistische Regime den "schwachen Diktator" beherrschte oder der "starke Diktator" das Regime, ist auch darauf hingewiesen worden, daß es einen schriftlichen Befehl Hitlers zur Ausführung der "Endlösung" nicht gebe. Es gab ihn nicht, so Lukacs, weil die "Endlösung" ein Staatsgeheimnis war und bleiben sollte. Aus einer Aussage Eichmanns in Jerusalem weiß man aber, daß Hitler 1943 eine eigens für ihn angefertigte statistische Aufstellung "über die noch im Osten verbliebenen Juden" erhielt. Lukacs ist sich sicher, daß Hitler selber die "Endlösung" befahl oder ihr zustimmte und von den Beschlüssen der Wannseekonferenz wußte. Allerdings trägt er auch Hinweise zusammen, daß seine Umgebung Hitler zu immer radikaleren Maßnahmen drängte. Im Zusammenhang mit den Mordaktionen in Rußland spekuliert er, daß auch ein starker Diktator nicht immer Herr der Ausführung seiner eigenen Befehle ist - "sie werden von seinen Handlangern zuweilen mit einer Genauigkeit ausgeführt, die über Qualifizierungen und Bedingungen, ja sogar mögliche Vorbehalte des Diktators hinausgeht".
Vor sieben Jahren hat Lukacs schon einmal betont, die Studie des "Staatsmannes Hitler" müsse noch geschrieben werden. Das kann er, wenn er meint, nun selbst tun - und Farbe bekennen. HEINRICH MAETZKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main