Dem Bochumer Musikwissenschaftler Michael Walter gelingt der Nachweis, dass das Musikleben während der Weimarer Republik sich wesentlich von dem der Kaiserzeit unterschied und in vielem bereits das Musikleben des Dritten Reichs vorwegnahm. Diese Kontinuitäten zeigen sich nicht nur an musikpolitischen Grundströmungen, sondern auch an Publikumsstruktur, Spielplanpolitik und an den Erwartungen der Zuschauer und Zuhörer. Hitler selbst entsprach einem bestimmten Typus des Opernbesuchers der 20er Jahre und steht damit für einen Kontinuitätsaspekt des Musiklebens nach 1933.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2017In der Dunkelloge wird soupiert
Sprechen wir nicht von berühmten Stimmen, sondern erst einmal über die gezahlten Gagen: Michael Walter legt eine gut geerdete und überaus detailreiche Geschichte des Opernbetriebs vor.
Die oft totgesagte Oper ist nicht nur eine der langlebigsten, sondern auch eine der kostspieligsten Kunstformen. "Ohne Geld ka Musi", wie man im hochsubventionierten "Musikland Österreich" nur zu gut weiß. Der in Graz lehrende Musikwissenschaftler und Opernspezialist Michael Walter fächert in seinem neuen Buch diese Weisheit in zahlreichen historischen Facetten auf. Wenn der Hauptzweck der Institution Oper darin liegt, "Opern als Bühnenereignisse zu produzieren", treten Komponisten und Musik naturgemäß in den Hintergrund. Es sind die Sänger, Impresarii, Theaterdirektoren, Mäzene und nicht zuletzt das Publikum, die im Rampenlicht dieser detailreichen und anregenden Geschichte des Opernbetriebs stehen.
Walter sieht die konkreten Organisationsformen des Musiktheaters, die sich mit der Kommerzialisierung durch das venezianische Impresario-System der Stagione im Italien des siebzehnten Jahrhunderts erstmals herausbilden, als materielle Gegebenheiten, die ästhetische Entscheidungen wesentlich prägen. Der Impresario muss in sich die Eigenschaften eines Feldherrn, eines gründlichen Musikers und eines geschickt taktierenden Politikers vereinigen. Ihm obliegt das Anheuern der Truppe, das Anmieten der Spielstätte und das Kalkulieren des lokalen Publikumsgeschmacks mit Blick auf eine neue Produktion. Unerbittlicher Unternehmergeist ist dabei gefragt, Bildung nicht unbedingt vonnöten: Domenico Barbaja etwa, der maßgeblich für den Siegeszug von Rossinis Opern in Europa verantwortlich war, stammte aus bescheidenen Verhältnissen und schrieb seine Briefe im Mailänder Dialekt.
Die höchsten Kosten verursachten die Sängerinnen und Sänger, die als Zugpferde aufgebaut werden mussten und deren Ambitionen selten rein künstlerischer Art waren. Für sie galt es, Geld und Ruhm zu gewinnen. Während die Höhe der Sängergagen heutzutage selten dem Publikum bekannt wird, bildete im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert das Kolportieren der Gagen eine gängige Strategie, um den Marktwert eines Primo Uomo oder einer Prima donna zu demonstrieren und im Wettbewerb der großen europäischen Opernhäuser noch zu erhöhen. So eiferte etwa die deutsch-französische Sopranistin Henriette Sontag 1827 der Primadonna Giuditta Pasta nach, die in nur drei Monaten in London die staatliche Summe von "100 000 Franks" verdient hatte. Die großen Häuser in Italien, Frankreich und England galten ihr als der Ort, "um sich für ewige Zeiten Ruhm, Lorbeeren und Geld zu sammeln". Ihr Prestige demonstrierten Sängerinnen auf der Bühne auch durch das Tragen von Schmuck, den sie von ihren Gönnern als Geschenk erhalten hatte: "Ich kann mich jetzt schon ganz in Brillanten stecken", schrieb Sontag mit entwaffnender Offenheit, "jetzt habe ich alles, was zu einer Künstlerin gehört, um brillant aufzutreten."
Das Wetteifern mit dem Adel im verschwenderischen Ausgeben von Geld und dem Unterhalten von Bediensteten war ebenfalls Teil des Lebensstils vieler Opernstars, die so ihre hohen Gagen manchmal rasch durchbrachten, sogar gelegentlich ins Schuldgefängnis wanderten. In deutlichem Kontrast zur Geschichte der Oper, von Carolyn Abbate und Roger Parker (F.A.Z. vom 13. Oktober 2013), stellt Walter nicht das ästhetische Spezifikum der Singstimme und ihrer Wirkung in den Vordergrund. Ihm geht es sichtlich um deren radikale Entzauberung, wenn er etwa die Würdigung von Pasta oder anderen legendären Opernsängern im Herbst ihrer Karrieren allein auf die Anhäufung symbolischen Kapitals und somit letztlich auf ihre einstigen Gagen zurückführt.
Mit seinem institutionsgeschichtlichen Zugang folgt Walter einem Trend in der Musikwissenschaft, der sich von einer rein werk- oder autororientierten Perspektive konsequent verabschiedet. Er bleibt es dabei aber schuldig, die Zusammenhänge zwischen der Ausbildung von spezifischen Gesangsstilen, dramatischen Formen und den materiellen und sozialen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten. Trotz dieser Einschränkungen erweist sich seine materialistische Erdung der Kunstform Oper immer wieder als erhellend zum Verständnis des zuweilen kuriosen Mikrokosmos, in dem sie bis heute gedeiht.
Dies zeigt sich an dem vielleicht lesenswertesten Kapitel des Buches, welches das Geschehen im Zuschauerraum behandelt. Eine ganze Welt lag im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert zwischen dem Publikum, das auf der Galerie und im zunächst nur mit Stehplätzen ausgestatteten Parterre zu finden war, und demjenigen, das die Sperrsitze im Parkett und die Logen besetzte. Während die Vermietung der Logen einer komplizierten Hierarchie unterlag, die sich am Rang der jeweiligen Opernbesucher bemaß, ermöglichten Galerie und Parterre einer sozial durchmischten Gruppe Zutritt: dazu konnten ebenso Bedienstete oder Lakaien der in den Logen sitzenden Herrschaften gehören wie Freunde und Verwandte der Sänger, die über Freikarten verfügten, oder eigens angeheuerte, strategisch im Publikum plazierte Personen, die berüchtigten "Claqueure", welche die Leistungen von bestimmten Sängern frenetisch akklamieren und die ihrer Rivalen verächtlich niederzischen sollten.
Die seit dem achtzehnten Jahrhundert fest etablierte Anwesenheit solcher bezahlten Stimmungsmacher im Opernhaus bildete stets einen potentiellen Unruheherd. Beim Aufeinandertreffen zweier Parteien, die zwei rivalisierende Stars unterstützten, konnte es manchmal auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kommen. Während viele Direktoren wie Gustav Mahler in Wien vergeblich versuchten, die Claque zu verbieten, hatte man in Paris bereits in den 1820er Jahren Schritte in die Richtung ihrer Professionalisierung unternommen. Der Direktor der Grand Opéra beschäftigte einen Chef de Claque, der rund 40 000 Francs im Jahr einnahm und die im damals noch hell erleuchteten Zuschauerraum verteilten Claqueure mit vorher abgesprochenen Gesten dirigierte. Bei Uraufführungen bildete die Claque eine Art "Versicherungssystem" für den Theaterdirektor und den Komponisten, die vorab Arbeitssitzungen abhielten, um die applausträchtigen Stellen in einer neuen Oper zu besprechen.
Ausführlich behandelt Walter das Thema der Prostitution im Opernhaus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Er wendet sich hier beredt gegen die Auffassung, die großen Opernhäuser seien auch Orte sexueller Ausschweifungen gewesen, eine Vorstellung, die vor allem mit den sogenannten "Dunkellogen" oder "Gitterlogen" verknüpft ist. Diese Logen waren durch Jalousien oder Vorhänge zum Zuschauerraum hin verschließbar. Man konnte in ihnen Konversation machen, Karten spielen, essen, schlafen oder einfach inkognito der Musik lauschen.
Etwas spärlich fallen die Bemerkungen Walters zur Oper im zwanzigsten Jahrhundert aus. In die Kritik des modernen Opernbetriebs, der zunehmend von privaten Sponsoren getragen wird, stimmt er nicht ein. Seine Perspektive der longue durée, die die unauflösliche Verbindung des Genres Oper mit ihren materiellen Bedingungen aufzeigt, revidiert nicht zuletzt ein gängiges Vorurteil: dass nämlich die Kommerzialisierung den künstlerischen Niedergang der Kunstform Oper bedeutet hätte.
ANDREAS MAYER
Michael Walter: "Oper".
Geschichte einer
Institution.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016. 470 S., geb., 49,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprechen wir nicht von berühmten Stimmen, sondern erst einmal über die gezahlten Gagen: Michael Walter legt eine gut geerdete und überaus detailreiche Geschichte des Opernbetriebs vor.
Die oft totgesagte Oper ist nicht nur eine der langlebigsten, sondern auch eine der kostspieligsten Kunstformen. "Ohne Geld ka Musi", wie man im hochsubventionierten "Musikland Österreich" nur zu gut weiß. Der in Graz lehrende Musikwissenschaftler und Opernspezialist Michael Walter fächert in seinem neuen Buch diese Weisheit in zahlreichen historischen Facetten auf. Wenn der Hauptzweck der Institution Oper darin liegt, "Opern als Bühnenereignisse zu produzieren", treten Komponisten und Musik naturgemäß in den Hintergrund. Es sind die Sänger, Impresarii, Theaterdirektoren, Mäzene und nicht zuletzt das Publikum, die im Rampenlicht dieser detailreichen und anregenden Geschichte des Opernbetriebs stehen.
Walter sieht die konkreten Organisationsformen des Musiktheaters, die sich mit der Kommerzialisierung durch das venezianische Impresario-System der Stagione im Italien des siebzehnten Jahrhunderts erstmals herausbilden, als materielle Gegebenheiten, die ästhetische Entscheidungen wesentlich prägen. Der Impresario muss in sich die Eigenschaften eines Feldherrn, eines gründlichen Musikers und eines geschickt taktierenden Politikers vereinigen. Ihm obliegt das Anheuern der Truppe, das Anmieten der Spielstätte und das Kalkulieren des lokalen Publikumsgeschmacks mit Blick auf eine neue Produktion. Unerbittlicher Unternehmergeist ist dabei gefragt, Bildung nicht unbedingt vonnöten: Domenico Barbaja etwa, der maßgeblich für den Siegeszug von Rossinis Opern in Europa verantwortlich war, stammte aus bescheidenen Verhältnissen und schrieb seine Briefe im Mailänder Dialekt.
Die höchsten Kosten verursachten die Sängerinnen und Sänger, die als Zugpferde aufgebaut werden mussten und deren Ambitionen selten rein künstlerischer Art waren. Für sie galt es, Geld und Ruhm zu gewinnen. Während die Höhe der Sängergagen heutzutage selten dem Publikum bekannt wird, bildete im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert das Kolportieren der Gagen eine gängige Strategie, um den Marktwert eines Primo Uomo oder einer Prima donna zu demonstrieren und im Wettbewerb der großen europäischen Opernhäuser noch zu erhöhen. So eiferte etwa die deutsch-französische Sopranistin Henriette Sontag 1827 der Primadonna Giuditta Pasta nach, die in nur drei Monaten in London die staatliche Summe von "100 000 Franks" verdient hatte. Die großen Häuser in Italien, Frankreich und England galten ihr als der Ort, "um sich für ewige Zeiten Ruhm, Lorbeeren und Geld zu sammeln". Ihr Prestige demonstrierten Sängerinnen auf der Bühne auch durch das Tragen von Schmuck, den sie von ihren Gönnern als Geschenk erhalten hatte: "Ich kann mich jetzt schon ganz in Brillanten stecken", schrieb Sontag mit entwaffnender Offenheit, "jetzt habe ich alles, was zu einer Künstlerin gehört, um brillant aufzutreten."
Das Wetteifern mit dem Adel im verschwenderischen Ausgeben von Geld und dem Unterhalten von Bediensteten war ebenfalls Teil des Lebensstils vieler Opernstars, die so ihre hohen Gagen manchmal rasch durchbrachten, sogar gelegentlich ins Schuldgefängnis wanderten. In deutlichem Kontrast zur Geschichte der Oper, von Carolyn Abbate und Roger Parker (F.A.Z. vom 13. Oktober 2013), stellt Walter nicht das ästhetische Spezifikum der Singstimme und ihrer Wirkung in den Vordergrund. Ihm geht es sichtlich um deren radikale Entzauberung, wenn er etwa die Würdigung von Pasta oder anderen legendären Opernsängern im Herbst ihrer Karrieren allein auf die Anhäufung symbolischen Kapitals und somit letztlich auf ihre einstigen Gagen zurückführt.
Mit seinem institutionsgeschichtlichen Zugang folgt Walter einem Trend in der Musikwissenschaft, der sich von einer rein werk- oder autororientierten Perspektive konsequent verabschiedet. Er bleibt es dabei aber schuldig, die Zusammenhänge zwischen der Ausbildung von spezifischen Gesangsstilen, dramatischen Formen und den materiellen und sozialen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten. Trotz dieser Einschränkungen erweist sich seine materialistische Erdung der Kunstform Oper immer wieder als erhellend zum Verständnis des zuweilen kuriosen Mikrokosmos, in dem sie bis heute gedeiht.
Dies zeigt sich an dem vielleicht lesenswertesten Kapitel des Buches, welches das Geschehen im Zuschauerraum behandelt. Eine ganze Welt lag im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert zwischen dem Publikum, das auf der Galerie und im zunächst nur mit Stehplätzen ausgestatteten Parterre zu finden war, und demjenigen, das die Sperrsitze im Parkett und die Logen besetzte. Während die Vermietung der Logen einer komplizierten Hierarchie unterlag, die sich am Rang der jeweiligen Opernbesucher bemaß, ermöglichten Galerie und Parterre einer sozial durchmischten Gruppe Zutritt: dazu konnten ebenso Bedienstete oder Lakaien der in den Logen sitzenden Herrschaften gehören wie Freunde und Verwandte der Sänger, die über Freikarten verfügten, oder eigens angeheuerte, strategisch im Publikum plazierte Personen, die berüchtigten "Claqueure", welche die Leistungen von bestimmten Sängern frenetisch akklamieren und die ihrer Rivalen verächtlich niederzischen sollten.
Die seit dem achtzehnten Jahrhundert fest etablierte Anwesenheit solcher bezahlten Stimmungsmacher im Opernhaus bildete stets einen potentiellen Unruheherd. Beim Aufeinandertreffen zweier Parteien, die zwei rivalisierende Stars unterstützten, konnte es manchmal auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kommen. Während viele Direktoren wie Gustav Mahler in Wien vergeblich versuchten, die Claque zu verbieten, hatte man in Paris bereits in den 1820er Jahren Schritte in die Richtung ihrer Professionalisierung unternommen. Der Direktor der Grand Opéra beschäftigte einen Chef de Claque, der rund 40 000 Francs im Jahr einnahm und die im damals noch hell erleuchteten Zuschauerraum verteilten Claqueure mit vorher abgesprochenen Gesten dirigierte. Bei Uraufführungen bildete die Claque eine Art "Versicherungssystem" für den Theaterdirektor und den Komponisten, die vorab Arbeitssitzungen abhielten, um die applausträchtigen Stellen in einer neuen Oper zu besprechen.
Ausführlich behandelt Walter das Thema der Prostitution im Opernhaus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Er wendet sich hier beredt gegen die Auffassung, die großen Opernhäuser seien auch Orte sexueller Ausschweifungen gewesen, eine Vorstellung, die vor allem mit den sogenannten "Dunkellogen" oder "Gitterlogen" verknüpft ist. Diese Logen waren durch Jalousien oder Vorhänge zum Zuschauerraum hin verschließbar. Man konnte in ihnen Konversation machen, Karten spielen, essen, schlafen oder einfach inkognito der Musik lauschen.
Etwas spärlich fallen die Bemerkungen Walters zur Oper im zwanzigsten Jahrhundert aus. In die Kritik des modernen Opernbetriebs, der zunehmend von privaten Sponsoren getragen wird, stimmt er nicht ein. Seine Perspektive der longue durée, die die unauflösliche Verbindung des Genres Oper mit ihren materiellen Bedingungen aufzeigt, revidiert nicht zuletzt ein gängiges Vorurteil: dass nämlich die Kommerzialisierung den künstlerischen Niedergang der Kunstform Oper bedeutet hätte.
ANDREAS MAYER
Michael Walter: "Oper".
Geschichte einer
Institution.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016. 470 S., geb., 49,95 [Euro].
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"Walters Buch wird künftig eine nicht zu umgehende Referenz für alle sein, die sich mit dem deutschen Musikleben in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts befassen."(Jens Malte Fischer in Medienwissenschaft) "Das Buch regt an, scheinbar gesicherte Überzeugungen zur Musik im Dritten Reich neu zu überdenken."(Volkhard Röseler im Sender Freies Berlin)