Eric Voegelins Vorlesungen über Hitler und die Deutschen, die er im Sommersemester 1964 an der Münchner Universität gehalten hat, stellen die schonungslose Abrechnung mit einer Gesellschaft dar, die in den frühen 60er Jahren in das große Schweigen versunken war. Es ging ihm nicht so sehr um die mörderischen Details des Nazi-Reiches, sondern das Versagen der deutschen politischen und geistigen Eliten, die dieses Regime unterstützt oder zumindest geduldet hatten. Der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte politische Philosoph legt eine kritische Analyse des historischen und zeitgenössischen Deutschland vor, die in ihrer rücksichtslosen Offenheit noch immer unübertroffen bleibt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2006Mörderische Burleske
Eine Abrechnung: Eric Voegelins Münchner Vorlesungen über Hitler und die Deutschen / Von Michael Jeismann
Unsere Gesellschaft sei eine Mischung aus Klapsmühle und Schlachthof, meint der Philosoph Eric Voegelin in seinen pointierten und fundamentalen Auslassungen über die Gegenwart der Vergangenheit, vorgetragen 1964.
Hitler und die Deutschen - von der radikalen Unterscheidung (der Münchner Historiker Gerhard Ritter nannte Hitler nach dem Krieg einen "asiatischen Barbaren", womit klar sein mußte, daß die Deutschen ganz anders seien) bis zur vollständigen Identifikation von Volk und Führer (wie die Nationalsozialisten es gern gehabt hätten) bei Daniel Goldhagen reicht die Spannbreite der Interpretationen. "Hitler und die Deutschen" - so hieß auch die Vorlesung, die der Politologe und Philosoph Eric Voegelin als Ordinarius für Politische Wissenschaften an der Universität München im Sommersemester 1964 hielt. Anstelle einer allgemeinen "Einführung in die Politik" entschloß sich Voegelin, über das Verhältnis von Hitler und den Deutschen zu sprechen.
An Gründen herrschte ohnehin kein Mangel, aber es gab auch viele aktuelle Anlässe, an denen fast täglich abzulesen war, wie unklar diese Beziehung den Deutschen selbst war, gleichgültig, ob sie sich darum scherten oder nicht. In Frankfurt ging der Auschwitz-Prozeß in seine letzte Phase. Ein Chronist des Prozesses vermerkte, es sei kein angenehmes Gefühl, im Gedränge an der Garderobe vor dem Gerichtssaal "diese Leute", also höheres und niederes Lagerpersonal des Vernichtungslagers Ausschwitz, ganz dicht neben sich zu haben. Ganz dicht hatte im Jahr zuvor, 1963, der Mediävist Percy E. Schramm Hitler kommen wollen. Der Spiegel druckte seine mehrteilige Serie, die den Titel "Anatomie eines Diktators" trug und sofort heftige Reaktionen auslöste. Neben Golo Mann war es vor allem Alfred Wucher, damals Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" und später Professor für Pressejournalismus in Mainz, der die "Verniedlichung" Hitlers durch Schramm, den ehemaligen Führer des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehrmacht, deutlich herausstellte.
Für Voegelin aber handelte es sich bei der betulichen Ausstaffierung des Führers für das Wohnzimmer der deutschen Biedermänner nicht bloß um ein bemerkenswertes intellektuelles Versagen eines angesehenen Professors, das Aufschluß über die Geistesverfassung der deutschen Akademiker gab. Daß sie Hitler gefolgt waren und ihnen hinterher schlechterdings nichts als Ausreden für ein Versagen existentiellen Ausmaßes einfielen, war für Voegelin ein Zeichen, daß allen voran die wissenschaftliche Elite des Landes offenbar keinen moralisch-politischen Maßstab besaß und kein elementares Gefühl für Schuld. Schramm bescheinigt er: "Vollständiger Realitätsausfall, Ausblendung jedes bedeutenden Kopfes in Deutschland, der jemals etwas über Hitler gesagt hat! Aber irgendwelche Trottel vom Generalstab - das sind die Quellen, nach denen wir Hitler zu beurteilen haben. Es ist ein Skandal! Und der Mann ist Ordinarius für Geschichte an einer deutschen Universität und hoch geachtet von seinen Fachgenossen. Nun, ich kann nichts dafür - der deutsche Mittelstand ist eine Burleske, eine mörderische Burleske."
Man kann sich leicht vorstellen, welche Wirkung Voegelins Analysen auf seine Zuhörer hatten. Der in den Vereinigten Staaten lehrende Politikwissenschaftler Manfred Henningsen, in jener Zeit Assistent von Voegelin und Herausgeber des hervorragend edierten Bandes, beschreibt in seiner instruktiven und engagierten Einführung, wie zu Beginn der Vorlesung am 12. Mai 1964 in den ersten Reihen katholische Priester neben Beamten aus dem Kultusministerium und den konservativen Intellektuellen Armin Mohler und Caspar Schreck-Notzing saßen. Unter den Studenten, die Voegelins Vorlesung hörten, waren Michael Nauman, der bei Voegelin über Karl Kraus promovierte, der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung, der Politologe Claus Bärsch, Florian Sattler, Kurt Stenzel und Manfred Weber. Die Kollegen der eigenen Universität dagegen, die in der Pause an den Studenten und manchmal auch an Voegelin selbst vorbeieilten, hatten wenig Sympathie für Voegelins Ansatz, der mitten ins dunkle Herz der deutschen Universität zielte.
Wie sehr die allgemeine Stimmungslage und das Interesse dem Thema von Voegelins Vorlesungen tatsächlich entgegenkamen, zeigt sich allein daran, daß wenige Wochen nach diesen Vorlesungen Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem" erschien, ein Jahr darauf Karls Jaspers Essay "Wohin treibt die Bundesrepublik?". Zuvor hatten eben Percy E. Schramms rührselige Sprachlosigkeiten zu Hitler die Deutschen gespalten.
Daß die Vorlesungen erst jetzt, mehr als vierzig Jahre später, auf deutsch gedruckt vorliegen (die englische und die französische Ausgabe erschienen vor wenigen Jahren), ist eine Geschichte für sich, die vor allem damit zu tun hat, daß Voegelin den Deutschen nicht als Debatten-Intellektueller zur Verfügung stehen und seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sein eigentliches wissenschaftliches Werk richten wollte.
Die Frage ist nun, wie diese pointierten und zugleich fundamentalen Vorlesungen über Hitler und die Deutschen in die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einzubeziehen sind. Seine Bemerkungen zu Percy E. Schramms "programmatischer und sprachlicher Unfähigkeit, Hitler zu verstehen", sind nicht nur mit Temperament und intellektuellem Schliff vorgetragen, sondern führen vor, wie Schramm, dem Strategen der Hitler-Hermeneutik, beständig alles so gerät, daß er am Ende Hitlers eigene Legende weiterstrickt. Das Fehlen eines belastbaren Ordnungsgerüsts und den Verrat an den eigenen Glaubenssätzen findet er bei den Kirchen ebenso wie im Rechtswesen und an den Universitäten. Sie alle sind abgekapselt in einer "zweiten Realität", einem geschlossenen System aus Ideologemen und emotionaler Abschottung. Dieses unfaßbar scheinende Syndrom interessiert Voegelin mehr als die konkreten Greueltaten, weil ihm die kollektive Verschiebung in eine moraldichte zweite Realität eine stets lauernde Implikation der modernen Welt zu sein scheint: "Unsere Gesellschaft ist eine Mischung aus Schlachthof und Klapsmühle." Seine Vorlesungen könnten der Genozidforschung neue Horizonte eröffnen.
Voegelins Kritik einer positivistischen Zeitgeschichtsschreibung, die sich jeder philosophischen Anstrengung verweigert, wird die Zunft wohl mit Achselzucken quittieren. Wie Voegelin so treffend sagt: Es gibt keine unbewältigte Vergangenheit; was vergangen ist, das ist vergangen. Es gibt nur unbewältigte Gegenwarten.
Eric Voegelin: "Hitler und die Deutschen". Herausgegeben von Manfred Henningsen. Wilhelm Fink Verlag, München 2006. 320 S., br., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Abrechnung: Eric Voegelins Münchner Vorlesungen über Hitler und die Deutschen / Von Michael Jeismann
Unsere Gesellschaft sei eine Mischung aus Klapsmühle und Schlachthof, meint der Philosoph Eric Voegelin in seinen pointierten und fundamentalen Auslassungen über die Gegenwart der Vergangenheit, vorgetragen 1964.
Hitler und die Deutschen - von der radikalen Unterscheidung (der Münchner Historiker Gerhard Ritter nannte Hitler nach dem Krieg einen "asiatischen Barbaren", womit klar sein mußte, daß die Deutschen ganz anders seien) bis zur vollständigen Identifikation von Volk und Führer (wie die Nationalsozialisten es gern gehabt hätten) bei Daniel Goldhagen reicht die Spannbreite der Interpretationen. "Hitler und die Deutschen" - so hieß auch die Vorlesung, die der Politologe und Philosoph Eric Voegelin als Ordinarius für Politische Wissenschaften an der Universität München im Sommersemester 1964 hielt. Anstelle einer allgemeinen "Einführung in die Politik" entschloß sich Voegelin, über das Verhältnis von Hitler und den Deutschen zu sprechen.
An Gründen herrschte ohnehin kein Mangel, aber es gab auch viele aktuelle Anlässe, an denen fast täglich abzulesen war, wie unklar diese Beziehung den Deutschen selbst war, gleichgültig, ob sie sich darum scherten oder nicht. In Frankfurt ging der Auschwitz-Prozeß in seine letzte Phase. Ein Chronist des Prozesses vermerkte, es sei kein angenehmes Gefühl, im Gedränge an der Garderobe vor dem Gerichtssaal "diese Leute", also höheres und niederes Lagerpersonal des Vernichtungslagers Ausschwitz, ganz dicht neben sich zu haben. Ganz dicht hatte im Jahr zuvor, 1963, der Mediävist Percy E. Schramm Hitler kommen wollen. Der Spiegel druckte seine mehrteilige Serie, die den Titel "Anatomie eines Diktators" trug und sofort heftige Reaktionen auslöste. Neben Golo Mann war es vor allem Alfred Wucher, damals Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" und später Professor für Pressejournalismus in Mainz, der die "Verniedlichung" Hitlers durch Schramm, den ehemaligen Führer des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehrmacht, deutlich herausstellte.
Für Voegelin aber handelte es sich bei der betulichen Ausstaffierung des Führers für das Wohnzimmer der deutschen Biedermänner nicht bloß um ein bemerkenswertes intellektuelles Versagen eines angesehenen Professors, das Aufschluß über die Geistesverfassung der deutschen Akademiker gab. Daß sie Hitler gefolgt waren und ihnen hinterher schlechterdings nichts als Ausreden für ein Versagen existentiellen Ausmaßes einfielen, war für Voegelin ein Zeichen, daß allen voran die wissenschaftliche Elite des Landes offenbar keinen moralisch-politischen Maßstab besaß und kein elementares Gefühl für Schuld. Schramm bescheinigt er: "Vollständiger Realitätsausfall, Ausblendung jedes bedeutenden Kopfes in Deutschland, der jemals etwas über Hitler gesagt hat! Aber irgendwelche Trottel vom Generalstab - das sind die Quellen, nach denen wir Hitler zu beurteilen haben. Es ist ein Skandal! Und der Mann ist Ordinarius für Geschichte an einer deutschen Universität und hoch geachtet von seinen Fachgenossen. Nun, ich kann nichts dafür - der deutsche Mittelstand ist eine Burleske, eine mörderische Burleske."
Man kann sich leicht vorstellen, welche Wirkung Voegelins Analysen auf seine Zuhörer hatten. Der in den Vereinigten Staaten lehrende Politikwissenschaftler Manfred Henningsen, in jener Zeit Assistent von Voegelin und Herausgeber des hervorragend edierten Bandes, beschreibt in seiner instruktiven und engagierten Einführung, wie zu Beginn der Vorlesung am 12. Mai 1964 in den ersten Reihen katholische Priester neben Beamten aus dem Kultusministerium und den konservativen Intellektuellen Armin Mohler und Caspar Schreck-Notzing saßen. Unter den Studenten, die Voegelins Vorlesung hörten, waren Michael Nauman, der bei Voegelin über Karl Kraus promovierte, der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung, der Politologe Claus Bärsch, Florian Sattler, Kurt Stenzel und Manfred Weber. Die Kollegen der eigenen Universität dagegen, die in der Pause an den Studenten und manchmal auch an Voegelin selbst vorbeieilten, hatten wenig Sympathie für Voegelins Ansatz, der mitten ins dunkle Herz der deutschen Universität zielte.
Wie sehr die allgemeine Stimmungslage und das Interesse dem Thema von Voegelins Vorlesungen tatsächlich entgegenkamen, zeigt sich allein daran, daß wenige Wochen nach diesen Vorlesungen Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem" erschien, ein Jahr darauf Karls Jaspers Essay "Wohin treibt die Bundesrepublik?". Zuvor hatten eben Percy E. Schramms rührselige Sprachlosigkeiten zu Hitler die Deutschen gespalten.
Daß die Vorlesungen erst jetzt, mehr als vierzig Jahre später, auf deutsch gedruckt vorliegen (die englische und die französische Ausgabe erschienen vor wenigen Jahren), ist eine Geschichte für sich, die vor allem damit zu tun hat, daß Voegelin den Deutschen nicht als Debatten-Intellektueller zur Verfügung stehen und seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sein eigentliches wissenschaftliches Werk richten wollte.
Die Frage ist nun, wie diese pointierten und zugleich fundamentalen Vorlesungen über Hitler und die Deutschen in die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einzubeziehen sind. Seine Bemerkungen zu Percy E. Schramms "programmatischer und sprachlicher Unfähigkeit, Hitler zu verstehen", sind nicht nur mit Temperament und intellektuellem Schliff vorgetragen, sondern führen vor, wie Schramm, dem Strategen der Hitler-Hermeneutik, beständig alles so gerät, daß er am Ende Hitlers eigene Legende weiterstrickt. Das Fehlen eines belastbaren Ordnungsgerüsts und den Verrat an den eigenen Glaubenssätzen findet er bei den Kirchen ebenso wie im Rechtswesen und an den Universitäten. Sie alle sind abgekapselt in einer "zweiten Realität", einem geschlossenen System aus Ideologemen und emotionaler Abschottung. Dieses unfaßbar scheinende Syndrom interessiert Voegelin mehr als die konkreten Greueltaten, weil ihm die kollektive Verschiebung in eine moraldichte zweite Realität eine stets lauernde Implikation der modernen Welt zu sein scheint: "Unsere Gesellschaft ist eine Mischung aus Schlachthof und Klapsmühle." Seine Vorlesungen könnten der Genozidforschung neue Horizonte eröffnen.
Voegelins Kritik einer positivistischen Zeitgeschichtsschreibung, die sich jeder philosophischen Anstrengung verweigert, wird die Zunft wohl mit Achselzucken quittieren. Wie Voegelin so treffend sagt: Es gibt keine unbewältigte Vergangenheit; was vergangen ist, das ist vergangen. Es gibt nur unbewältigte Gegenwarten.
Eric Voegelin: "Hitler und die Deutschen". Herausgegeben von Manfred Henningsen. Wilhelm Fink Verlag, München 2006. 320 S., br., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Im Jahr 1964 las der Philosoph Eric Voegelin der Bundesrepublik die Leviten - und heute schon ist seine Abrechnung mit der Unfähigkeit, mit dem Nationalsozialismus abzurechnen, in deutscher Sprache nachzulesen. Anlass für seine Philippika war eine im "Spiegel" erschienene Serie des Mediävisten Percy E. Schramm mit dem Titel "Anatomie eines Diktators", die sich an der "Verniedlichung" des Führers versuchte. An Schramm werde sichtbar, dass der deutsche Mittelstand nichts anderes sei als "eine mörderische Burleske", die Gesellschaft der Bundesrepublik "eine Mischung aus Schlachthof und Klapsmühle". Was fehlt, so der Konservative Voegelin, sei ein "belastbares Ordnungsgerüst", das das Hineingeraten in ideologische Systeme verhindern würde. Der Rezensent Michael Jeismann sieht mit der Veröffentlichung der Vorlesung, der damals der Rechtsintellektuelle Armin Mohler ebenso lauschte wie der nachmalige Kulturstaatsminister Michel Naumann, für die "Genozidforschung neue Horizonte eröffnet".
© Perlentaucher Medien GmbH
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