Hitlers Charisma - ein Produkt der NS-Propaganda
Alle Charakterisierungen der NS-Diktatur als charismatische Herrschaft führen in die Irre. Sie beruhen nicht nur auf unsachgemäßen Anwendungen der Herrschaftssoziologie von Max Weber; sondern vor allem auf Unterschätzung der manipulativen Möglichkeiten moderner Propaganda, die die NSDAP seit 1930 wie keine anderen Partei beherrscht hat. Der Autor nimmt die Charisma-These sachkundig auseinander und zeigt, wie Adolf Hitler zunächst im rechtsradikalen Milieu zum Messias stilisiert und schließlich zum Mittelpunkt öffentlicher Verehrung gemacht wurde.
Alle Charakterisierungen der NS-Diktatur als charismatische Herrschaft führen in die Irre. Sie beruhen nicht nur auf unsachgemäßen Anwendungen der Herrschaftssoziologie von Max Weber; sondern vor allem auf Unterschätzung der manipulativen Möglichkeiten moderner Propaganda, die die NSDAP seit 1930 wie keine anderen Partei beherrscht hat. Der Autor nimmt die Charisma-These sachkundig auseinander und zeigt, wie Adolf Hitler zunächst im rechtsradikalen Milieu zum Messias stilisiert und schließlich zum Mittelpunkt öffentlicher Verehrung gemacht wurde.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2010Sachbücher des
Monats Juni
Empfohlen werden nach einer monatlich erstellten Rangliste Bücher der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. ANTONY BEEVOR: D-Day. Die Schlacht um die Normandie. Übersetzt von Helmut Ettinger. C. Bertelsmann Verlag, 636 Seiten, 28 Euro.
2. LUDOLF HERBST: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias. S. Fischer Verlag, 330 Seiten, 22,95 Euro.
3. IAN DICKIE, MARTIN J. DOUGHERTY, PHYLLIS G. JESTICE, CHRISTER JÖRGENSEN, ROB S. RICE: Geschichte der Seekriege. Übersetzt von Henning Dedekind und Karin Schuler. Konrad Theiss Verlag, 256 Seiten, ca. 250 Abb., 34,90 Euro.
4.-5. OLIVIER ROY: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer. Siedler Verlag, 335 Seiten, 22,95 Euro.
JOHANNES WILLMS: Stendhal. Biographie. Carl Hanser Verlag, 330 Seiten, 24,90 Euro.
6. MAIKE ALBATH: Der Geist von Turin. Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens 1943. Berenberg Verlag, 189 Seiten, 19 Euro.
7. JOSEF STIGLITZ: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. Übersetzt von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, 448 Seiten, 24,95 Euro.
8. ELISABETH BADINTER: Der Infant von Parma, oder Die Ohnmacht der Erziehung. Übersetzt von Thomas Schultz. C. H. Beck Verlag, 144 Seiten, 17,95 Euro.
9.-10. KARL ERICH GRÖZINGER: Jüdisches Denken: Theologie – Philosophie – Mystik 3. Von der Religionskritik der Renaissance zur Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert. Campus Verlag, 680 Seiten, 68 Euro.
CHRISTIAN MAREK, PETER FREITAG: Geschichte Kleinasiens in der Antike. Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. C. H. Beck Verlag, 941 Seiten, 44 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats Juni von Hilal Sezgin:
MARK TERKESSIDIS: Interkultur. Suhrkamp Verlag, 220 Seiten, 13 Euro.
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Matthias Kamann, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Johannes Saltzwedel, Albert von Schirnding, Norbert Seitz, Eberhard Sens, Hilal Sezgin, Volker Ullrich, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR Kultur)
Die nächste SZ/NDR/BuchJournal-
Liste der Sachbücher des Monats erscheint am 30. Juni.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Monats Juni
Empfohlen werden nach einer monatlich erstellten Rangliste Bücher der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. ANTONY BEEVOR: D-Day. Die Schlacht um die Normandie. Übersetzt von Helmut Ettinger. C. Bertelsmann Verlag, 636 Seiten, 28 Euro.
2. LUDOLF HERBST: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias. S. Fischer Verlag, 330 Seiten, 22,95 Euro.
3. IAN DICKIE, MARTIN J. DOUGHERTY, PHYLLIS G. JESTICE, CHRISTER JÖRGENSEN, ROB S. RICE: Geschichte der Seekriege. Übersetzt von Henning Dedekind und Karin Schuler. Konrad Theiss Verlag, 256 Seiten, ca. 250 Abb., 34,90 Euro.
4.-5. OLIVIER ROY: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer. Siedler Verlag, 335 Seiten, 22,95 Euro.
JOHANNES WILLMS: Stendhal. Biographie. Carl Hanser Verlag, 330 Seiten, 24,90 Euro.
6. MAIKE ALBATH: Der Geist von Turin. Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens 1943. Berenberg Verlag, 189 Seiten, 19 Euro.
7. JOSEF STIGLITZ: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. Übersetzt von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, 448 Seiten, 24,95 Euro.
8. ELISABETH BADINTER: Der Infant von Parma, oder Die Ohnmacht der Erziehung. Übersetzt von Thomas Schultz. C. H. Beck Verlag, 144 Seiten, 17,95 Euro.
9.-10. KARL ERICH GRÖZINGER: Jüdisches Denken: Theologie – Philosophie – Mystik 3. Von der Religionskritik der Renaissance zur Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert. Campus Verlag, 680 Seiten, 68 Euro.
CHRISTIAN MAREK, PETER FREITAG: Geschichte Kleinasiens in der Antike. Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. C. H. Beck Verlag, 941 Seiten, 44 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats Juni von Hilal Sezgin:
MARK TERKESSIDIS: Interkultur. Suhrkamp Verlag, 220 Seiten, 13 Euro.
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Matthias Kamann, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Johannes Saltzwedel, Albert von Schirnding, Norbert Seitz, Eberhard Sens, Hilal Sezgin, Volker Ullrich, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR Kultur)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2010Jede Menge braune Propaganda
Der blasse Hitler und sein Gefolge erfanden den modernen charismatischen Führer
Nicht nur die Zeitgenossen waren sich sicher: Adolf Hitler hatte Charisma. Mit seiner "Ausstrahlung auf Menschen" zog der "Führer" die Massen "in seinen Bann". So will es die erstaunlich langlebige Legende. Mit ihr räumt jetzt der Berliner Historiker Ludolf Herbst, einer der besten Kenner des Nationalsozialismus, gründlich auf. Hitler, so seine These, "erfand" gemeinsam mit einem kleinen Kreis von Gefolgsleuten die Legende des charismatischen Führers, "um die messianischen Erwartungen der Menschen im Deutschland der krisengeschüttelten Zwischenkriegszeit für die NSDAP nutzbar zu machen". Die Legende war mithin ein "Coup", den Hitler nach der Machtübernahme 1933 als "Mythos des Anfangs" geschickt in die Propaganda des "Dritten Reichs" einfügte.
Wie wenig naturgegeben dieses Charisma war und wie "unsicher sich Hitler seines eigenen Charismas" anfänglich auch noch im Amt des Reichskanzlers war, zeigt Herbst in den abschließenden und zugleich stärksten Partien seines Buches. Die Art und Weise, wie Hitler nach dem Tod Paul von Hindenburgs am 2. August 1934 das "Charisma des Reichspräsidentenamtes und seines Inhabers" auf sich übertragen ließ, lässt nämlich nach Herbsts Interpretation nur den Schluss zu, dass Hitler nicht den Mut hatte, sich zum Nachfolger Hindenburgs wählen zu lassen. Daher ließ er das Amt erlöschen und sich per Gesetz die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten übertragen.
Hitler hatte seine Gründe, so zu verfahren, denn Hindenburg, den er damit beerbte, "besaß, was Hitler nicht besaß, den Ruhm des erfolgreichen Feldherrn, eine traditional geprägte Herkunft, Besitz und Würde des Alters, kurz: Er war eine gestandene, in mancher Hinsicht sogar charismatische Persönlichkeit". Über all das verfügte Hitler nicht - wegen seiner Herkunft und seiner von Rückschlägen und Misserfolgen geprägten frühen Jahre, die Herbst anschaulich und zuverlässig nachzeichnet, aber auch weil er eine "blasse Figur" war, der selbst viele Nationalsozialisten das Amt nicht zutrauten, als Hitler in der Reichspräsidentenwahl des Frühjahrs 1932 direkt und mit dem dann durchaus vorzeigbaren Ergebnis von beinahe 37 Prozent gegen den Amtsinhaber Hindenburg antrat.
Kaum von diesem zum Reichskanzler ernannt, versuchte der in Zivil antretende Hitler Ende März 1933 am sogenannten Tag von Potsdam ein erstes Mal, von der charismatischen Aura des ihn in kaiserlicher Uniform erwartenden Reichspräsidenten zu profitieren. Aber erst mit dem Tod Paul von Hindenburgs ging die Rechnung auf. Nunmehr konnte die Arbeit der Kampf- und Aufbaujahre Früchte tragen.
Herbst dokumentiert quellennah und präzise, wie konsequent Hitler und seine Gefolgsleute seit der Neugründung der NSDAP, also seit Ende Februar 1925, an der Erfindung des "deutschen Messias" arbeiteten. Dabei wird deutlich, dass man im engeren Führungszirkel der Partei keineswegs immer an einem Strang zog, dass es vielmehr zwei Auffassungen über den richtigen Weg zum Erfolg gab. Auf der einen Seite stand das "mehr charismatische Parteikonzept Hitlers, der die NSDAP als Glaubensgemeinschaft begriff und auf dem Führerprinzip aufbauen wollte".
Auf der anderen Seite positionierte sich eine Gruppe um Gregor Strasser, einen der frühesten Weggefährten Hitlers, der von diesem nach der Übernahme der Macht endgültig aus dem engeren Kreis gedrängt wurde und die Mordaktion im Gefolge des sogenannten Röhm-Putsches Ende Juni 1934 nicht überlebte. Strasser und seine Leute wollten das "enge Korsett der Glaubensgemeinschaft sprengen und die NSDAP zu einer offenen Programmpartei mit zentralistischem Parteiapparat fortentwickeln".
Am Ende stand ein "Kompromiss, der bei aller strukturellen Widersprüchlichkeit ganz enorme Synergieeffekte zeitigte. Gerade der Kernbereich charismatischer Wirkung . . . wurde bis ins kleinste durchorganisiert." So wurden die Auftritte Hitlers sorgfältig geplant, ein Heer von Rednern und Agitatoren konsequent geschult, einzelne Sachthemen durch "Zielgruppenansprache" präzise plaziert und das ganze Maßnahmenpaket "durch die Generallinie charismatischer Glaubensverkündung und charismatischen Veränderungswillens" zusammengehalten und verstärkt. Dass sich Hitler und seine Mannen schließlich damit durchsetzten, lag an ihrem unbedingten Willen zum Erfolg, an den Zeitumständen und an der konsequenten Nutzung der neuen Medien wie des Rundfunks und der Wochenschau.
Das alles wird von Herbst plausibel rekonstruiert und analysiert. Warum es dafür eines ausführlichen Rückgriffs auf die Herrschaftstheorie Max Webers bedarf, erschließt sich dem Leser hingegen nicht. Vielmehr gewinnt der eher den Eindruck, dass Webers an vormodernen Verhältnissen entwickelte Herrschaftssoziologie gerade nicht greift, wenn man die Erfindung des Hitlerschen Charismas verstehen will. So hatte Weber keine Vorstellung von der politikmächtigen und potentiell Charisma stiftenden Wirkung des Rundfunks, des Films oder auch des Fernsehens, mit dessen Hilfe Goebbels und seine Leute ja am Ende auch deshalb experimentierten, weil sie einer Beschädigung des "Führers" entgegenwirken wollten.
Insgesamt vernebeln die weitschweifigen Ausflüge in die Gefilde der Theorie den klaren Blick auf die Stärken eines bemerkenswerten, grundsoliden Buches, das wichtige und neue Akzente setzt. Denn es ist die konsequente Quellenarbeit, mit der Herbst seine These von der "Konstruktion" und "Inszenierung" des Hitlerschen Charismas und seiner Kehrseite, der Schwächen des "Führers", überzeugend unterlegt: "Die Ritualisierung seiner Auftritte schützte Hitler vor der Veralltäglichung oder genauer vor der Alltäglichkeit seiner Person und damit vor der Auflösung seines Führungsanspruchs." Ihre Langzeitwirkung zeigt, wie erfolgreich diese "Erfindung" gewesen ist.
GREGOR SCHÖLLGEN
Ludolf Herbst: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 330 S., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der blasse Hitler und sein Gefolge erfanden den modernen charismatischen Führer
Nicht nur die Zeitgenossen waren sich sicher: Adolf Hitler hatte Charisma. Mit seiner "Ausstrahlung auf Menschen" zog der "Führer" die Massen "in seinen Bann". So will es die erstaunlich langlebige Legende. Mit ihr räumt jetzt der Berliner Historiker Ludolf Herbst, einer der besten Kenner des Nationalsozialismus, gründlich auf. Hitler, so seine These, "erfand" gemeinsam mit einem kleinen Kreis von Gefolgsleuten die Legende des charismatischen Führers, "um die messianischen Erwartungen der Menschen im Deutschland der krisengeschüttelten Zwischenkriegszeit für die NSDAP nutzbar zu machen". Die Legende war mithin ein "Coup", den Hitler nach der Machtübernahme 1933 als "Mythos des Anfangs" geschickt in die Propaganda des "Dritten Reichs" einfügte.
Wie wenig naturgegeben dieses Charisma war und wie "unsicher sich Hitler seines eigenen Charismas" anfänglich auch noch im Amt des Reichskanzlers war, zeigt Herbst in den abschließenden und zugleich stärksten Partien seines Buches. Die Art und Weise, wie Hitler nach dem Tod Paul von Hindenburgs am 2. August 1934 das "Charisma des Reichspräsidentenamtes und seines Inhabers" auf sich übertragen ließ, lässt nämlich nach Herbsts Interpretation nur den Schluss zu, dass Hitler nicht den Mut hatte, sich zum Nachfolger Hindenburgs wählen zu lassen. Daher ließ er das Amt erlöschen und sich per Gesetz die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten übertragen.
Hitler hatte seine Gründe, so zu verfahren, denn Hindenburg, den er damit beerbte, "besaß, was Hitler nicht besaß, den Ruhm des erfolgreichen Feldherrn, eine traditional geprägte Herkunft, Besitz und Würde des Alters, kurz: Er war eine gestandene, in mancher Hinsicht sogar charismatische Persönlichkeit". Über all das verfügte Hitler nicht - wegen seiner Herkunft und seiner von Rückschlägen und Misserfolgen geprägten frühen Jahre, die Herbst anschaulich und zuverlässig nachzeichnet, aber auch weil er eine "blasse Figur" war, der selbst viele Nationalsozialisten das Amt nicht zutrauten, als Hitler in der Reichspräsidentenwahl des Frühjahrs 1932 direkt und mit dem dann durchaus vorzeigbaren Ergebnis von beinahe 37 Prozent gegen den Amtsinhaber Hindenburg antrat.
Kaum von diesem zum Reichskanzler ernannt, versuchte der in Zivil antretende Hitler Ende März 1933 am sogenannten Tag von Potsdam ein erstes Mal, von der charismatischen Aura des ihn in kaiserlicher Uniform erwartenden Reichspräsidenten zu profitieren. Aber erst mit dem Tod Paul von Hindenburgs ging die Rechnung auf. Nunmehr konnte die Arbeit der Kampf- und Aufbaujahre Früchte tragen.
Herbst dokumentiert quellennah und präzise, wie konsequent Hitler und seine Gefolgsleute seit der Neugründung der NSDAP, also seit Ende Februar 1925, an der Erfindung des "deutschen Messias" arbeiteten. Dabei wird deutlich, dass man im engeren Führungszirkel der Partei keineswegs immer an einem Strang zog, dass es vielmehr zwei Auffassungen über den richtigen Weg zum Erfolg gab. Auf der einen Seite stand das "mehr charismatische Parteikonzept Hitlers, der die NSDAP als Glaubensgemeinschaft begriff und auf dem Führerprinzip aufbauen wollte".
Auf der anderen Seite positionierte sich eine Gruppe um Gregor Strasser, einen der frühesten Weggefährten Hitlers, der von diesem nach der Übernahme der Macht endgültig aus dem engeren Kreis gedrängt wurde und die Mordaktion im Gefolge des sogenannten Röhm-Putsches Ende Juni 1934 nicht überlebte. Strasser und seine Leute wollten das "enge Korsett der Glaubensgemeinschaft sprengen und die NSDAP zu einer offenen Programmpartei mit zentralistischem Parteiapparat fortentwickeln".
Am Ende stand ein "Kompromiss, der bei aller strukturellen Widersprüchlichkeit ganz enorme Synergieeffekte zeitigte. Gerade der Kernbereich charismatischer Wirkung . . . wurde bis ins kleinste durchorganisiert." So wurden die Auftritte Hitlers sorgfältig geplant, ein Heer von Rednern und Agitatoren konsequent geschult, einzelne Sachthemen durch "Zielgruppenansprache" präzise plaziert und das ganze Maßnahmenpaket "durch die Generallinie charismatischer Glaubensverkündung und charismatischen Veränderungswillens" zusammengehalten und verstärkt. Dass sich Hitler und seine Mannen schließlich damit durchsetzten, lag an ihrem unbedingten Willen zum Erfolg, an den Zeitumständen und an der konsequenten Nutzung der neuen Medien wie des Rundfunks und der Wochenschau.
Das alles wird von Herbst plausibel rekonstruiert und analysiert. Warum es dafür eines ausführlichen Rückgriffs auf die Herrschaftstheorie Max Webers bedarf, erschließt sich dem Leser hingegen nicht. Vielmehr gewinnt der eher den Eindruck, dass Webers an vormodernen Verhältnissen entwickelte Herrschaftssoziologie gerade nicht greift, wenn man die Erfindung des Hitlerschen Charismas verstehen will. So hatte Weber keine Vorstellung von der politikmächtigen und potentiell Charisma stiftenden Wirkung des Rundfunks, des Films oder auch des Fernsehens, mit dessen Hilfe Goebbels und seine Leute ja am Ende auch deshalb experimentierten, weil sie einer Beschädigung des "Führers" entgegenwirken wollten.
Insgesamt vernebeln die weitschweifigen Ausflüge in die Gefilde der Theorie den klaren Blick auf die Stärken eines bemerkenswerten, grundsoliden Buches, das wichtige und neue Akzente setzt. Denn es ist die konsequente Quellenarbeit, mit der Herbst seine These von der "Konstruktion" und "Inszenierung" des Hitlerschen Charismas und seiner Kehrseite, der Schwächen des "Führers", überzeugend unterlegt: "Die Ritualisierung seiner Auftritte schützte Hitler vor der Veralltäglichung oder genauer vor der Alltäglichkeit seiner Person und damit vor der Auflösung seines Führungsanspruchs." Ihre Langzeitwirkung zeigt, wie erfolgreich diese "Erfindung" gewesen ist.
GREGOR SCHÖLLGEN
Ludolf Herbst: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 330 S., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Hohe Erwartungen hatte Rolf Wiggershaus an Ludolf Herbsts Werk über "Hitlers Charisma" angesichts dessen Kritik an Ian Kershaws Hitler-Biografie und an Hans-Ulrich Wehlers viertem Band der Deutschen Gesellschaftsgeschichte. Erfüllt haben sie sich nicht. Tatsächlich zeigt sich Wiggershaus enttäuscht von der Studie des Historikers. Deren Untertitel "Die Erfindung eines deutschen Messias" verspricht für ihn eine Klarheit, die der Band letztlich nicht einlöst. Er hält dem Autor vor, sein zunächst entworfenes theoretische "Begriffsgitter" nicht mit Leben füllen zu können. Die Frage, ob und inwiefern es eine charismatische Beziehung zwischen Hitler und den Deutschen gegeben hat, wird nach Ansicht von Wiggershaus nicht klar beantwortet. Im Detail bietet das Buch in seinen Augen durchaus Interessantes - zumindest für Leser die etwa Peter Reichels "Der schöne Schein des Dritten Reichs" nicht kennen. Im Ganzen aber hat ihn das Werk nicht überzeugt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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