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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2009

Zustände wie im alten Rom

Genese eines Klassikers: Hugh Trevor-Ropers Buch über Hitlers letzte Tage folgte in der Deutung den Topoi der Dekadenz. Luxus und Verbrechen legierten sich in der Imagination zum NS-Bild.

The Last Days of Hitler" von Hugh Trevor-Roper (1914 bis 2003), publiziert im März 1947, ist ein moderner Klassiker der Geschichtsschreibung. Auf diesen Rang zielte der Ehrgeiz des Autors. Er wusste, dass ihm Fortuna einen Stoff zugespielt hatte, dessen Behandlung gerade deshalb höchste Kunstfertigkeit verlangte, weil er eine elementare, auf die bloßen Tatsachen in ihrer Schäbigkeit und Jämmerlichkeit gerichtete Neugier anzog, ein nicht unproblematisches, von allem Mitgefühl gereinigtes menschliches Interesse.

Als Hauptmann im britischen Secret Intelligence Service (alias MI6) hatte Trevor-Roper im Auftrag von Brigadegeneral Dick White, dem Geheimdienstchef in der Britischen Zone, seit September 1945 die Umstände von Hitlers Tod untersucht. Es ging zunächst darum, vor der deutschen und weltweiten Öffentlichkeit den Beweis zu führen, dass Hitler tatsächlich tot war. Die Russen hatten den Leichnam ausgegraben und Hitler anhand seines Gebisses identifiziert. Aber sie unterschlugen ihr Wissen, um das Gerücht zu streuen, Hitler sei aus Berlin entkommen und halte sich mit Duldung der Westalliierten versteckt. Am 10. November 1945 legte Trevor-Roper dem Vier-Mächte-Ausschuss für Geheimdienstangelegenheiten in Berlin seinen Bericht vor, der zu dem Schluss kam, durch Augenzeugenberichte, deren Übereinstimmung nicht auf Absprache beruhen könne, sei der Selbstmord Hitlers zweifelsfrei erwiesen. In der zweiten Dezemberhälfte reiste Trevor-Roper noch einmal nach Deutschland, um weitere Zeugen einzuvernehmen beziehungsweise erst einmal aufzuspüren und festzusetzen: die Kuriere, die den Bunker mit Kopien der Testamente Hitlers verlassen hatten.

Nachdem Trevor-Roper im Januar 1946 seine akademische Tätigkeit in Christ Church, seinem Oxforder College, wiederaufgenommen hatte, war es wiederum Brigadegeneral White, der, nunmehr als Privatmann, ihn aufforderte, seine Ergebnisse in einem Buch darzulegen. Trevor-Roper sah die Chance, wie er vier Jahrzehnte später in seinem Beitrag zur Serie "Werksbesichtigung" auf dieser Seite berichtete ("Trevor-Roper über Trevor-Roper", F.A.Z. vom 14. September 1988), ein Werk zu schreiben, das "Bestand haben" sollte. Der Historiker hatte zunächst Philologie studiert und Deutsch gelernt, um Wilamowitz zu lesen. Den Untergang des Tyrannen hatte er wie ein antiker Geschichtsschreiber durch Befragung von Zeugen erforscht. Die Darstellungsform war dadurch vorgegeben. Trevor-Roper griff nach dem höchsten Modell. "Tacitus war mein Vorbild; ihm wollte ich folgen."

Er hat nicht zu hoch gegriffen. Das Buch hat, wie man im Englischen sagt, die Prüfung der Zeit bestanden. Der Geheimdienstfachmann Edward Harrison hat jetzt in der Hauszeitschrift des Instituts für Zeitgeschichte, in der 1960 Trevor-Ropers einflussreicher Aufsatz über Hitlers Kriegsziele erschien, Genese und Rezeption des Buches aus dem Nachlass des Verfassers dargestellt (Hugh Trevor-Roper und "Hitlers letzte Tage", Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 57. Jahrgang, Heft 1, Januar 2009).

Zeit verrinnt und wird verschwendet

Den antiken Stil eines objektiv daherkommenden Berichts, der durch prägnante Details den Leser selbst zum Augenzeugen macht, kündigt der Titel des Buches an. Der Historiker geht chronologisch vor, schildert in den Kapiteln vier bis sieben die zwölf Tage von Hitlers sechsundfünfzigstem Geburtstag bis zum Selbstmord von Goebbels und zum Fluchtversuch Bormanns am 1. Mai. Als eine Art umgekehrter Schöpfungsbericht entrollt sich die Geschichte des Untergangs. Wie das Leben in der Unterwelt des Bunkers überhaupt hat die Zeit dort eine phantasmagorische Qualität: Zeit verrinnt und wird verschwendet, die von vornherein gar nicht mehr zur Verfügung steht. Indem der Historiker sich an die Zeitrechnung hält, erfasst er den Leerlauf einer aus jeder Ordnung gefallenen Welt.

Harrison kann nun mitteilen, dass der Titel "The Last Days of Hitler" ein Vorschlag des amerikanischen Verlages war, dem sich das Lektorat des englischen Haupthauses von Macmillan mit Nachdruck anschloss. Trevor-Ropers eigener Titel war noch lakonischer gewesen: "Hitler's End". Ob man in der amerikanischen Dependance von Macmillan auch an den Anklang an Bulwer-Lyttons Schmöker "The Last Days of Pompeii" gedacht hat? Solche klassischen Topoi waren dem Autor lange vor der Idee zu seinem Buch in den Sinn gekommen, gingen schon in seine Wahrnehmung ein, als noch der lebende Hitler mit allen Mitteln der "intelligence" bekämpft wurde. Genauer gesagt handelte es sich bei diesen Topoi um Bilder der Dekadenz, mit denen die moderne historische Phantasie die Korruptionstheorie der antiken Historiker ausgestaltet hat. Der Einfall des Autors war es, Hitlers Entourage als einen Hof zu beschreiben, den wichtigsten Gegenstand der vormodernen, lehrhaften, aus geheimen Quellen schöpfenden und mit den Augenfälligkeiten der Sitten argumentierenden Historiographie.

Göring wird dem Leser im ersten Kapitel vor Augen gestellt als der Herr von Karinhall, umgeben von "Szenen des römischen Luxus", gekleidet wie aus dem Katalog für Parvenüdespoten, mal wie ein orientalischer Radscha, mal in weißer Seide wie ein Doge von Venedig. Diese Details werden einem Augenzeugen zugeschrieben. Bei dem angeblichen Augenzeugen handelt es sich um den in Nordafrika gefangengenommenen General der Panzertruppen Wilhelm Ritter von Thoma, einen der in Trent Park nördlich von London internierten Offiziere, deren Unterhaltungen die Briten heimlich mitschnitten. In der von Harrison zitierten Aufzeichnung Trevor-Ropers zu diesen Mitschriften findet sich der Venedig-Vergleich als Beobachtung Thomas: Göring "sei vollständig in weiße Seide gekleidet gewesen - ein weißes Hemd, wie es die Dogen zu tragen liebten". (Bei Harrison fehlt ein Verweis auf Sönke Neitzels Studien zu den Tonbändern aus Trent Park.)

Leben in einem Affenhaus

Der historische Vergleich ist ein bevorzugtes didaktisches Mittel der alteuropäischen Geschichtsschreibung. An Trevor-Ropers "Epilog", der "Lektionen" aus "diesem außerordentlichen Kapitel der Geschichte" zieht, fällt der ausgedehnte Diktatorenvergleich ins Auge. Hitlers Karriere beschreibe die Bahn der "revolutionären Gewalt" von der volkstümlichen Idee über die Militärherrschaft zur "nackten Gewalt" der Geheimpolizei, wie man sie aus der Geschichte der anderen "großen modernen Diktatoren" kenne. Trevor-Roper, Fachmann für das Zeitalter der Stuarts, scheut sich nicht, neben Napoleon auch den auf der englischen Linken als Nationalhelden verehrten Lord-Protektor Cromwell heranzuziehen. Derselbe Vergleich in einem gleichzeitigen Werk eines deutschen Historikers stünde heute unter Apologieverdacht.

Mit dem "Epilog" erfüllte Trevor-Roper einen Wunsch des Diplomaten Harold Caccia, des Vorsitzenden des Joint Intelligence Committee, des gemeinsamen Ausschusses der Geheimdienstchefs, der die Publikation autorisieren musste. Der spätere Botschafter in Österreich und den Vereinigten Staaten sowie Provost von Eton gab "den Eindruck" zu Protokoll, "dass sich jeder intelligente Leser fragen müsse, wie diese mehr als seltsamen Herrschaften Deutschland kontrollieren konnten". Trevor-Roper formulierte die Frage noch drastischer: "Niemand wird diese Darstellung des Lebens in einem Affenhaus gelesen haben, ohne sich zu fragen, wie es diesen Affen gelingen konnte, die Macht zu ergreifen und zu behaupten."

Trevor-Ropers Antwort nimmt zunächst Partei in einem moralpsychologischen Streit innerhalb der englischen Historiographie. Der Fall Hitler habe Lord Acton gegen Thomas Carlyle ins Recht gesetzt. Hitler habe die Probe auf Carlyles Dogma gemacht, dass es eine Substanz der persönlichen Größe gebe, auf die alles in der Staatskunst ankomme. Bewiesen habe er Actons Gegenthese, dass die absolute Macht jede persönliche Qualität verforme und zerstöre. Der letzte und beste Beweis für die alles korrumpierende Kraft der Allgewalt liegt im Charakter des Tyrannen: Diese im Kontext moderner geschichtswissenschaftlicher Urteilsbildung befremdende, an das Tiberius-Bild des Tacitus erinnernde Überlegung zielt nicht auf eine zu unterstellende ursprüngliche Güte eines "Menschen wie Hitler" (Wittgenstein). Vielmehr charakterisiert Trevor-Roper gemäß den Kriterien einer an Klugheitsmaßregeln interessierten pragmatischen Historie Hitler als "politischen Genius", der sich im Carlyle-Wahn die Wirkungsmöglichkeiten genommen habe, die sein Aufstieg belege.

Dass der geniale Affe sein verrücktes Experiment ungehindert ins Werk setzen konnte, erklärt Trevor-Roper mit der deutschen "Verzweiflung an der Politik". Seit 1848 seien so wenige deutsche Politiker erfolgreich gewesen, dass die Deutschen die Politik für eine Sache für Übermenschen gehalten hätten. Solche Thesen hatte wohl der Cambridger Historiker David Thomson im Auge, als er in seiner Rezension schrieb, mit den "umfassenden Generalisierungen über den Charakter des Nazi-Regimes" bewege sich Trevor-Roper auf dünnem Eis, "und zwar auf eine Art, die unter Oxforder Historikern allzu häufig ist". Trevor-Ropers Oxforder Gegenspieler A. J. P. Taylor, der das Buch rühmte, dürfte gerade die Generalthese über die Deutschen gefallen haben, ebenso mutmaßlich dem großen Quellenkritiker und Vorkämpfer des Zionismus Lewis Namier, der Trevor-Roper davor warnte, Hermann Rauschnings "Gesprächen mit Hitler" zu vertrauen. Namier führte ein nationalstilpsychologisches Argument gegen Rauschnings Glaubwürdigkeit an: "Wie ein echter Deutscher reitet er jedes Argument zu Tode."

Korrigieren musste Trevor-Roper in der zweiten Auflage die Angabe, Goebbels sei Jesuitenschüler gewesen. Ihn hatte die Erwartung in die Irre geführt, an Hitlers Hof alle Schurken der liberalen Historiographie wiederzufinden.

PATRICK BAHNERS

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