Ein Blick auf die zentrale Figur des NS-Propagandaapparates im Schatten von Goebbels.Otto Dietrich gehörte als Reichspressechef der NSDAP fast vierzehn Jahre lang zu den engsten Begleitern Adolf Hitlers. Zwischen 1938 und 1945 hatte er zugleich die Funktion des Pressechefs der Reichsregierung in Goebbels' Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Um so erstaunlicher ist, dass seiner Person bislang wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt wurde.Stefan Krings konnte für seine biografisch angelegte Studie erstmals auch den persönlichen Nachlass von Otto Dietrich auswerten. Er zeigt, dass sich der eher farblose Pressesprecher durch ehrgeiziges Machtstreben und geschickte Personalpolitik eine starke Position auf dem Pressesektor geschaffen hatte und hier sogar einige Zeit mächtiger war als der zynisch-diabolische Rhetoriker Goebbels. Die jahrzehntelange Fixierung der kommunikationshistorischen Forschung auf die Person Joseph Goebbels wird damit infrage gestellt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2010Des Teufels Posaunist
Reichspressechef Dietrich
Seine größte Stunde hatte Otto Dietrich - Reichspressechef der NSDAP, SS-Obergruppenführer und Staatssekretär im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda - am 9. Oktober 1941. Da verkündete er vor in- und ausländischen Journalisten, dass "die gesamte sowjetische Front zertrümmert", alsbald "die letzte sowjetische Heeresgruppe beseitigt und ausgelöscht" sei. Am nächsten Tag titelte "Der Angriff" mit "Bolschewismus vor dem Ende", der "Völkische Beobachter" mit "Der Feldzug im Osten ist entschieden". Natürlich hatte sich der Sieges-Posaunist zuvor mit Hitler abgestimmt, von ihm einzelne Formulierungen wörtlich diktiert bekommen. Als sich jedoch das prahlerische Vorpreschen kurze Zeit später als Mega-Ente herausstellte, galt Dietrich als Alleinverursacher. Propagandaminister Goebbels bescheinigte seinem Kontrahenten eine "selten unglückliche Hand".
Wenn es nach Goebbels gegangen wäre, hätte sich Hitler sofort von Dietrich trennen müssen. Doch der 1897 in Essen geborene Weltkrieg-I-Freiwillige mit beiden Eisernen Kreuzen, promovierte Staatswissenschaftler, Nebenfach-Philosoph und zeitweilige Schwiegersohn des Großverlegers Theodor Reismann-Grone konnte sich vierzehn Jahre im unmittelbaren Umfeld Hitlers behaupten - bis Ende März 1945, als ihn der "Führer" im Bunker empfing und mit sofortiger Wirkung für sechs Wochen "beurlaubte", weil bis dahin "alles entschieden" sei. Im Wilhelmstraßen-Prozess im Frühjahr 1949 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, begnadigte ihn der amerikanische Hochkommissar John McCloy im August 1950, so dass Dietrich seinen Lehrgang für Steuerberater im Landsberger Kriegsverbrechergefängnis nicht mehr beendete, aber noch bis zu seinem Tode im November 1952 bei der Deutschen Kraftverkehrsgesellschaft in Düsseldorf unterkam.
Stefan Krings stellt Dietrichs Werdegang nach fleißigen Recherchen in "rund 55 Archiven" gekonnt in die personellen und organisatorischen Verflechtungen der Medienlenkung im "Dritten Reich". So können einerseits die Fixierung auf Hitlers Chefpropagandisten Goebbels durchbrochen, andererseits der grenzenlose Opportunismus der meisten Presseleute sowie die internen Konflikte der für Propaganda zuständigen Institutionen von Staat und Partei wieder einmal dargestellt werden. Dietrich habe Hitler gefallen wollen, während es Goebbels um die langfristige Beeinflussung seines Publikums gegangen sei. Das Wort Pressefreiheit missfiel Dietrich, so dass er lieber von "Pressefrechheit" sprach. Und als 1934 das Schriftleitergesetz in Kraft trat, soll er davon geschwärmt haben, dass die Verleger "vom Rittmeister zum Zahlmeister degradiert" worden seien. Sein Buch "Mit Hitler in die Macht" wurde ein Bestseller. Allerdings ließ der "Führer" die Publikation des Romans "Die Nachfahren", mit dem Dietrich seine Leser in das Jahr 2008 versetzen wollte, auf Goebbels' Betreiben nicht zu. Dennoch landete das allzu pazifistisch anmutende Manuskript - der Nationalsozialismus sollte durch Fortschritt das deutsche Volk von der "Knechtschaft der Maschine" befreien und ihm Natur und "Freude an der Schönheit des Vaterlandes" zurückgeben - auf dem Nachttisch Hitlers, der dem Pressechef versprach, "es in schlaflosen Stunden zu studieren".
Zur Judenpolitik meint der Autor: "Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit war Otto Dietrich zu keiner Zeit unmittelbar an Verbrechen des Holocaust beteiligt." Wer bitte war das denn schon bei all den Schreibtischtätern, wenn man das Wort "unmittelbar" ernst nähme? Krings wird dann konkreter: Dietrich habe "einen wesentlichen Beitrag zur Ausgrenzung jüdischer Mitbürger und zur propagandistischen Vorbereitung ihrer Verfolgung und millionenfachen Ermordung geleistet". Einige Seiten später ist einschränkend zu lesen, dass seit 1938 "den NS-Pressechef die gewaltbereite Skrupellosigkeit gegen Juden und andere erklärte Feinde - trotz seiner antisemitischen Grundhaltung - zunehmend belastete". Wo diese Einschätzung herrührt, wird nicht ganz deutlich.
Hitler-Paladin Dietrich, dessen philosophische Ergüsse vor Journalisten und Studierenden - die "Frage nach dem Seienden" müsse man "radikal neu" stellen - beim Soziologen Arnold Gehlen auf Zustimmung, bei Goebbels auf Ablehnung ("Edelquatsch") stießen, zeigte sich in Nürnberg 1948 enttäuscht über jenes Kontrollratsgesetz Nr. 10, das die Grundlage für die Anklage gegen ihn bildete: "Nach diesem Gesetz ist praktisch jeder Deutsche, selbst der Briefträger, verantwortlich zu machen. Jeder hat schließlich im Dienst des Krieges mitarbeiten müssen irgendwie. Aber uns hat man nun eben vor Gericht gestellt - es hätte auch jeder andere sein können." Die den "Führer" einst (er-)tragenden Eliten wollten nach dessen Untergang ja meist nur harmlose Postler gewesen sein.
RAINER BLASIUS
Stefan Krings: Hitlers Pressechef. Otto Dietrich (1897-1952). Eine Biographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 544 S., 58,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reichspressechef Dietrich
Seine größte Stunde hatte Otto Dietrich - Reichspressechef der NSDAP, SS-Obergruppenführer und Staatssekretär im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda - am 9. Oktober 1941. Da verkündete er vor in- und ausländischen Journalisten, dass "die gesamte sowjetische Front zertrümmert", alsbald "die letzte sowjetische Heeresgruppe beseitigt und ausgelöscht" sei. Am nächsten Tag titelte "Der Angriff" mit "Bolschewismus vor dem Ende", der "Völkische Beobachter" mit "Der Feldzug im Osten ist entschieden". Natürlich hatte sich der Sieges-Posaunist zuvor mit Hitler abgestimmt, von ihm einzelne Formulierungen wörtlich diktiert bekommen. Als sich jedoch das prahlerische Vorpreschen kurze Zeit später als Mega-Ente herausstellte, galt Dietrich als Alleinverursacher. Propagandaminister Goebbels bescheinigte seinem Kontrahenten eine "selten unglückliche Hand".
Wenn es nach Goebbels gegangen wäre, hätte sich Hitler sofort von Dietrich trennen müssen. Doch der 1897 in Essen geborene Weltkrieg-I-Freiwillige mit beiden Eisernen Kreuzen, promovierte Staatswissenschaftler, Nebenfach-Philosoph und zeitweilige Schwiegersohn des Großverlegers Theodor Reismann-Grone konnte sich vierzehn Jahre im unmittelbaren Umfeld Hitlers behaupten - bis Ende März 1945, als ihn der "Führer" im Bunker empfing und mit sofortiger Wirkung für sechs Wochen "beurlaubte", weil bis dahin "alles entschieden" sei. Im Wilhelmstraßen-Prozess im Frühjahr 1949 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, begnadigte ihn der amerikanische Hochkommissar John McCloy im August 1950, so dass Dietrich seinen Lehrgang für Steuerberater im Landsberger Kriegsverbrechergefängnis nicht mehr beendete, aber noch bis zu seinem Tode im November 1952 bei der Deutschen Kraftverkehrsgesellschaft in Düsseldorf unterkam.
Stefan Krings stellt Dietrichs Werdegang nach fleißigen Recherchen in "rund 55 Archiven" gekonnt in die personellen und organisatorischen Verflechtungen der Medienlenkung im "Dritten Reich". So können einerseits die Fixierung auf Hitlers Chefpropagandisten Goebbels durchbrochen, andererseits der grenzenlose Opportunismus der meisten Presseleute sowie die internen Konflikte der für Propaganda zuständigen Institutionen von Staat und Partei wieder einmal dargestellt werden. Dietrich habe Hitler gefallen wollen, während es Goebbels um die langfristige Beeinflussung seines Publikums gegangen sei. Das Wort Pressefreiheit missfiel Dietrich, so dass er lieber von "Pressefrechheit" sprach. Und als 1934 das Schriftleitergesetz in Kraft trat, soll er davon geschwärmt haben, dass die Verleger "vom Rittmeister zum Zahlmeister degradiert" worden seien. Sein Buch "Mit Hitler in die Macht" wurde ein Bestseller. Allerdings ließ der "Führer" die Publikation des Romans "Die Nachfahren", mit dem Dietrich seine Leser in das Jahr 2008 versetzen wollte, auf Goebbels' Betreiben nicht zu. Dennoch landete das allzu pazifistisch anmutende Manuskript - der Nationalsozialismus sollte durch Fortschritt das deutsche Volk von der "Knechtschaft der Maschine" befreien und ihm Natur und "Freude an der Schönheit des Vaterlandes" zurückgeben - auf dem Nachttisch Hitlers, der dem Pressechef versprach, "es in schlaflosen Stunden zu studieren".
Zur Judenpolitik meint der Autor: "Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit war Otto Dietrich zu keiner Zeit unmittelbar an Verbrechen des Holocaust beteiligt." Wer bitte war das denn schon bei all den Schreibtischtätern, wenn man das Wort "unmittelbar" ernst nähme? Krings wird dann konkreter: Dietrich habe "einen wesentlichen Beitrag zur Ausgrenzung jüdischer Mitbürger und zur propagandistischen Vorbereitung ihrer Verfolgung und millionenfachen Ermordung geleistet". Einige Seiten später ist einschränkend zu lesen, dass seit 1938 "den NS-Pressechef die gewaltbereite Skrupellosigkeit gegen Juden und andere erklärte Feinde - trotz seiner antisemitischen Grundhaltung - zunehmend belastete". Wo diese Einschätzung herrührt, wird nicht ganz deutlich.
Hitler-Paladin Dietrich, dessen philosophische Ergüsse vor Journalisten und Studierenden - die "Frage nach dem Seienden" müsse man "radikal neu" stellen - beim Soziologen Arnold Gehlen auf Zustimmung, bei Goebbels auf Ablehnung ("Edelquatsch") stießen, zeigte sich in Nürnberg 1948 enttäuscht über jenes Kontrollratsgesetz Nr. 10, das die Grundlage für die Anklage gegen ihn bildete: "Nach diesem Gesetz ist praktisch jeder Deutsche, selbst der Briefträger, verantwortlich zu machen. Jeder hat schließlich im Dienst des Krieges mitarbeiten müssen irgendwie. Aber uns hat man nun eben vor Gericht gestellt - es hätte auch jeder andere sein können." Die den "Führer" einst (er-)tragenden Eliten wollten nach dessen Untergang ja meist nur harmlose Postler gewesen sein.
RAINER BLASIUS
Stefan Krings: Hitlers Pressechef. Otto Dietrich (1897-1952). Eine Biographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 544 S., 58,- [Euro].
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