Die vehemente Debatte um die Rolle der Wehrmacht ist noch lange nicht abgeschlossen. Dieses Buch des renommierten Historikers Omer Bartov ist ein Grundlagenwerk zum Thema.
Seine These: "Die Soldaten an der Front kämpften aus verschiedenen Gründen ... Der Krieg wurde als ein Kampf um alles oder nichts aufgefasst und erforderte totale Hingabe, blinden Gehorsam und unnachsichtige Vernichtung des Feindes. Und in diesem Sinne kämpften sie für den Nationalsozialismus und alles, wofür er stand."
Seine These: "Die Soldaten an der Front kämpften aus verschiedenen Gründen ... Der Krieg wurde als ein Kampf um alles oder nichts aufgefasst und erforderte totale Hingabe, blinden Gehorsam und unnachsichtige Vernichtung des Feindes. Und in diesem Sinne kämpften sie für den Nationalsozialismus und alles, wofür er stand."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.1995Getrieben von kalter Angst
Ein israelischer Historiker über Wehrmachtsverbrechen im Zweiten Weltkrieg
Omer Bartov: Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges. Deutsch von Karin Miedler und Thomas Pfeiffer. Rowohlt Verlag, Reinbek 1995. 335 Seiten, 42,- Mark.
In einem Augenblick, in dem das vereinigte Deutschland sich anschickt, erstmals wieder außerhalb seiner Grenzen militärische Verantwortung zu übernehmen, erscheint ein wissenschaftliches Buch, das auf höchst unbequeme, ja provozierende Weise an die alte Wehrmacht erinnert. Es ist schon das zweite Buch des jungen israelischen, in den Vereinigten Staaten lehrenden Militärhistorikers Omer Bartov über die Wehrmacht, und es wird mit Sicherheit ebensoviel Aufsehen erregen wie das erste. Untersuchte Bartov in seinem früheren, nur auf englisch erschienenen Buch die "Barbarisierung" von drei an der Ostfront eingesetzten deutschen Divisionen, so gilt dieses Buch der Wehrmacht "als Ganzes". Konnte man gegen seine früheren Forschungen vielleicht noch einwenden, daß drei Divisionen nicht unbedingt für die ganze Wehrmacht exemplarisch seien, so ist dieser Einwand jetzt nicht mehr möglich.
Die Wehrmacht sei, so der völlig zutreffende Ausgangspunkt von Bartovs Darstellung, kein Zufluchtsort vor dem NS-Regime gewesen, sondern dessen integraler Bestandteil, ja dessen wirkungsvollste Stütze. Daher auch der Titel seines Buches. Bartov behauptet, daß das von der Forschung bisher nicht erkannt worden sei, weil man "bislang die falschen Fragen gestellt" habe. Er geht sogar so weit zu behaupten, daß man in Deutschland "gemeinhin" (!) die historischen Tatsachen verdrehe und die Soldaten an der Ostfront als Hitlers Opfer, nicht als seine willfährigen Instrumente ansehe. Das ist schon etwas verblüffend angesichts der Tatsache, daß vor allem Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes die Unschuldslegende der Wehrmacht schon seit den frühen siebziger Jahren in Frage stellen. Bartov zitiert ihre Forschungen denn auch ausgiebig. Längst kann daher kein Zweifel mehr bestehen, daß die Völker der Sowjetunion für die deutsche Invasionsarmee "keine Kameraden" waren. Die Wehrmacht führte im Osten einen bewußt völker- und kriegsrechtswidrigen Vernichtungskrieg. Daß unzählige deutsche Soldaten in der Sowjetunion "gehorsam und kritiklos an ,legalisierten' Verbrechen" teilgenommen haben, ist deshalb keine so neue wissenschaftliche Erkenntnis mehr. Was Bartovs Buch aber so interessant macht, ist sein Versuch, die "Barbarisierung" der deutschen Soldaten an der Ostfront nicht mehr nur zu konstatieren, sondern erstmals auch zu erklären. Er stellt dazu vier Erwägungen an. In einem ersten Kapitel verweist er auf die "Entmodernisierung der Front". Nach den ersten großen Siegen im Bewegungskrieg erstarrte die Ostfront zunächst in einem Stellungskrieg, um dann in einem verzweifelten Rückzugskrieg zu enden. Für den einzelnen Soldaten bedeutete das, gegenüber einem immer moderner ausgerüsteten Feind unter immer primitiveren Bedingungen ums Überleben kämpfen zu müssen. Für Bartov steht fest, daß dieser Prozeß der Entmodernisierung das Verhalten der Truppe zunehmend brutalisiert habe. Eine zweite Überlegung gilt der sich auflösenden Gruppensolidarität in den Wehrmachtseinheiten der Ostfront. Es gibt hier die Theorie von der sogenannten Primärgruppe, wonach der kameradschaftliche Korpsgeist der militärischen Einheiten die Truppe an der Ostfront zusammenhielt. Bartov weist demgegenüber eindrucksvoll nach, daß die massenhaften, schließlich in die Millionen gehenden Verluste den ursprünglichen Gruppengeist völlig zerstört und die Wehrmacht immer mehr zu einem zusammengewürfelten Haufen gemacht hätten. Einsamkeit und Verzweiflung hätten erheblich dazu beigetragen, den Landser in seinem Verhalten gegenüber Zivilisten und Kriegsgefangenen zu enthemmen.
Als dritte Ursache des Brutalisierungsprozesses bezeichnet Bartov die "Pervertierung der Disziplin". Die nationalsozialistische Disziplinarordnung der Wehrmacht verlangte von den Soldaten blinden Gehorsam, wurde dieser nicht geleistet, standen drakonische Strafen an bis hin zur Hinrichtung, der im Zweiten Weltkrieg 13000 bis 15000 Soldaten zum Opfer fielen gegenüber nur 58 im Ersten Weltkrieg. Bartov vertritt nun die These, daß diese rigide Disziplin nur durchzusetzen gewesen sei, weil man Disziplinlosigkeiten der Soldaten gegenüber dem Feind, vor allem bei der sogenannten Partisanenbekämpfung, zugelassen habe. Obwohl er einräumen muß, daß dieser Mechanismus "wahrscheinlich nicht bewußt geplant" war, glaubt er doch einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen der Wehrmacht an anderen Völkern und der repressiven Behandlung der eigenen Soldaten durch die Wehrmachtsführung erkennen zu können. Viertens spricht Bartov von einer "Verzerrung der Wirklichkeit", welche die Soldaten im Osten Ursache und Wirkung des mörderischen Krieges habe vertauschen lassen. Sie hätten sich als Opfer gefühlt, während sie doch Täter gewesen seien. Das elende Dasein der sowjetischen Völker habe sie in ihrem Vorurteil bestätigt, es mit "Untermenschen" zu tun zu haben. Es hätte gereicht, wenn Bartov verdeutlicht hätte, daß die Wehrmacht an der Ostfront aufgrund dieser vier Bedingungsfaktoren in einer Art von kumulativer Radikalisierung zunehmend zum Träger des Vernichtungskrieges gemacht worden ist. Stoff zum Nachdenken und Weiterforschen wäre das schon genug. Bartov will jedoch noch mehr beweisen. Ihm liegt ganz besonders daran, die Brutalisierung der Wehrmacht als das Ergebnis totaler ideologischer Indoktrination hinzustellen. Man wird ihm hier folgen können, insoweit damit die Überhöhung Hitlers zu einer Art von "göttlichem Wesen" gemeint ist. Warum sollten die Soldaten in ihrer immer verzweifelteren Lage dem von Ian Kershaw schon vor Jahren eindringlich beschriebenen Rettermythos weniger verfallen sein als die übrigen Deutschen? Weniger überzeugend ist die These, daß die kollektive Abstumpfung gegenüber Menschenleben das Ergebnis intensiver nationalsozialistischer Indoktrination gewesen sei. Wie Bartov selbst einräumt, stellte die NS-Ideologie kein "konsistentes oder geschlossenes Gedankengebäude" dar. Was er aus den überlieferten Stimmungsberichten der Truppe und vor allem aus privaten Soldatenbriefen herauslesen kann, sind denn auch nur einzelne ideologische Versatzstücke. Wieweit diese für die Kriminalisierung des Verhaltens der Soldaten gegenüber der feindlichen Bevölkerung maßgeblich waren, kann er letzten Endes nicht belegen.
Bartov polemisiert heftig gegen zuviel "Rankesches Mitgefühl" mit den deutschen Soldaten an der Ostfront. Ein bißchen mehr historische Kritik gegenüber den Selbstaussagen der Soldaten wünschte man sich aber bei ihm ebenso. Wurden in den Äußerungen der Soldaten manchmal Stereotype der nationalsozialistischen Propaganda allzusehr für bare Münze genommen, so unterstellt Bartov hier ohne weitere Prüfung ein falsches Bewußtsein. So kommt man in dieser ernsten Frage nicht weiter. Das Erschreckende ist doch gerade, daß kriegsverbrecherisches Verhalten in der Wehrmacht nicht unbedingt gerechtfertigt werden mußte. Es bedurfte keiner großen ideologischen Einstimmung, um auf deutscher Seite aus einem großen vaterländischen Krieg einen Vernichtungskrieg zu machen. Kalte Angst trieb die Soldaten allein schon, zumindest seit dem Fall Stalingrads, zu dem "rücksichtslosen" Kampf und dem "fanatischen" Handeln, das in fast jedem Befehl von oben verlangt wurde. WOLFGANG SCHIEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein israelischer Historiker über Wehrmachtsverbrechen im Zweiten Weltkrieg
Omer Bartov: Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges. Deutsch von Karin Miedler und Thomas Pfeiffer. Rowohlt Verlag, Reinbek 1995. 335 Seiten, 42,- Mark.
In einem Augenblick, in dem das vereinigte Deutschland sich anschickt, erstmals wieder außerhalb seiner Grenzen militärische Verantwortung zu übernehmen, erscheint ein wissenschaftliches Buch, das auf höchst unbequeme, ja provozierende Weise an die alte Wehrmacht erinnert. Es ist schon das zweite Buch des jungen israelischen, in den Vereinigten Staaten lehrenden Militärhistorikers Omer Bartov über die Wehrmacht, und es wird mit Sicherheit ebensoviel Aufsehen erregen wie das erste. Untersuchte Bartov in seinem früheren, nur auf englisch erschienenen Buch die "Barbarisierung" von drei an der Ostfront eingesetzten deutschen Divisionen, so gilt dieses Buch der Wehrmacht "als Ganzes". Konnte man gegen seine früheren Forschungen vielleicht noch einwenden, daß drei Divisionen nicht unbedingt für die ganze Wehrmacht exemplarisch seien, so ist dieser Einwand jetzt nicht mehr möglich.
Die Wehrmacht sei, so der völlig zutreffende Ausgangspunkt von Bartovs Darstellung, kein Zufluchtsort vor dem NS-Regime gewesen, sondern dessen integraler Bestandteil, ja dessen wirkungsvollste Stütze. Daher auch der Titel seines Buches. Bartov behauptet, daß das von der Forschung bisher nicht erkannt worden sei, weil man "bislang die falschen Fragen gestellt" habe. Er geht sogar so weit zu behaupten, daß man in Deutschland "gemeinhin" (!) die historischen Tatsachen verdrehe und die Soldaten an der Ostfront als Hitlers Opfer, nicht als seine willfährigen Instrumente ansehe. Das ist schon etwas verblüffend angesichts der Tatsache, daß vor allem Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes die Unschuldslegende der Wehrmacht schon seit den frühen siebziger Jahren in Frage stellen. Bartov zitiert ihre Forschungen denn auch ausgiebig. Längst kann daher kein Zweifel mehr bestehen, daß die Völker der Sowjetunion für die deutsche Invasionsarmee "keine Kameraden" waren. Die Wehrmacht führte im Osten einen bewußt völker- und kriegsrechtswidrigen Vernichtungskrieg. Daß unzählige deutsche Soldaten in der Sowjetunion "gehorsam und kritiklos an ,legalisierten' Verbrechen" teilgenommen haben, ist deshalb keine so neue wissenschaftliche Erkenntnis mehr. Was Bartovs Buch aber so interessant macht, ist sein Versuch, die "Barbarisierung" der deutschen Soldaten an der Ostfront nicht mehr nur zu konstatieren, sondern erstmals auch zu erklären. Er stellt dazu vier Erwägungen an. In einem ersten Kapitel verweist er auf die "Entmodernisierung der Front". Nach den ersten großen Siegen im Bewegungskrieg erstarrte die Ostfront zunächst in einem Stellungskrieg, um dann in einem verzweifelten Rückzugskrieg zu enden. Für den einzelnen Soldaten bedeutete das, gegenüber einem immer moderner ausgerüsteten Feind unter immer primitiveren Bedingungen ums Überleben kämpfen zu müssen. Für Bartov steht fest, daß dieser Prozeß der Entmodernisierung das Verhalten der Truppe zunehmend brutalisiert habe. Eine zweite Überlegung gilt der sich auflösenden Gruppensolidarität in den Wehrmachtseinheiten der Ostfront. Es gibt hier die Theorie von der sogenannten Primärgruppe, wonach der kameradschaftliche Korpsgeist der militärischen Einheiten die Truppe an der Ostfront zusammenhielt. Bartov weist demgegenüber eindrucksvoll nach, daß die massenhaften, schließlich in die Millionen gehenden Verluste den ursprünglichen Gruppengeist völlig zerstört und die Wehrmacht immer mehr zu einem zusammengewürfelten Haufen gemacht hätten. Einsamkeit und Verzweiflung hätten erheblich dazu beigetragen, den Landser in seinem Verhalten gegenüber Zivilisten und Kriegsgefangenen zu enthemmen.
Als dritte Ursache des Brutalisierungsprozesses bezeichnet Bartov die "Pervertierung der Disziplin". Die nationalsozialistische Disziplinarordnung der Wehrmacht verlangte von den Soldaten blinden Gehorsam, wurde dieser nicht geleistet, standen drakonische Strafen an bis hin zur Hinrichtung, der im Zweiten Weltkrieg 13000 bis 15000 Soldaten zum Opfer fielen gegenüber nur 58 im Ersten Weltkrieg. Bartov vertritt nun die These, daß diese rigide Disziplin nur durchzusetzen gewesen sei, weil man Disziplinlosigkeiten der Soldaten gegenüber dem Feind, vor allem bei der sogenannten Partisanenbekämpfung, zugelassen habe. Obwohl er einräumen muß, daß dieser Mechanismus "wahrscheinlich nicht bewußt geplant" war, glaubt er doch einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen der Wehrmacht an anderen Völkern und der repressiven Behandlung der eigenen Soldaten durch die Wehrmachtsführung erkennen zu können. Viertens spricht Bartov von einer "Verzerrung der Wirklichkeit", welche die Soldaten im Osten Ursache und Wirkung des mörderischen Krieges habe vertauschen lassen. Sie hätten sich als Opfer gefühlt, während sie doch Täter gewesen seien. Das elende Dasein der sowjetischen Völker habe sie in ihrem Vorurteil bestätigt, es mit "Untermenschen" zu tun zu haben. Es hätte gereicht, wenn Bartov verdeutlicht hätte, daß die Wehrmacht an der Ostfront aufgrund dieser vier Bedingungsfaktoren in einer Art von kumulativer Radikalisierung zunehmend zum Träger des Vernichtungskrieges gemacht worden ist. Stoff zum Nachdenken und Weiterforschen wäre das schon genug. Bartov will jedoch noch mehr beweisen. Ihm liegt ganz besonders daran, die Brutalisierung der Wehrmacht als das Ergebnis totaler ideologischer Indoktrination hinzustellen. Man wird ihm hier folgen können, insoweit damit die Überhöhung Hitlers zu einer Art von "göttlichem Wesen" gemeint ist. Warum sollten die Soldaten in ihrer immer verzweifelteren Lage dem von Ian Kershaw schon vor Jahren eindringlich beschriebenen Rettermythos weniger verfallen sein als die übrigen Deutschen? Weniger überzeugend ist die These, daß die kollektive Abstumpfung gegenüber Menschenleben das Ergebnis intensiver nationalsozialistischer Indoktrination gewesen sei. Wie Bartov selbst einräumt, stellte die NS-Ideologie kein "konsistentes oder geschlossenes Gedankengebäude" dar. Was er aus den überlieferten Stimmungsberichten der Truppe und vor allem aus privaten Soldatenbriefen herauslesen kann, sind denn auch nur einzelne ideologische Versatzstücke. Wieweit diese für die Kriminalisierung des Verhaltens der Soldaten gegenüber der feindlichen Bevölkerung maßgeblich waren, kann er letzten Endes nicht belegen.
Bartov polemisiert heftig gegen zuviel "Rankesches Mitgefühl" mit den deutschen Soldaten an der Ostfront. Ein bißchen mehr historische Kritik gegenüber den Selbstaussagen der Soldaten wünschte man sich aber bei ihm ebenso. Wurden in den Äußerungen der Soldaten manchmal Stereotype der nationalsozialistischen Propaganda allzusehr für bare Münze genommen, so unterstellt Bartov hier ohne weitere Prüfung ein falsches Bewußtsein. So kommt man in dieser ernsten Frage nicht weiter. Das Erschreckende ist doch gerade, daß kriegsverbrecherisches Verhalten in der Wehrmacht nicht unbedingt gerechtfertigt werden mußte. Es bedurfte keiner großen ideologischen Einstimmung, um auf deutscher Seite aus einem großen vaterländischen Krieg einen Vernichtungskrieg zu machen. Kalte Angst trieb die Soldaten allein schon, zumindest seit dem Fall Stalingrads, zu dem "rücksichtslosen" Kampf und dem "fanatischen" Handeln, das in fast jedem Befehl von oben verlangt wurde. WOLFGANG SCHIEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main