Berlin, wenige Jahre nach der Wende, eine Großküche in Kreuzberg, die ihre Kunden in West und Ost mit abgepackter Kost versorgt. Hier, zwischen riesigen Töpfen und Pfannen, begegnen wir dem Hilfskoch Simon DeLoo, einem ehemaligen Kameramann, den der Tod seiner Lebensgefährtin aus allen Zusammenhängen gerissen hat und der nun Essen ausfährt im »gewendeten Berlin«.
Auf seinen Touren trifft er Lucilla, eine junge Stadtstreicherin aus Polen, und glaubt, die Silhouette seiner früheren Frau wiederzusehen. Er versorgt sie mit deren Kleidung, überläßt ihr die leerstehende Wohnung - doch sie zerreißt sein Illusions-Gespinst, sie entzieht sich ihm, und erst in ihrer Heimat, in der vor Hitze flirrenden Landschaft der Pommerschen Seenplatte, sieht er sie wirklich: ihr Gesicht, in dem es »etwas Helleres gibt als Intelligenz«, ihren Körper, der ihn verwirrt.
»Plötzlich empfand er deutlich, was das ganze Leben in ihm vorbereitet hatte, so wie ein ferner Ton, seine Schwingung, die Moleküle stimmt, bis sie Jahrhunderte später eine Form annehmen, den Hauch einer Maserung im Kork, eine grüne Spitze zwischen Steinen.« Aber auch Lucilla hatte Gründe, vor ihrem Leben zu fliehen... Und so finden wir DeLoo am Ende des Romans im winterlichen Berlin wieder, ohne Hoffnung, aber auch ohne Verzweiflung: frei.
Mit Hitze ist Ralf Rothmann ein Großstadtroman aus unseren Tagen geglückt, in dem er nicht nur die unterschiedlichsten sozialen Existenzen und Milieus zu beschreiben versteht; gleichzeitig - und über allem - erzählt er eine wunderbar melancholische Liebesgeschichte.
Auf seinen Touren trifft er Lucilla, eine junge Stadtstreicherin aus Polen, und glaubt, die Silhouette seiner früheren Frau wiederzusehen. Er versorgt sie mit deren Kleidung, überläßt ihr die leerstehende Wohnung - doch sie zerreißt sein Illusions-Gespinst, sie entzieht sich ihm, und erst in ihrer Heimat, in der vor Hitze flirrenden Landschaft der Pommerschen Seenplatte, sieht er sie wirklich: ihr Gesicht, in dem es »etwas Helleres gibt als Intelligenz«, ihren Körper, der ihn verwirrt.
»Plötzlich empfand er deutlich, was das ganze Leben in ihm vorbereitet hatte, so wie ein ferner Ton, seine Schwingung, die Moleküle stimmt, bis sie Jahrhunderte später eine Form annehmen, den Hauch einer Maserung im Kork, eine grüne Spitze zwischen Steinen.« Aber auch Lucilla hatte Gründe, vor ihrem Leben zu fliehen... Und so finden wir DeLoo am Ende des Romans im winterlichen Berlin wieder, ohne Hoffnung, aber auch ohne Verzweiflung: frei.
Mit Hitze ist Ralf Rothmann ein Großstadtroman aus unseren Tagen geglückt, in dem er nicht nur die unterschiedlichsten sozialen Existenzen und Milieus zu beschreiben versteht; gleichzeitig - und über allem - erzählt er eine wunderbar melancholische Liebesgeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2003Heiß bis ins Herz hinein
Berliner Romantik: Die Nachtwachen des Ralf Rothmann
Den Titel von "Hitze", Ralf Rothmanns fünftem Roman, erhellt das Motto, einer der Sprüche Salomos: "Kann auch jemand Feuer unterm Gewand tragen, ohne daß seine Kleider brennen?" Eine Antwort findet sich in einem anderen Roman, den 1804 gedruckten "Nachtwachen des Bonaventura". In der siebenten Nachtwache berichtet der Erzähler von seinem Debüt als Dichter. Er kommt aus kleinen Verhältnissen, denen er im Rückblick auf seine Karriere kosmischen Sinn abgewinnt. "Als eine vernünftige Anordnung der Vorsehung betrachte ich es übrigens, daß manche Menschen in einen engen erbärmlichen Wirkungskreis und zwischen vier Mauern eingesperrt sind, wo in der dumpfen Kerkerluft ihr Licht nur matt und unschädlich aufflammen kann, so daß man höchstens dabei erkennt, daß man sich in einem Kerker befindet; da es im Gegenteile in der Freiheit wie ein Vulkan auflodern würde, um alles ringsum in Brand zu stecken."
Auf den ersten Blick möchte man das Personal von Rothmanns Roman zu diesen Kerkerinsassen stecken. Der Wirkungskreis der Figuren könnte enger nicht umschrieben und erbärmlicher nicht möbliert sein. Es sind Hilfsarbeiter, deren Alltag sich in schäbigsten Verrichtungen erschöpft. In der dumpfen Luft einer Großküche, deren Produkte die Kunden zurückgehen ließen, sobald sie einmal bei der Zubereitung zugeschaut hätten, haben sich die Aufstiegswünsche verflüchtigt, denen sich das Kleinbürgertum in Rothmanns Ruhrpottromanen scheinbar noch hingab.
In Berlin spielt der neue Roman, wo der Autor seit 1976 lebt, am schlechthin unpoetischen Ort, der jedem Romantiker die Illusion austreiben müßte, das Herz, das das Volk auf der Zunge trage, sei ein reines. Die Berliner Schnauze, jenes verformte Organ, das nur Häßliches von sich gibt, muß als naturgegebener Beweis der Erbsündenlehre unter die vernünftigsten Einrichtungen der Vorsehung gerechnet werden. Rothmanns Berliner sind Gefangene einer Existenz, die keine Worte kennt, nur Sprüche, keine Taten, bloß Reflexe. Was bringt die lakonische Beschreibung dieser Existenz anderes zutage als die Erkenntnis, daß man sich in einem Kerker befindet? Den Zweifel, ob all das Unglück wirklich auf Anordnung der Vorsehung geschieht, ob man sich die Welt als Größtküche vorzustellen hat, in der auch die versalzene Suppe die Kreativität des Schöpfers offenbart.
Ein Obdachlosenversteck im fensterlosen Kellerloch einer Kreuzberger Altbauruine sieht aus wie die Hölle auf Erden. "In der hinteren Ecke verströmte ein Brenner auf einer leeren Bierkiste eine blendende Glut und ließ die Gestalten, die vor ihm auf dem Boden hockten, zunächst nur schemenhaft erkennen." Kein Zweifel: Wer hier eintritt und an Stapeln rostiger Heizkörper vorbei über Videorecorderverpackungspappe im Uringeruch seinen Weg macht, hat alle Hoffnung fahren lassen. Aber die Spiritusflamme hat einen seltsamen Effekt: Sie verwandelt die Penner in "grob umrissene, vom eigenen Goldgrund versengte" Ikonen. Es kann also geschehen, daß jemand ein Feuer unterm Gewand trägt, das ihm zwar die eigenen Kleider vom Leib frißt, aber die Umwelt nicht verzehrt. Das Berliner Lumpenproletariat pfeift auf jede historische Mission und macht von seiner Freiheit Gebrauch, indem es darauf verzichtet, alles ringsum in Brand zu stecken. Die Ärmsten der Armen sind Heilige, verehrungswürdige Inbilder der Entsagung.
Einigen poetischen Flugblättern verdankt der namenlose Nachtwächter des Bonaventura seinen Namen, "die ich aus der Werkstätte meines Schuhmachers fliegen ließ". Eine Schusterwerkstatt gehört zu dem Mietshaus, in dem Simon DeLoo wohnt, der Held von Rothmanns Roman, der Apostel unter den Heiligen, den am Herdfeuer im Morgengrauen einer der neuen Kollegen mit "Kikeriki" begrüßt, weil er den Geburtsnamen Petri trägt. Das Reclam-Heft, das beim dicken Buchhändler gegenüber fünfundzwanzig Jahre auf den Tag gewartet hatte, an dem Simon es kaufen sollte, enthält Schriften von Jakob Böhme. Die "Morgenröte" des deutschen Philosophen bildet den Kern der Hausbibliothek des Nachtwächters, weil Böhme ein zunftfähiger Schuhmacher war.
Wie der Nachtwächter auf seinen Rundgängen wunderliche Zeitgenossen beobachtet, die ihre phantastischen Lebensgeschichten erzählen, so kreuzt Simon mit seinem Lieferwagen die Wege hauptstadtbekannter Sonderlinge, wenn er im nächtlichen Berlin die warmen Mahlzeiten verteilt. In aller Herrgottsfrühe, unter rußschwarzem Himmel, fängt die ungeheuer dichte Eröffnungsszene an, und es wird eigentlich nie richtig hell. Der Fahrer kommt in den Augen der Kunden immer zu spät; mit lächerlichem Meckern protestieren sie gegen das Fatum, daß sie nichts so heiß essen können, wie es gekocht wird.
Kameramann war Simon in seinem früheren Leben, und er hat nichts aus diesem Leben zurückbehalten außer dem objektiven Blick. "Eine kurze Treppe führte in den Abwaschbereich hinauf, steinerne Becken waren zu sehen, eine Papptrommel Pril, und der Koch, immer noch in seinem Mantel, kam eilig durch die Küche und riß die Bürotür auf." Das Auge durchmißt den Raum, und während es wandert, erfolgt ohne Schnitt der Auftritt des Menschen. Keine zwei Seiten später dasselbe Satzmuster. "Die Rührhölzer waren an den Blättern rauh, fast faserig, an den Griffen wie poliert, und der Mann, der eine Latzhose aus Jeans-Stoff und einen dicken Pullover trug, steckte eins in die Suppe." Das poetische Verfahren läuft auf die Aufhebung des Unterschiedes von Beschreibung und Erzählung hinaus. Die Handlungen der Menschen sind so absehbar, daß sie sich wie Eigenschaften erfassen lassen. Und umgekehrt zieht Rothmanns Präteritum alle Zustände der Stadt in den unaufhaltsam zäh davonströmenden Fluß der Zeit.
Genauestens nimmt Simon die Dinge auf, aber es liegt ein Schleier über ihnen, für den in der Motivökonomie des Romans auch die Bilder der Folie und der Haut eintreten können. Ist nun die Welt so trübe, oder ist der Blick des Betrachters getrübt? Der stolzen Bordellmutter aus Königsberg kann keines ihrer Mädchen sagen, was das aus ihrer Heimatstadt gebürtige Genie erfunden hat. In den "Nachtwachen" erklärt es der Astronom: Der "selige Kant" hat dargetan, daß Zeit und Raum nur Formen der sinnlichen Anschauung sind. "Wie wollt ihr Raum finden, da wo es keinen Raum mehr gibt? Ja, was wollt ihr gar beginnen, wenn es mit der Zeit zu Ende geht?"
Der Raum jenseits von Berlin heißt Polen. Dort, im vierten der fünf Teile des Romans, wird Simon alles klar. Er hat eine junge Streunerin nach Hause begleitet, in der er seine verstorbene Geliebte hatte wiedererkennen wollen. Simon führt sie in die mystische Naturbetrachtung ein, bis "das alles plötzlich eine Stimme" hat. So behorcht in den "Nachtwachen" der seltsame Herr Kreuzgang, dem Rat Jakob Böhmes folgend, die Mücken und Fliegen im Sonnenschein, als sprächen sie über wichtige Gegenstände, von denen die Menschen noch nichts ahnen. Über Rothmanns polnischem See schwirren dieselben Insekten, und im Wasser vereinigen sich die Liebenden. Als Simon aber nach Monaten die Wohnung der Toten wieder betreten hatte, da hatte er tote Fliegen in der Badewanne entdeckt. War dort die Geliebte gestorben?
"Ein Bettler ohne Dach und Fach kämpft mit dem Schlummer, der ihn so süß und lockend in die Arme des Todes legen will, wie den leichtsinnigen Fischer die Nixe mit Gesang in die Wellen einlädt." Wie eine Paraphrase dieser Stelle aus der zehnten Nachtwache liest sich Rothmanns Schluß. Simon, auf den Hund gekommen, den man aus der Küche jagt, verreckt im Schnee, über sich eine "insektenverklebte Laterne". Und wie sein Kollege, der ihm nicht helfen kann, "plötzlich ein feines, von fernher kommendes Geräusch" hört, "rätselhaft deutlich", so ist "ganz in der Ferne" über dem Bettler "leise kaum vernehmbare Musik, wie wenn Mücken summen". Die Stichflammen, die im Laufe des Romans immer wieder emporschießen, haben diesen Ausgang angekündigt, denn "das schnelle leuchtende Auflodern der schon verlöschenden Flamme" ist dem Nachtwächter zufolge "der sichere Vorbote des nahen Todes". Dem Tod ist dann auch der "Stadtpoet" bestimmt, den der Nachtwächter als "begeisterten Apostel mit der Flamme auf dem Haupte" beschreibt.
Die Liebe sei nicht schön, es sei nur der Traum der Liebe, der entzücke, sagt der Nachtwächter am Grab des Bettlers. War der polnische Ausflug, der stilistisch komplett aus dem Berlinroman herausfällt, ein Traum? Aus dem Traum von der Wiedergängerin, die ihn ins Wasser zog, kehrte Simon, der Fischer, nicht ins Leben zurück. Eine Lesart des rätselhaften Romans, mit dem Ralf Rothmann, unser Hauptstadtpoet, die Berliner Romantik auferweckt hat.
Ralf Rothmann: "Hitze". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 290 S., geb., 19,90 [Euro].
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Berliner Romantik: Die Nachtwachen des Ralf Rothmann
Den Titel von "Hitze", Ralf Rothmanns fünftem Roman, erhellt das Motto, einer der Sprüche Salomos: "Kann auch jemand Feuer unterm Gewand tragen, ohne daß seine Kleider brennen?" Eine Antwort findet sich in einem anderen Roman, den 1804 gedruckten "Nachtwachen des Bonaventura". In der siebenten Nachtwache berichtet der Erzähler von seinem Debüt als Dichter. Er kommt aus kleinen Verhältnissen, denen er im Rückblick auf seine Karriere kosmischen Sinn abgewinnt. "Als eine vernünftige Anordnung der Vorsehung betrachte ich es übrigens, daß manche Menschen in einen engen erbärmlichen Wirkungskreis und zwischen vier Mauern eingesperrt sind, wo in der dumpfen Kerkerluft ihr Licht nur matt und unschädlich aufflammen kann, so daß man höchstens dabei erkennt, daß man sich in einem Kerker befindet; da es im Gegenteile in der Freiheit wie ein Vulkan auflodern würde, um alles ringsum in Brand zu stecken."
Auf den ersten Blick möchte man das Personal von Rothmanns Roman zu diesen Kerkerinsassen stecken. Der Wirkungskreis der Figuren könnte enger nicht umschrieben und erbärmlicher nicht möbliert sein. Es sind Hilfsarbeiter, deren Alltag sich in schäbigsten Verrichtungen erschöpft. In der dumpfen Luft einer Großküche, deren Produkte die Kunden zurückgehen ließen, sobald sie einmal bei der Zubereitung zugeschaut hätten, haben sich die Aufstiegswünsche verflüchtigt, denen sich das Kleinbürgertum in Rothmanns Ruhrpottromanen scheinbar noch hingab.
In Berlin spielt der neue Roman, wo der Autor seit 1976 lebt, am schlechthin unpoetischen Ort, der jedem Romantiker die Illusion austreiben müßte, das Herz, das das Volk auf der Zunge trage, sei ein reines. Die Berliner Schnauze, jenes verformte Organ, das nur Häßliches von sich gibt, muß als naturgegebener Beweis der Erbsündenlehre unter die vernünftigsten Einrichtungen der Vorsehung gerechnet werden. Rothmanns Berliner sind Gefangene einer Existenz, die keine Worte kennt, nur Sprüche, keine Taten, bloß Reflexe. Was bringt die lakonische Beschreibung dieser Existenz anderes zutage als die Erkenntnis, daß man sich in einem Kerker befindet? Den Zweifel, ob all das Unglück wirklich auf Anordnung der Vorsehung geschieht, ob man sich die Welt als Größtküche vorzustellen hat, in der auch die versalzene Suppe die Kreativität des Schöpfers offenbart.
Ein Obdachlosenversteck im fensterlosen Kellerloch einer Kreuzberger Altbauruine sieht aus wie die Hölle auf Erden. "In der hinteren Ecke verströmte ein Brenner auf einer leeren Bierkiste eine blendende Glut und ließ die Gestalten, die vor ihm auf dem Boden hockten, zunächst nur schemenhaft erkennen." Kein Zweifel: Wer hier eintritt und an Stapeln rostiger Heizkörper vorbei über Videorecorderverpackungspappe im Uringeruch seinen Weg macht, hat alle Hoffnung fahren lassen. Aber die Spiritusflamme hat einen seltsamen Effekt: Sie verwandelt die Penner in "grob umrissene, vom eigenen Goldgrund versengte" Ikonen. Es kann also geschehen, daß jemand ein Feuer unterm Gewand trägt, das ihm zwar die eigenen Kleider vom Leib frißt, aber die Umwelt nicht verzehrt. Das Berliner Lumpenproletariat pfeift auf jede historische Mission und macht von seiner Freiheit Gebrauch, indem es darauf verzichtet, alles ringsum in Brand zu stecken. Die Ärmsten der Armen sind Heilige, verehrungswürdige Inbilder der Entsagung.
Einigen poetischen Flugblättern verdankt der namenlose Nachtwächter des Bonaventura seinen Namen, "die ich aus der Werkstätte meines Schuhmachers fliegen ließ". Eine Schusterwerkstatt gehört zu dem Mietshaus, in dem Simon DeLoo wohnt, der Held von Rothmanns Roman, der Apostel unter den Heiligen, den am Herdfeuer im Morgengrauen einer der neuen Kollegen mit "Kikeriki" begrüßt, weil er den Geburtsnamen Petri trägt. Das Reclam-Heft, das beim dicken Buchhändler gegenüber fünfundzwanzig Jahre auf den Tag gewartet hatte, an dem Simon es kaufen sollte, enthält Schriften von Jakob Böhme. Die "Morgenröte" des deutschen Philosophen bildet den Kern der Hausbibliothek des Nachtwächters, weil Böhme ein zunftfähiger Schuhmacher war.
Wie der Nachtwächter auf seinen Rundgängen wunderliche Zeitgenossen beobachtet, die ihre phantastischen Lebensgeschichten erzählen, so kreuzt Simon mit seinem Lieferwagen die Wege hauptstadtbekannter Sonderlinge, wenn er im nächtlichen Berlin die warmen Mahlzeiten verteilt. In aller Herrgottsfrühe, unter rußschwarzem Himmel, fängt die ungeheuer dichte Eröffnungsszene an, und es wird eigentlich nie richtig hell. Der Fahrer kommt in den Augen der Kunden immer zu spät; mit lächerlichem Meckern protestieren sie gegen das Fatum, daß sie nichts so heiß essen können, wie es gekocht wird.
Kameramann war Simon in seinem früheren Leben, und er hat nichts aus diesem Leben zurückbehalten außer dem objektiven Blick. "Eine kurze Treppe führte in den Abwaschbereich hinauf, steinerne Becken waren zu sehen, eine Papptrommel Pril, und der Koch, immer noch in seinem Mantel, kam eilig durch die Küche und riß die Bürotür auf." Das Auge durchmißt den Raum, und während es wandert, erfolgt ohne Schnitt der Auftritt des Menschen. Keine zwei Seiten später dasselbe Satzmuster. "Die Rührhölzer waren an den Blättern rauh, fast faserig, an den Griffen wie poliert, und der Mann, der eine Latzhose aus Jeans-Stoff und einen dicken Pullover trug, steckte eins in die Suppe." Das poetische Verfahren läuft auf die Aufhebung des Unterschiedes von Beschreibung und Erzählung hinaus. Die Handlungen der Menschen sind so absehbar, daß sie sich wie Eigenschaften erfassen lassen. Und umgekehrt zieht Rothmanns Präteritum alle Zustände der Stadt in den unaufhaltsam zäh davonströmenden Fluß der Zeit.
Genauestens nimmt Simon die Dinge auf, aber es liegt ein Schleier über ihnen, für den in der Motivökonomie des Romans auch die Bilder der Folie und der Haut eintreten können. Ist nun die Welt so trübe, oder ist der Blick des Betrachters getrübt? Der stolzen Bordellmutter aus Königsberg kann keines ihrer Mädchen sagen, was das aus ihrer Heimatstadt gebürtige Genie erfunden hat. In den "Nachtwachen" erklärt es der Astronom: Der "selige Kant" hat dargetan, daß Zeit und Raum nur Formen der sinnlichen Anschauung sind. "Wie wollt ihr Raum finden, da wo es keinen Raum mehr gibt? Ja, was wollt ihr gar beginnen, wenn es mit der Zeit zu Ende geht?"
Der Raum jenseits von Berlin heißt Polen. Dort, im vierten der fünf Teile des Romans, wird Simon alles klar. Er hat eine junge Streunerin nach Hause begleitet, in der er seine verstorbene Geliebte hatte wiedererkennen wollen. Simon führt sie in die mystische Naturbetrachtung ein, bis "das alles plötzlich eine Stimme" hat. So behorcht in den "Nachtwachen" der seltsame Herr Kreuzgang, dem Rat Jakob Böhmes folgend, die Mücken und Fliegen im Sonnenschein, als sprächen sie über wichtige Gegenstände, von denen die Menschen noch nichts ahnen. Über Rothmanns polnischem See schwirren dieselben Insekten, und im Wasser vereinigen sich die Liebenden. Als Simon aber nach Monaten die Wohnung der Toten wieder betreten hatte, da hatte er tote Fliegen in der Badewanne entdeckt. War dort die Geliebte gestorben?
"Ein Bettler ohne Dach und Fach kämpft mit dem Schlummer, der ihn so süß und lockend in die Arme des Todes legen will, wie den leichtsinnigen Fischer die Nixe mit Gesang in die Wellen einlädt." Wie eine Paraphrase dieser Stelle aus der zehnten Nachtwache liest sich Rothmanns Schluß. Simon, auf den Hund gekommen, den man aus der Küche jagt, verreckt im Schnee, über sich eine "insektenverklebte Laterne". Und wie sein Kollege, der ihm nicht helfen kann, "plötzlich ein feines, von fernher kommendes Geräusch" hört, "rätselhaft deutlich", so ist "ganz in der Ferne" über dem Bettler "leise kaum vernehmbare Musik, wie wenn Mücken summen". Die Stichflammen, die im Laufe des Romans immer wieder emporschießen, haben diesen Ausgang angekündigt, denn "das schnelle leuchtende Auflodern der schon verlöschenden Flamme" ist dem Nachtwächter zufolge "der sichere Vorbote des nahen Todes". Dem Tod ist dann auch der "Stadtpoet" bestimmt, den der Nachtwächter als "begeisterten Apostel mit der Flamme auf dem Haupte" beschreibt.
Die Liebe sei nicht schön, es sei nur der Traum der Liebe, der entzücke, sagt der Nachtwächter am Grab des Bettlers. War der polnische Ausflug, der stilistisch komplett aus dem Berlinroman herausfällt, ein Traum? Aus dem Traum von der Wiedergängerin, die ihn ins Wasser zog, kehrte Simon, der Fischer, nicht ins Leben zurück. Eine Lesart des rätselhaften Romans, mit dem Ralf Rothmann, unser Hauptstadtpoet, die Berliner Romantik auferweckt hat.
Ralf Rothmann: "Hitze". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 290 S., geb., 19,90 [Euro].
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