Bob Dylan wird 70: Der Rock'n'Roll erhält eine Geschichte. Aber auch Dylan selbst hat einen langen poetischen und musikalischen Weg zurückgelegt:
Vom jugendlichen Rock'n'Roller über den politischen Protestsänger, der sich zum Rock-Poeten wandelt, sich einem evangelikalen Christentum zuwendet, sein Judentum wiederentdeckt, die amerikanischen Volksmusikströmungen neu erschließt und seit 1986 ununterbrochen auf Tour ist. Wie als Kommentar zu dieser Lebensgeschichte ist sein Werk von der Figur des Reisenden durchzogen, der beides zugleich ist: Streuner und Pilger Hobo- Pilgrim. Dieser Figur nachgehend zeichnet Knut Wenzel ein faszinierendes theologisch-literarisches Bild des Werks und des Menschen Bob Dylan.
Vom jugendlichen Rock'n'Roller über den politischen Protestsänger, der sich zum Rock-Poeten wandelt, sich einem evangelikalen Christentum zuwendet, sein Judentum wiederentdeckt, die amerikanischen Volksmusikströmungen neu erschließt und seit 1986 ununterbrochen auf Tour ist. Wie als Kommentar zu dieser Lebensgeschichte ist sein Werk von der Figur des Reisenden durchzogen, der beides zugleich ist: Streuner und Pilger Hobo- Pilgrim. Dieser Figur nachgehend zeichnet Knut Wenzel ein faszinierendes theologisch-literarisches Bild des Werks und des Menschen Bob Dylan.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2011Er ist viel zerbrechlicher als der Durchschnitt
Bob Dylan wird siebzig, und seine Interpreten wetzen wieder ihre Messer. Nicht jede Klinge ist scharf, nicht jeder Hieb sitzt, aber unterhaltsam ist es allemal. Der Ertrag eines Jubiläumsfrühlings.
Einer dieser Bob-Dylan-Interviewer wollte im Dezember 1965 folgendes wissen: "Was halten Sie von den Leuten, die Ihre Songs analysieren?" Bob Dylan antwortete: "Ich heiße sie willkommen - mit offenen Armen." Der Biograph Robert Shelton berichtet davon, dass diese und weitere "philisterhafte" Fragen wie etwa die nach Dylans Lieblingsdichtern ein "verbales Sperrfeuer" ausgelöst hätten. Dylan war damals vierundzwanzig Jahre alt und auf dem ersten Gipfel seines Ruhms: Die Platten "Bringing It All Back Home" und "Highway 61 Revisited" waren im Abstand von fünf Monaten erschienen, "Blonde On Blonde" würde im Mai 1966 die Trilogie der absoluten Meisterschaft komplettieren. Man könnte meinen, im Bewusstsein des Erreichten lasse es sich leicht plaudern; Dylan aber war bekannt dafür, dass er Leuten, die etwas von ihm wissen wollten, entweder unernst oder gereizt begegnete.
Shelton wusste das und war im Umgang mit Dylan entsprechend vorsichtig. Der Kritiker der "New York Times" hatte 1961 den allerersten wichtigen Artikel über den Musiker geschrieben und tat auch danach alles dafür, "Dylan als bedeutende Gestalt für die Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts zu etablieren", wie Elizabeth Thomson und Patrick Humphries schreiben, die Sheltons Biographie neu herausbringen. Wie groß Dylans Bedeutung ist, ermesse man daran, dass auch nebensächliche Jahreszahlen zum Anlass genommen werden, sich über ihn zu äußern - "No Direction Home" erschien erstmals 1986, zum silbernen Jubiläum des in der Tat wegweisenden Artikels, und ist ohne Zweifel eines der wichtigsten Dylan-Bücher.
Das verdankt sich auch persönlicher Nähe: Man kannte sich, und Dylan war sogar einverstanden mit dem Projekt, dessen schwierige Entstehungsgeschichte die Herausgeber schildern. Shelton steigt tief hinab und hat nicht nur Weggefährten interviewt, sondern auch die Familie, von der Dylan nach seiner Ankunft in New York so gut wie nichts preisgab. Shelton zeichnet einen naturgemäß schwierigen Charakter und beglaubigt das durch Zeugen aus nächster Nähe, wie etwa Joan Baez: "Er ist eine komplizierte und problematische Person. Ich sehe Bobby mit einem leicht angesplitterten Diamanten in seinem Kopf. Viel zerbrechlicher als der Durchschnitt. Wie leicht ist er außer Fassung geraten, wenn er spielte und vielleicht etwas völlig Nebensächliches passierte! Aber man weiß nie, was er wirklich fühlt, weil er das alles sehr gut verstecken kann. Meiner Meinung nach will er sich aus irgendeinem Grund von jeglicher Verantwortung befreien, für wen auch immer. Es scheint, er will mit dem gerade so durchkommen, was die Leute von sich aus geben."
Damit hat Dylan es weit gebracht. Shelton entwirft ein mit interessanten Anekdoten angereichertes Gesellschaftspanorama, in dem der junge Musiker bald das "Merkziel der Betrachter" ist, wie Ophelia über Hamlet sagt. Durch die rockhistorisch triftige Konzentration auf die Jahre zwischen 1961 und 1966, in denen Dylan sieben Platten einspielte und sein Ruhm so gewaltig wurde, dass die mit dem Motorrad-Unfall herbeigeführte Pause wohl auch aus anderen Gründen unvermeidlich gewesen wäre, erhält das Buch eine gewisse Unwucht. Wenn es ans erste Comeback mit dem Album "John Wesley Harding" (1967) geht, sind schon fünfhundert Seiten herum. Der Rest, der ohnehin nur bis 1978 reicht, wird dann gedrängter erzählt; die darauf folgende Gospelphase, in der Dylan seinen Übertritt zum Christentum verarbeitet, spielt schon keine Rolle mehr. Sie hätte in der Logik des Erzählens auch kaum einen Platz gehabt. Shelton, der 1995 knapp siebzigjährig starb, ging es um den Strategen, der sich nicht gern in die Karten blicken ließ; für Dylans aufrichtigen, aber absolut unhippen Messianismus hätte er ohnehin kaum das richtige Begriffsbesteck zur Hand gehabt.
Das eigenwilligste hat zu den Vorbereitungen für Dylans siebzigsten Geburtstag am 24. Mai wahrscheinlich Knut Wenzel hervorgeholt: "HoboPilgrim. Bob Dylans Reise durch die Nacht" ist ein Großessay, der sich plausibel an einer zentralen Figur aus dem Dylan-Kosmos abarbeitet, dem hobo eben, dabei aber so frei assoziativ vorgeht wie sonst nur noch Dylans eigene Lyrik. Man darf dahinter die Ambition vermuten, Dylans Werk endgültig der Hochkultur zuzuschlagen, und der Frankfurter Theologieprofessor hält dabei mit seiner eigenen Profession nicht hinterm Berg: "Hier, im Lied, aber findet die Welt ihre Begnadigung, den sie transformierenden Glanz im Licht einer erfahrenen oder widerfahrenden Liebe." Für Dylans Gospelzeit ist so ein Interpret natürlich bestens gerüstet, und man stellt bei solchen Gelegenheiten fest, mit welcher Sicherheit Wenzel aus dem Teil immer wieder das Ganze zu ziehen vermag: "Bob Dylans Weg ist auch eine Laufbahn der Sündenfälle . . . jede Fraktion der Fans hat ihr eigenes Register der Bob-sins . . . Die hier kulminierende Sündenaufrechnung wird von einem weiteren Deutungsschema gekreuzt, das innerhalb des Schlechten noch einmal ein Gefälle zum Schlechteren wahrzunehmen erlaubt: Es habe nämlich Dylan immer wieder mit einem neuen Album ein blueprint für ein neues Genre, eine neue Entwicklung populärer Musik - oder wenigstens seines eigenen Schaffens - vorgelegt, um es dann regelmäßig mit dem unmittelbar nachfolgenden Album zu übertreiben, zu trivialisieren, zu verderben, ad absurdum zu führen."
Zuweilen schwingen sich die mit Sprachmanierismen gespickten Ausführungen zu Behauptungen auf, die das Verständnis und die Kompetenz, aber dann eben auch das Interesse eines normalsterblichen Dylan-Hörers überschreiten: "Das quantitative everything ist an der prinzipiellen Unabschließbarkeit der Flechtkette ablesbar. Bob Dylan hat die unendlich erweiterbare Serialität nachgerade zu einem charakteristischen Kompositionsprinzip ausgebaut . . ., jene unendliche Serialität, nach deren Prinzip auch die gotischen Kathedralen englischer Provenienz errichtet worden sind, im Unterschied zu denen Frankreichs, Deutschlands, Italiens, Spaniens." Das mag stimmen; nur nimmt man dann doch lieber ein Plattencover zur Hand, das reicht für ein Evidenzerlebnis. Wie sagte Adorno über Thomas Mann? Dessen wahre Wirkung werde anfangen, sobald man sich um das kümmere, "was nicht im Baedeker steht".
Das Zentralmassiv Bob Dylan ist also offenkundig noch in der Ausdehnung begriffen; wer sich ihm nähert, erfährt seine Bedeutung oft nur noch im Hinblick auf ihn. Mit diesem Prinzip einer abgeleiteten Relevanz verfährt der angenehm informative, mit fast aufreizender lexikalischer Strenge verfahrende schmale Band von Michael Endepols "Bob Dylan von A bis Z". Hier werden Namen und Begriffe erklärt, die ihre Bedeutung zwar nicht nur insofern haben, als sie sich mit Dylan in Verbindung bringen lassen, aber sie erscheinen dann oft in verblüffend anderem Licht: Johnny Cash und Neil Young etwa als geheime Brüder im Geiste des Meisters oder das Newport Folk Festival, das eine verdiente, aber auch etwas biedere Veranstaltung war - bis Dylan dort 1965 seine Gitarre unter Strom setzte und damit seine Hinwendung zum lauten Rock kundtat. Endepols vermutet, dass zumindest ein Teil des mit äußerster Ablehnung reagierenden Publikums einfach nur mit dem schlechten Sound unzufrieden war. Solche rein sachlichen Erwägungen muss sich nicht jeder Dylan-Hörer zu eigen machen; sie können aber dazu beitragen, dass man sich bei der allenthalben und seit Jahrzehnten spürbaren Bereitschaft, an Dylans Mythisierung mitzuwirken, etwas Zurückhaltung auferlegt.
Von dieser Bereitschaft zehrt, auf unterhaltsame Weise, auch das "Bob-Dylan-Lesebuch", das Klaus Theweleit herausgegeben hat: "How Does It Feel" versammelt bereits veröffentlichte, durchweg lesenswerte Beiträge von so unterschiedlichen Temperamenten wie Willi Winker, der eine fabelhaft polemische Deutung von Dylans Rockerwerdung beisteuert, Heinrich Detering, der Erhellendes zum Urheberrechtsbegriff eines notorischen, aber nie ernstlich belangten Diebs liefert, und dem unvermeidlichen Greil Marcus, der natürlich Dylan wieder da packen muss, wo er glaubt, dass andere ihm nicht folgen können: in den tiefsten Tiefen amerikanischer Geschichte. Wer dazu Erschöpfendes wissen will, der greife zum nun wieder bei Rogner & Bernhard aufgelegten Buch "Basement Blues", das Marcus Greil 1997 unter dem Originaltitel "Invisible Republic. Bob Dylan's Basement Tapes" vorgelegt hat. Und wer mag, folge ihm in der Annahme, die 1967 mit The Band eingespielten, 1975 veröffentlichten "Basement Tapes" wären das Hauptwerk.
Für eine Dylan-Biographie gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man legt unter den Werkschichten die Person frei und liefert eine Phänomenologie von deren Verhalten, wie Shelton dies tat; oder man versteht die Lebensgeschichte hauptsächlich als eine kaum noch absehbare Folge von Platteneinspielungen und Tourneen. So macht es, mit beeindruckender, sich gelegentlich aber dem Buchhalterischen nähernder Konsequenz, Olaf Benzinger, von dem die zweite gewichtige Publikation dieses Dylan-Frühjahrs stammt. Zwar ist "Bob Dylan. Die Geschichte seiner Musik" ebenfalls (nur) eine erweiterte Neuauflage; aber man kann angesichts der bisweilen doch etwas zu ambitionierten Deutungen nur dankbar sein für eine Konzentration des Blicks auf das, was Bob Dylan ist: ein Rockmusiker. Freilich kein gewöhnlicher, sondern - und auf diesen Nenner bringt Benzinger ihn in immer neuen Anläufen - ein solcher, der seine Liebesbeziehungen rücksichtslos ausbeutet und den gerade seine "Vehemenz und Inbrunst" davon abhalten, sich vereinnahmen zu lassen. Mit feinem Gespür für Werkübergänge und -entwicklungen erzählt Benzinger sämtliche Studiosessions nach. Das müsste bei der Menge eigentlich ermüden; aber es werden dabei immer wieder behutsame, skeptisch-kluge Wertungen und Interpretationen eingeflochten, die durchweg zum Verständnis beitragen und denen gelegentlich etwas geradezu Allgemeingültiges anhaftet: "Damit aber entziehen sich die meisten der Songs einer inhaltlich eindeutigen und rational nachvollziehbaren Deutung. Dylans Texte lassen sich nicht mehr in Hinblick auf konkrete Aussagen dechiffrieren. Man kann sich ihnen nur nähern, indem man sich davon inspirieren lässt und daraus ureigenste individuelle Bilder und Assoziationen entwickelt. Die Musik wirkt bei diesem Prozess wie ein Seziermesser, das den Kopf aufschneidet, damit Dylans Visionen einen noch unmittelbareren Zugang finden."
Ein Fazit: Gemessen an der Deutungswut, die Bob Dylan entfacht, ist der Ertrag an wirklich neuen Publikationen erstaunlich schmal; aber er ist nicht schlecht. Den Jubilar wird es ohnehin nicht kratzen. Er wird auch für die Interpreten, die ihm in wiederholten Anläufen die Türen einrennen, nur sein geheimnisvollstes Lächeln aufsetzen.
EDO REENTS
Knut Wenzel: "HoboPilgrim". Bob Dylans Reise durch die Nacht.
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2011. 206 S., br., 19,90 [Euro].
Olaf Benzinger: "Bob Dylan". Die Geschichte seiner Musik.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011. 368 S., Abb., br., 12,90 [Euro].
Robert Shelton: "Bob Dylan". No Direction Home. Sein Leben, seine Musik 1941-1978. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Edel Germany, Hamburg 2011. 688 S., geb., 29,95 [Euro].
Michael Endepols: "Bob Dylan von A bis Z".
Reclam Verlag, Ditzingen 2011. 164 S., br., 8,95 [Euro].
Klaus Theweleit (Hrsg.): "How Does It Feel". Das Bob-Dylan-Lesebuch.
Rowohlt Verlag, Berlin 2011. 304 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bob Dylan wird siebzig, und seine Interpreten wetzen wieder ihre Messer. Nicht jede Klinge ist scharf, nicht jeder Hieb sitzt, aber unterhaltsam ist es allemal. Der Ertrag eines Jubiläumsfrühlings.
Einer dieser Bob-Dylan-Interviewer wollte im Dezember 1965 folgendes wissen: "Was halten Sie von den Leuten, die Ihre Songs analysieren?" Bob Dylan antwortete: "Ich heiße sie willkommen - mit offenen Armen." Der Biograph Robert Shelton berichtet davon, dass diese und weitere "philisterhafte" Fragen wie etwa die nach Dylans Lieblingsdichtern ein "verbales Sperrfeuer" ausgelöst hätten. Dylan war damals vierundzwanzig Jahre alt und auf dem ersten Gipfel seines Ruhms: Die Platten "Bringing It All Back Home" und "Highway 61 Revisited" waren im Abstand von fünf Monaten erschienen, "Blonde On Blonde" würde im Mai 1966 die Trilogie der absoluten Meisterschaft komplettieren. Man könnte meinen, im Bewusstsein des Erreichten lasse es sich leicht plaudern; Dylan aber war bekannt dafür, dass er Leuten, die etwas von ihm wissen wollten, entweder unernst oder gereizt begegnete.
Shelton wusste das und war im Umgang mit Dylan entsprechend vorsichtig. Der Kritiker der "New York Times" hatte 1961 den allerersten wichtigen Artikel über den Musiker geschrieben und tat auch danach alles dafür, "Dylan als bedeutende Gestalt für die Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts zu etablieren", wie Elizabeth Thomson und Patrick Humphries schreiben, die Sheltons Biographie neu herausbringen. Wie groß Dylans Bedeutung ist, ermesse man daran, dass auch nebensächliche Jahreszahlen zum Anlass genommen werden, sich über ihn zu äußern - "No Direction Home" erschien erstmals 1986, zum silbernen Jubiläum des in der Tat wegweisenden Artikels, und ist ohne Zweifel eines der wichtigsten Dylan-Bücher.
Das verdankt sich auch persönlicher Nähe: Man kannte sich, und Dylan war sogar einverstanden mit dem Projekt, dessen schwierige Entstehungsgeschichte die Herausgeber schildern. Shelton steigt tief hinab und hat nicht nur Weggefährten interviewt, sondern auch die Familie, von der Dylan nach seiner Ankunft in New York so gut wie nichts preisgab. Shelton zeichnet einen naturgemäß schwierigen Charakter und beglaubigt das durch Zeugen aus nächster Nähe, wie etwa Joan Baez: "Er ist eine komplizierte und problematische Person. Ich sehe Bobby mit einem leicht angesplitterten Diamanten in seinem Kopf. Viel zerbrechlicher als der Durchschnitt. Wie leicht ist er außer Fassung geraten, wenn er spielte und vielleicht etwas völlig Nebensächliches passierte! Aber man weiß nie, was er wirklich fühlt, weil er das alles sehr gut verstecken kann. Meiner Meinung nach will er sich aus irgendeinem Grund von jeglicher Verantwortung befreien, für wen auch immer. Es scheint, er will mit dem gerade so durchkommen, was die Leute von sich aus geben."
Damit hat Dylan es weit gebracht. Shelton entwirft ein mit interessanten Anekdoten angereichertes Gesellschaftspanorama, in dem der junge Musiker bald das "Merkziel der Betrachter" ist, wie Ophelia über Hamlet sagt. Durch die rockhistorisch triftige Konzentration auf die Jahre zwischen 1961 und 1966, in denen Dylan sieben Platten einspielte und sein Ruhm so gewaltig wurde, dass die mit dem Motorrad-Unfall herbeigeführte Pause wohl auch aus anderen Gründen unvermeidlich gewesen wäre, erhält das Buch eine gewisse Unwucht. Wenn es ans erste Comeback mit dem Album "John Wesley Harding" (1967) geht, sind schon fünfhundert Seiten herum. Der Rest, der ohnehin nur bis 1978 reicht, wird dann gedrängter erzählt; die darauf folgende Gospelphase, in der Dylan seinen Übertritt zum Christentum verarbeitet, spielt schon keine Rolle mehr. Sie hätte in der Logik des Erzählens auch kaum einen Platz gehabt. Shelton, der 1995 knapp siebzigjährig starb, ging es um den Strategen, der sich nicht gern in die Karten blicken ließ; für Dylans aufrichtigen, aber absolut unhippen Messianismus hätte er ohnehin kaum das richtige Begriffsbesteck zur Hand gehabt.
Das eigenwilligste hat zu den Vorbereitungen für Dylans siebzigsten Geburtstag am 24. Mai wahrscheinlich Knut Wenzel hervorgeholt: "HoboPilgrim. Bob Dylans Reise durch die Nacht" ist ein Großessay, der sich plausibel an einer zentralen Figur aus dem Dylan-Kosmos abarbeitet, dem hobo eben, dabei aber so frei assoziativ vorgeht wie sonst nur noch Dylans eigene Lyrik. Man darf dahinter die Ambition vermuten, Dylans Werk endgültig der Hochkultur zuzuschlagen, und der Frankfurter Theologieprofessor hält dabei mit seiner eigenen Profession nicht hinterm Berg: "Hier, im Lied, aber findet die Welt ihre Begnadigung, den sie transformierenden Glanz im Licht einer erfahrenen oder widerfahrenden Liebe." Für Dylans Gospelzeit ist so ein Interpret natürlich bestens gerüstet, und man stellt bei solchen Gelegenheiten fest, mit welcher Sicherheit Wenzel aus dem Teil immer wieder das Ganze zu ziehen vermag: "Bob Dylans Weg ist auch eine Laufbahn der Sündenfälle . . . jede Fraktion der Fans hat ihr eigenes Register der Bob-sins . . . Die hier kulminierende Sündenaufrechnung wird von einem weiteren Deutungsschema gekreuzt, das innerhalb des Schlechten noch einmal ein Gefälle zum Schlechteren wahrzunehmen erlaubt: Es habe nämlich Dylan immer wieder mit einem neuen Album ein blueprint für ein neues Genre, eine neue Entwicklung populärer Musik - oder wenigstens seines eigenen Schaffens - vorgelegt, um es dann regelmäßig mit dem unmittelbar nachfolgenden Album zu übertreiben, zu trivialisieren, zu verderben, ad absurdum zu führen."
Zuweilen schwingen sich die mit Sprachmanierismen gespickten Ausführungen zu Behauptungen auf, die das Verständnis und die Kompetenz, aber dann eben auch das Interesse eines normalsterblichen Dylan-Hörers überschreiten: "Das quantitative everything ist an der prinzipiellen Unabschließbarkeit der Flechtkette ablesbar. Bob Dylan hat die unendlich erweiterbare Serialität nachgerade zu einem charakteristischen Kompositionsprinzip ausgebaut . . ., jene unendliche Serialität, nach deren Prinzip auch die gotischen Kathedralen englischer Provenienz errichtet worden sind, im Unterschied zu denen Frankreichs, Deutschlands, Italiens, Spaniens." Das mag stimmen; nur nimmt man dann doch lieber ein Plattencover zur Hand, das reicht für ein Evidenzerlebnis. Wie sagte Adorno über Thomas Mann? Dessen wahre Wirkung werde anfangen, sobald man sich um das kümmere, "was nicht im Baedeker steht".
Das Zentralmassiv Bob Dylan ist also offenkundig noch in der Ausdehnung begriffen; wer sich ihm nähert, erfährt seine Bedeutung oft nur noch im Hinblick auf ihn. Mit diesem Prinzip einer abgeleiteten Relevanz verfährt der angenehm informative, mit fast aufreizender lexikalischer Strenge verfahrende schmale Band von Michael Endepols "Bob Dylan von A bis Z". Hier werden Namen und Begriffe erklärt, die ihre Bedeutung zwar nicht nur insofern haben, als sie sich mit Dylan in Verbindung bringen lassen, aber sie erscheinen dann oft in verblüffend anderem Licht: Johnny Cash und Neil Young etwa als geheime Brüder im Geiste des Meisters oder das Newport Folk Festival, das eine verdiente, aber auch etwas biedere Veranstaltung war - bis Dylan dort 1965 seine Gitarre unter Strom setzte und damit seine Hinwendung zum lauten Rock kundtat. Endepols vermutet, dass zumindest ein Teil des mit äußerster Ablehnung reagierenden Publikums einfach nur mit dem schlechten Sound unzufrieden war. Solche rein sachlichen Erwägungen muss sich nicht jeder Dylan-Hörer zu eigen machen; sie können aber dazu beitragen, dass man sich bei der allenthalben und seit Jahrzehnten spürbaren Bereitschaft, an Dylans Mythisierung mitzuwirken, etwas Zurückhaltung auferlegt.
Von dieser Bereitschaft zehrt, auf unterhaltsame Weise, auch das "Bob-Dylan-Lesebuch", das Klaus Theweleit herausgegeben hat: "How Does It Feel" versammelt bereits veröffentlichte, durchweg lesenswerte Beiträge von so unterschiedlichen Temperamenten wie Willi Winker, der eine fabelhaft polemische Deutung von Dylans Rockerwerdung beisteuert, Heinrich Detering, der Erhellendes zum Urheberrechtsbegriff eines notorischen, aber nie ernstlich belangten Diebs liefert, und dem unvermeidlichen Greil Marcus, der natürlich Dylan wieder da packen muss, wo er glaubt, dass andere ihm nicht folgen können: in den tiefsten Tiefen amerikanischer Geschichte. Wer dazu Erschöpfendes wissen will, der greife zum nun wieder bei Rogner & Bernhard aufgelegten Buch "Basement Blues", das Marcus Greil 1997 unter dem Originaltitel "Invisible Republic. Bob Dylan's Basement Tapes" vorgelegt hat. Und wer mag, folge ihm in der Annahme, die 1967 mit The Band eingespielten, 1975 veröffentlichten "Basement Tapes" wären das Hauptwerk.
Für eine Dylan-Biographie gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man legt unter den Werkschichten die Person frei und liefert eine Phänomenologie von deren Verhalten, wie Shelton dies tat; oder man versteht die Lebensgeschichte hauptsächlich als eine kaum noch absehbare Folge von Platteneinspielungen und Tourneen. So macht es, mit beeindruckender, sich gelegentlich aber dem Buchhalterischen nähernder Konsequenz, Olaf Benzinger, von dem die zweite gewichtige Publikation dieses Dylan-Frühjahrs stammt. Zwar ist "Bob Dylan. Die Geschichte seiner Musik" ebenfalls (nur) eine erweiterte Neuauflage; aber man kann angesichts der bisweilen doch etwas zu ambitionierten Deutungen nur dankbar sein für eine Konzentration des Blicks auf das, was Bob Dylan ist: ein Rockmusiker. Freilich kein gewöhnlicher, sondern - und auf diesen Nenner bringt Benzinger ihn in immer neuen Anläufen - ein solcher, der seine Liebesbeziehungen rücksichtslos ausbeutet und den gerade seine "Vehemenz und Inbrunst" davon abhalten, sich vereinnahmen zu lassen. Mit feinem Gespür für Werkübergänge und -entwicklungen erzählt Benzinger sämtliche Studiosessions nach. Das müsste bei der Menge eigentlich ermüden; aber es werden dabei immer wieder behutsame, skeptisch-kluge Wertungen und Interpretationen eingeflochten, die durchweg zum Verständnis beitragen und denen gelegentlich etwas geradezu Allgemeingültiges anhaftet: "Damit aber entziehen sich die meisten der Songs einer inhaltlich eindeutigen und rational nachvollziehbaren Deutung. Dylans Texte lassen sich nicht mehr in Hinblick auf konkrete Aussagen dechiffrieren. Man kann sich ihnen nur nähern, indem man sich davon inspirieren lässt und daraus ureigenste individuelle Bilder und Assoziationen entwickelt. Die Musik wirkt bei diesem Prozess wie ein Seziermesser, das den Kopf aufschneidet, damit Dylans Visionen einen noch unmittelbareren Zugang finden."
Ein Fazit: Gemessen an der Deutungswut, die Bob Dylan entfacht, ist der Ertrag an wirklich neuen Publikationen erstaunlich schmal; aber er ist nicht schlecht. Den Jubilar wird es ohnehin nicht kratzen. Er wird auch für die Interpreten, die ihm in wiederholten Anläufen die Türen einrennen, nur sein geheimnisvollstes Lächeln aufsetzen.
EDO REENTS
Knut Wenzel: "HoboPilgrim". Bob Dylans Reise durch die Nacht.
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2011. 206 S., br., 19,90 [Euro].
Olaf Benzinger: "Bob Dylan". Die Geschichte seiner Musik.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011. 368 S., Abb., br., 12,90 [Euro].
Robert Shelton: "Bob Dylan". No Direction Home. Sein Leben, seine Musik 1941-1978. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Edel Germany, Hamburg 2011. 688 S., geb., 29,95 [Euro].
Michael Endepols: "Bob Dylan von A bis Z".
Reclam Verlag, Ditzingen 2011. 164 S., br., 8,95 [Euro].
Klaus Theweleit (Hrsg.): "How Does It Feel". Das Bob-Dylan-Lesebuch.
Rowohlt Verlag, Berlin 2011. 304 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein Theologe also macht sich daran, uns Bob Dylan zu erklären. Edo Reents findet's in Ordnung, solange Knut Wenzel plausibel, sozusagen irdisch bleibt, bei seiner Darstellung des Hobos, dieser, wie Reents weiß, zentralen Figur aus Dylans Welt. Sobald Wenzel allerdings zu arg vom transzendierenden Glanz im Licht der Liebe faselt, scheint ihm die Gabe des Autors, aus dem Teil das große Ganze hervorzuzaubern plötzlich klein. Dylans Sündenregister hin oder her. Reents legt das Buch schließlich beiseite, wenn der Autor ihn mit Sprachmanierismen nervt und musikalische Serialität auf gotische Kathedralen reimt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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