Produktdetails
  • Verlag: Klett-Cotta
  • ISBN-13: 9783608919073
  • ISBN-10: 3608919074
  • Artikelnr.: 26132694
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.1998

Schweinchen Schlau mauert schon im Kindergarten
Aber auch unter Fiedlern und Pfeifern sind Genies: Ellen Winner fordert Freiheit für hochbegabte Kinder

Der Entwicklungspsychologe Lewis Terman führte in Stanford von 1920 an Langzeitstudien über außergewöhnlich begabte Kinder durch. Am Beispiel von 1500 Schülern mit sehr hohen Intelligenzquotienten wollte der Pionier der modernen Begabtenforschung alte Mythen vom schwächlichen, einsamen Eierkopf zerstören. Junge Hochbegabte seien weder kränklicher noch kontaktärmer als der Durchschnitt. Vielmehr erfreuten sie sich besserer Gesundheit und seien wegen ihrer Leistungen beliebt. Dem Klassenprimus mit Nickelbrille, der als Streber verachtet und wegen des Versagens am Reck gehänselt wird, setzte Terman einen Leistungssportler mit Allround-Kompetenz entgegen. Je intelligenter, desto lebenstüchtiger und kraftstrotzender, lautete die Botschaft seiner "Genetic studies of genius", deren erster, 1925 erschienener Band auch vom zeitgeisttypischen Glauben an die Führungsstärke geborener Herrenmenschen zeugte.

Für seine Untersuchungen hatte Terman Kinder der Jahrgänge 1903 bis 1917 ausgewählt. Als seine Probanden älter wurden, zeigten sich die Grenzen seiner Forschung. Die frühreifen Genies entwickelten sich keineswegs zu besonders kreativen Erwachsenen. Hochbegabte in eigenen Klassen zu fördern erwies sich häufig als Fehlschlag. Trotz exzellenter Schulnoten waren viele von ihnen außerstande, elementare Herausforderungen des Lebens zu meistern. Einige fühlten sich schon als junge Erwachsene ausgebrannt, andere verplemperten ihre Zeit mit B-Movies oder kultivierten den Ennui. In der führenden amerikanischen Vereinigung von Menschen mit hohen Intelligenzquotienten sind detailbesessene Tüftler und stellenlose starrsinnige Spinner überrepräsentiert.

Ellen Winner beginnt ihren informativen Bericht über neuere Forschungen zur kindlichen Hochbegabung mit einer kritischen Analyse von Termans Deutungsangeboten. Die am Boston College lehrende Psychologin wirft dem ersten großen Aufklärer der Disziplin vor, in seinem positivistischen Wissenschaftsglauben nur neue Legenden erzeugt zu haben. Termans universell begabtes Kind sei das Produkt einer Verengung von Begabung auf meßbare Intelligenz. Außergewöhnliches musisches Talent oder künstlerische Kreativität lasse sich durch Intelligenztests ebensowenig erschließen wie Hochbegabung im Tanzen. Gegen experimentell erzeugte Eindeutigkeiten setzt Winner differenziertere Bilder junger widersprüchlicher Individuen.

Hochbegabte Kinder lernen nach selbstgeschriebenen Drehbüchern. Aus wütender Wißbegierde erarbeiten sie sich schon in jungen Jahren mit seltener Konzentrationsfähigkeit große Sachgebiete. Bei der Erforschung ihrer Domäne erleben sie einen "flow", also optimale Erlebniszustände, in denen sie die Welt um sich herum vergessen. Ihre außerordentlichen intellektuellen Leistungen sind zumeist mit hoher Sensibilität und gesteigerter Affektivität verbunden. Sie reagieren stark auf Lärm, Schmerz und Enttäuschungen, werden oft von intensiven Gefühlen überwältigt und sind überaus verletzlich. Dies verstärkt ihre Neigung, sich von Gleichaltrigen zurückzuziehen, und droht sie einsam zu machen. Der introvertierte Intellektuelle leidet schon im Kindergarten. Vermöge seiner reichen Talente braucht er viel Zeit für sich selbst.

In faszinierenden Fallstudien analysiert Winner unterschiedliche Typen früher Hochbegabung. Junge musikalische Genies können sprachlich durchschnittlich begabt und kindliche Rechenkünstler schlechte Zeichner sein. Extreme Einseitigkeit, also Spitzenbegabung in nur einer Domäne, ist die Regel. Dies bringt für hochbegabte Kinder häufig schulisches Leid und für ihre Eltern Streit mit Lehrern und anderen Eltern mit sich. Viele hochbegabte Kinder erbringen freiwillig schlechte schulische Leistungen, um nicht aufzufallen und in der Klasse anerkannt zu sein. Andere langweilen sich so sehr, daß sie den Unterricht zu stören beginnen. Mädchen unterliegen im Klassenraum einem besonders starken Druck, sich unter Wert zu verkaufen.

Zur Förderung ihrer Talente bedürfen die frühreifen Nonkonformisten einer ermutigenden Umwelt. Sie brauchen Eltern, die ohne Druck Leistungsbereitschaft vorleben und zu großer emotionaler Zuwendung bereit sind. Winner wirft aber auch die alten Fragen nach Anlage und Vererbung auf. Hochbegabung hat auch eine hirnphysiologisch erschließbare Grundlage. Bei Musikern mit absolutem Gehör ist der Temporal- beziehungsweise Schläfenlappen, der auditive Informationen verarbeitet, links wesentlich größer als rechts. Viele mathematisch Hochbegabte sind Linkshänder und leiden unter Immunschwächen wie Allergien und Asthma. Die Hirnforschung will dies auf die Wirkung von Testosteron zurückführen, das das Wachstum in einigen Gehirnregionen hemmt, während es gleichzeitig Entwicklungen in anderen Bereichen fördert. Das komplexe Zusammenspiel von natürlichen Grundlagen und kultureller Entwicklung von Hochbegabung kann sie so aber nicht erklären. Zu Recht besteht Winner darauf, daß die neuen biologischen Wissenschaften weniger wissen, als viele ihrer Vertreter vorgeben. Zur Entfaltung angeborener Talente bedarf es auch des leidenschaftlichen Strebens nach Wissen.

Die sozialwissenschaftliche Begabungsforschung enthielt häufig politische Botschaften. Manche Soziologen deuteten Begabung als ein soziales Konstrukt, mit dem nur die ungerechte Elitenherrschaft gerechtfertigt werden sollte. Andere störten sich an den gleichmacherischen Tendenzen moderner Massengesellschaften und wollten einen "natürlichen Vorrang" geborener Führungskräfte begründen. Auch Ellen Winner formuliert politische Forderungen. Mit großer polemischer Schärfe kritisiert sie die "egalitäre Ideologie" der in den Vereinigten Staaten herrschenden Pädagogik. Amerikas Schulen sieht sie von kleingeistigen Lehrern dominiert, die in ihrem Antiintellektualismus Hochbegabte gezielt diskriminieren. Ausführlich beschreibt sie diverse Förderungsprogramme und hilflose Versuche, Hochbegabten durch das Angebot zum Überspringen einer Klasse gerecht zu werden. Gegen eine seichte Erlebnispädagogik, die alle Kinder unterfordert, klagt sie eine Anhebung des Leistungsniveaus ein. Schüler müßten gefordert werden, um über sich hinauswachsen zu können. Von Schülern, denen der Erfolg verwehrt bleibt, spricht sie freilich nicht.

Winner denkt sehr amerikanisch. Sie will Das "survival of the fittest" und deren "happiness" befördern. Wie kann man kindlich Hochbegabten dabei helfen, schöpferische, leistungsstarke und glückliche Erwachsene zu werden? Auf ihre zentrale Frage gibt Winner eine widersprüchliche Antwort. Sie betont den Vorrang der Familie vor der Schule und appelliert an die Hilfsbereitschaft verständnisvoller Eltern. Im Schlußteil des Buches erzählt sie jedoch eine ganz andere Geschichte. Erfolgreicher und kreativer als Termans Wunderkinder waren Menschen, die früh traumatischen Streß wie den Tod eines Elternteils, Scheidung, Gewalttätigkeit oder Alkoholismus erlitten hatten. In den Katastrophen ihrer Kindheit erarbeiteten sie sich die Stärke, Arbeitswut und Rücksichtslosigkeit, die man zur Durchsetzung braucht. Nicht die behütende Fürsorge liebevoller Eltern, sondern seelische Grausamkeit und Liebesentzug waren die Voraussetzungen ihrer gesellschaftlichen Erfolge. Je intelligenter, desto verletzlicher; je verletzter, desto erfolgreicher, lauten Winners zwei Botschaften. Selbst den Verletzungen, die hochbegabten Kindern in der Schule zugefügt werden, will die moderne Psychologie noch einen gesellschaftlichen Nutzen abgewinnen. FRIEDRICH WILHELM GRAF

Ellen Winner: "Hochbegabt". Mythen und Realitäten von außergewöhnlichen Kindern. Aus dem Amerikanischen von Maren Klostermann. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 419 S., geb., 78,- DM.

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