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Produktdetails
  • Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Bd.19
  • Verlag: Westfälisches Dampfboot
  • Seitenzahl: 267
  • Deutsch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 444g
  • ISBN-13: 9783896911193
  • ISBN-10: 3896911198
  • Artikelnr.: 09522318
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung

„Eindringlich zur Wahrheit ermahnt”
Wie die Nazis in ihren Hochverratsprozessen mit angeblichen Staatsfeinden umgingen
ISABEL RICHTER: Hochverratsprozesse als Herrschaftspraxis im Nationalsozialismus. Männer und Frauen vor dem Volksgerichtshof 1934–1939, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2001. 268 Seiten, 58 Mark.
Unser Bild vom nationalsozialistischen „Volksgerichtshof” wird weithin bestimmt von den Prozessen gegen die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 oder die Mitglieder der „Weißen Rose”. Vor allem die Aggressivität und der Zynismus des Gerichtspräsidenten Roland Freisler sind zentrale Bestandteile der kollektiven Erinnerung. Weithin vergessen ist hingegen, dass vor dem Zweiten Weltkrieg vor allem Frauen und Männer aus dem linken Widerstand als „Hochverräter” vor dem Volksgerichtshof angeklagt wurden. Die Bochumer Historikerin Isabel Richter hat fünfzig dieser Fälle herausgegriffen und in ihrer Studie systematisch den Verlauf der Strafverfahren von den Anzeigen bis zur Urteilsverkündung untersucht.
Von der Gründung des Volksgerichtshofs 1934 erhofften sich die Nationalsozialisten den Beginn einer „politisch effektiven und maßgeschneiderten Rechtssprechung”. Als fünfköpfiges Richtergremium aus zwei Berufs- und drei so genannten Laienrichtern (die Beteiligung solcher „Laien” entsprang dem tiefsitzenden Misstrauen der Nazis gegenüber Berufsjuristen) sollte der Volksgerichtshof in erster und letzter Instanz zum verantwortlichen Gericht für alle gegen die Regierung gerichteten Umsturzpläne werden. Erst später wurde die sachliche Zuständigkeit erweitert, etwa um Fälle von „Wehrmittelbeschädigung” (1935), „Wirtschaftssabotage” (1936) oder im Zweiten Weltkrieg schließlich um Fälle vermeintlicher „Wehrkraftzersetzung”.
Erpressung und Folter
Von Beginn an wurden zahlreiche Fälle durch private Anzeigen ins Rollen gebracht; für Isabel Richter ein weiterer Beleg dafür, „dass das nationalsozialistische Herrschaftssystem nicht allein auf brutalem Terror, Unterdrückung und Zwang basierte, sondern in beträchtlichem Maße auch von unten getragen wurde”. Im Einzelfall konnte es sich dabei ebenso um „eine politische Denunziation als Demonstration von Systemloyalität” handeln, also um Anzeigen überzeugter NS-Anhänger, wie um radikale Versuche, private Konflikte durch ein Einschreiten der Strafverfolgung für sich zu entscheiden. Wie auch immer motiviert, lieferten solche Hinweise den Ermittlungsbehörden eine erste Spur: „Ein verhältnismäßig hoher Anteil von Hochverratsverfahren ist damit ohne Denunziation aus der Bevölkerung undenkbar.”
Die Polizei sorgte anschließend für erste Ermittlungs-„Ergebnisse”; „in den meisten Fällen waren die brutalen Verhörmethoden der Gestapo während der Schutzhaft ausschlaggebend, um Aussagen zu erpressen, die eine Serie weiterer Verhaftungen möglich machten”. Bei der Durchsicht der Verhörprotokolle stieß die Autorin auf das euphemistische Vokabular der Folter: „nochmals vernommen und eindringlich zur Wahrheit ermahnt”, hieß es dort beispielsweise über die „Befragten”.
In solchen Verhören wie anschließend in den Gerichtsverhandlungen begründeten die Angeklagten ihre Mitgliedschaft beziehungsweise ihre Mitarbeit in den verbotenen linken Organisationen (meist in der KPD) unterschiedlich. So hat Isabel Richter etwa finanzielle Motive beobachtet (beispielsweise gab ein Sozialdemokrat an, als Kurier fungiert zu haben, um mit dem Lohn seine Schulden bezahlen zu können), wie auch eindeutig politische Bekenntnisse. „Ich habe mich an der illegalen Arbeit beteiligt”, erklärte in diesem Sinne eine Angeklagte, „weil ich überzeugt war, dass ich das nach meiner inneren Einstellung müsste.”
Insbesondere bei den angeklagten Frauen hat Isabel Richter ein weiteres Motiv ausgemacht: die „politische Arbeit als Liebesdienst”. Demnach protokollierten die Strafverfolger, dass sich viele der Frauen aus emotionaler Verbundenheit zu einem Mann zu einer oppositionellen Arbeit bereit erklärt hatten.
Die Urteilspraxis der ersten Jahre unterschied sich deutlich von der Phase des späteren Volksgerichtshofspräsidenten Freisler, während der die Prozesse für jeden zweiten Angeklagten mit dem Tod endete. Weniger als zehn Prozent betrug diese Quote in der Vorkriegszeit, Freisprüche blieben indes seltene Ausnahmen. Bei den verhängten Gefängnis- und Zuchthausstrafen, so die Autorin, wurden Frauen wie Männer vom Gericht weithin unterschiedslos behandelt.
Diese Frage nach Gleich- beziehungsweise Ungleichbehandlung nimmt in dieser Studie einen besonderen Rang ein; für die Autorin bildet die Kategorie Geschlecht zugleich den erkenntnistheoretischen Horizont der Analyse. Die Ergebnisse dieser Herangehensweise sind manchmal indes wenig spektakulär; dazu zählt die Feststellung, dass für die Nationalsozialisten „Politik auch im Bereich politischer Gerichtsprozesse eine männliche Domäne bleiben sollte”.
Attraktiver ist der Befund, dass bei aller unterschiedlichen Betrachtung von Männern und Frauen bei Verhören, im Prozess oder in den Begründungen der Gnadengesuche solche Geschlechterpolaritäten in den Urteilen symbolisch aufgehoben wurden: Die „Volksgemeinschaft” erschien als Norm; wer sich außerhalb dieser Norm wiederfand, war ein „Staatsfeind” oder „Verschwörer” – und wurde abgeurteilt. „Das Andere”, so urteilt Isabel Richter, „hat kein Geschlecht.” Wobei sie zu Recht ergänzt: „Gleichbehandlung im Unrecht ist jedoch nicht mit Geschlechterneutralität zu verwechseln.” TILLMANN BENDIKOWSKI
Der Rezensent ist Historiker und Journalist in Bochum.
Wilhelm Leuschner vor dem Volksgerichtshof. Der Gewerkschafter galt den Nazis als „Verräter”.
SZ-Archiv
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit den 50 hier versammelten, systematisch untersuchten Fällen von Hochverratsprozessen, so der Rezensent Tillmann Bendikowski, rufe die Autorin ein weithin vergessenes Kapitel nationalsozialistischer Herrschaftspraxis am Volksgerichtshof in Erinnerung. Bemerkenswert findet Bendikowski die auf der Feststellung einer Vielzahl von privaten Strafanzeigen beruhende Erkenntnis der Autorin, "dass das nationalsozialistische Herrschaftssystem ... in beträchtlichem Maße auch von unten getragen wurde." Der in der Studie besonders fokussierten Frage nach "Gleich- bzw. Ungleichbehandlung" von Männern und Frauen durch das Gericht verdankt der Rezensent so manche unspektakuläre Einsicht, aber auch einen "attraktiven Befund", wie den, "dass bei aller unterschiedlichen Betrachtung von Männern und Frauen bei Verhören, im Prozess oder in den Begründungen der Gnadengesuche solche Geschlechterpolaritäten in den Urteilen symbolisch aufgehoben wurden."

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