Die in diesem Band versammelten Essays Hochzeit des Lichts und Heimkehr nach Tipasa, sind zeitlose Liebeserklärungen an seine Heimat Algerien, Hymnen auf die Sonne, das Licht und den Himmel über dieser einzigartigen Landschaft am Mittelmeer. Nirgends fühlte Camus sich so wohl wie an dem Ort seiner Kindheit, uns so nehmen diese beiden "Impressionen am Rande der Wüste" in seinem umfangreichen Werk eine Ausnahmestellung ein, erkennbar als Ausgangspunkt seines späteren Schaffens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2013Das Ende kam, als endlich alles hätte beginnen können
Verführerisch, gelehrt oder lieber kämpferisch? Iris Radisch, Martin Meyer und Michel Onfray werfen in ihren Büchern sehr unterschiedliche Blicke auf Albert Camus. Rares von ihm selbst gibt es auch.
Die wesentlichen Fakten sind hinlänglich bekannt. Da ist dieser Junge aus einer sehr armen französischen Kolonistenfamilie in Algier, die Mutter Analphabetin, der Vater an der Marne im Großen Krieg getötet. Der Junge, der nicht einmal ein eigenes Bett zum Schlafen hat, erweist sich als begabt, wird deshalb früh gefördert und entkommt so den ärmlichen Verhältnissen, denen er entstammt. Als sein erstes Buch erscheint, ist er erst 23 Jahre alt.
Den Einschränkungen durch die frühe Lungenkrankheit zum Trotz und ungeachtet eines Hangs zu Grübelei und Schwermut behauptet er, die Lebenskunst sei ihm in die Wiege gelegt worden. Bei Frauen hat er von früh an außerordentlichen Erfolg. Aufgewachsen unter der Sonne Nordafrikas und nach eigenen Worten mit einer angeborenen Gleichgültigkeit gesegnet, muss er nach seiner Übersiedlung nach Paris, wo er sich nie wohl fühlen wird, feststellen, dass es nicht nur die Sonne, sondern auch die Geschichte gibt und dass Gewalt und Terror in ihr eine herausragende Rolle spielen. Sein erster Roman, mit dem er nun auch über Algier hinaus bekannt wird, lässt sich als eine Huldigung an die Orte seiner Jugend ebenso wie als Abschied von ihnen lesen.
Der junge Mann wird zur Zeit der deutschen Besatzung ein spätes Mitglied der Résistance, und seine Worte haben nach der Befreiung großes moralisches Gewicht. Zudem schreibt er den großen allegorischen Roman über die deutsche Besatzung, der ein Bestseller wird. Aus seinen bisherigen Erfahrungen mit der Geschichte versucht er ein Fazit zu ziehen und kommt zu dem Schluss, dass zwischen den großen Ideen der Moderne und der Zunahme von Terror und Barbarei ein Zusammenhang besteht. Diese unter dem Titel "Der Mensch in der Revolte" veröffentlichte Erkenntnis ist zum damaligen Zeitpunkt geeignet, den nun nicht mehr ganz jungen Mann in den intellektuellen Zirkeln von Paris weitgehend zu isolieren.
Nach einer Phase der absoluten Arbeitsunfähigkeit gelingt ihm 1956 mit der Erzählung "Der Fall" noch einmal ein großes Werk, und im Jahr darauf erhält er den Nobelpreis für Literatur. Er kauft ein Haus in Lourmarin in der Provence, und auf der Rückfahrt von diesem Haus nach Paris Anfang Januar 1960 prallt das Auto, gesteuert vom Neffen seines Verlegers, bei Villeblevin im Burgund gegen eine Platane. Albert Camus, 46 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, ist sofort tot und wird zwei Tage später auf dem kleinen Friedhof von Lourmarin beigesetzt.
Drei Versuche, diese Geschichte mit der einen oder anderen Gewichtung und auf dem Hintergrund des letzten halben Jahrhunderts zu erzählen, liegen jetzt zum hundertsten Geburtstag von Camus vor. Einer davon gestikuliert heftig, ein zweiter ist gelehrt und gründlich, und der dritte Versuch verführt uns dazu, Albert Camus selbst zu lesen, als einen Heutigen.
Michel Onfrays Buch ist im Original schon im letzten Jahr erschienen. Der bekannte Kämpfer gegen Gott, Freud und die akademische Philosophie kämpft hier unverdrossen weiter. Philosophie muss man leben, nicht lehren, weiß er gleich am Anfang, und als Kronzeuge gilt zunächst Kierkegaard (gegen Hegel). Das Buch ist material- und umfangreich; es erzählt zum Beispiel gar nicht so schöne Geschichten über Camus' ersten und bis ans Lebensende verehrten "Lehrer", Jean Grenier. Es kämpft mit Verve gegen eine Menge Feinde, tote und noch lebende, von Sartre bis Bernard-Henri Lévy, die Camus' Ruhm verdunkeln, und mäandert in alle Richtungen. Vor allem aber gilt, was Onfray selbst in der Einleitung über das Buch eines anderen Autors sagt: "Das Buch verrät mehr über den Autor als über dessen Thema." Und das auf 560 Seiten.
Martin Meyer dagegen hat eine reine Werkbiographie geschrieben, für die die knappe Erzählung von Camus' Leben jeweils zu Beginn eines Kapitels nur den Rahmen schafft. Als "Lesekompass" bezeichnet er sein Buch im Vorwort. Das geschieht mit der Gründlichkeit, die man bei diesem Autor erwarten darf und die man etwa von seinem großen Buch über Ernst Jünger kennt. Für den, der Camus selbst nicht gelesen hat, finden sich hier die ausführlichsten und präzisesten Inhaltsangaben seiner Werke. Allein der "Pest" sind gut dreißig Seiten gewidmet, die in ihrer Genauigkeit nichts zu wünschen übriglassen. Das Kapitel über "Der Mensch in der Revolte" umfasst, der Bedeutung für die damalige Debatte entsprechend, fünfzig Seiten.
Meyer widmet sich akribisch den großen Themenkomplexen dieses Werks, also dem Absurden und der Revolte, dem als dritter Themenkomplex die Liebe folgen sollte. Man befindet sich hier also in einem geistesgeschichtlichen Diskurs, der zuweilen weit ausholt und Umwege nicht scheut, leider auch nicht ermüdende Wiederholungen. Zuweilen erregen apodiktische Formulierungen beim Leser einen gewissen Unwillen, wenn es etwa über Nietzsche heißt: "Sein Werk zerfällt bekanntlich in Diagnose und Therapie." Ist das so? Oder über Marx: "Unbestreitbar ist, dass Marx der Geschichte einen nach Herkunft und Zukunft durchschaubaren Plan unterstellt und Erwartungen weckt, wie der Kampf der Klassen zum Endsieg des Proletariats fortschreitet." Das ist keineswegs "unbestreitbar" und wird in der niemals endenden Marx-Exegese auch vielfach bestritten.
Meyers Werkbiographie enthält gewissermaßen keine groben Fehler. Wie alle, die heute über Camus schreiben, weist er darauf hin, dass dieser à la longue gegenüber seinen Gegnern aus der Redaktion der "Temps Modernes" recht behalten hat, obwohl der "Mensch in der Revolte" ein philosophisch nicht stringentes Buch ist (es ist, obwohl es von der Dialektik der Aufklärung spricht, überhaupt kein philosophisches Buch). Er weist darauf hin, dass Camus von seiner Herkunft nicht nach Saint-Germain-des-Prés gepasst hat, dass er kein "Existenzialist" war (wer war das schon?), dass andererseits sein Konzept des "mittelmeerischen Denkens" verschwommen blieb und vieles mehr. Es ist vielleicht auch kaum möglich, noch etwas wirklich Neues über Camus zu erzählen. Aber warum Meyer überhaupt über Camus schreibt und warum man sich für Camus interessieren soll, das erschließt sich nicht. Diese Biographie ist ein langer, ruhiger Fluss, und als Leser ist man irgendwann froh, wenn er sich schließlich der Mündung nähert.
Iris Radisch dagegen hat eine Biographie voller Empathie geschrieben, ohne je der Versuchung zu erliegen, an einer Heiligenlegende zu stricken. Ihr Blick auf den Autor konzentriert sich zunächst auf den "algerischen" Camus. Beim Untertitel "Das Ideal der Einfachheit" befürchtet man zwar zunächst das Schlimmste, stellt aber bald erleichtert fest, dass Radisch bei Camus zwischen Wunschbild und Realität sehr wohl zu unterscheiden weiß. Auch die Fähigkeit zum Lebensgenuss, die ihm angeblich in die Wiege gelegt worden sei, war eher eine Wunschvorstellung dieses grüblerischen, ja zerquälten Autors, worüber auch die Dandy-Pose auf Dauer nicht hinwegtäuschen konnte. Während Meyer glaubt, Camus habe eine Synthese von Faust und Don Juan angestrebt, von erkenntnistheoretischem wie erotischem Eroberer sozusagen, steht Radisch Camus' Misogynie und seinem zwanghaften Don-Juanismus äußerst kritisch gegenüber, und das ist nachvollziehbar.
Das Gerüst für ihre Biographie liefern jene zehn Lieblingswörter, die Camus 1951 in seinem Tagebuch notiert hatte: die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer. In veränderter Reihenfolge dient ihr jedes dieser Wörter als Überschrift eines Kapitels. Das ist nicht ohne Risiko, weil es zu schematischen Zuordnungen führen kann, aber Iris Radisch meistert dieses Risiko mit Bravour.
Und sie hat manches Neue zu berichten. Dazu gehört, dass das berühmte "mittelmeerische Denken" keineswegs eine Erfindung von Albert Camus war, auch wenn es bei ihm in den frühen Essays "Hochzeit des Lichts", die Rowohlt jetzt, mit einem schönen Nachwort von Mirko Bonné versehen, noch einmal aufgelegt hat, einen literarisch beeindruckenden Niederschlag gefunden hat. Die "mediterrane Ideologie", wie Radisch sie nennt, kursierte in Algier vielmehr schon in den zwanziger Jahren in verschiedenen Zeitschriften, die "Sud", "Rivages" oder "Jeune Méditerranée" hießen. Im Jahr 1932 wurde diese Ideologie zum kulturpolitischen Instrument, als die französische Regierung in Nizza ein "Mittelmeerzentrum" gründete und seine Leitung einem sehr prominenten Namen anvertraute: Paul Valéry. Ziel solcher Kulturpolitik war "die Neutralisierung Deutschlands durch ein mediterranes Bündnis zwischen dem faschistischen Italien und Frankreich". Nicht ohne leisen Spott erzählt Radisch von Valérys Besuch bei Mussolini 1933, wo er sich nach dem Befinden des inhaftierten Antonio Gramsci erkundigt und dann zusammen mit dem italienischen Diktator eine pompöse Ausstellung zum Ruhm des italienischen Faschismus besucht.
Die Biographie beleuchtet Camus' Leben in Paris während der deutschen Besatzung und zeigt auf, dass er erst spät wirklich zur Résistance stößt. In diesem Zusammenhang erfährt die Rolle des Freundes schon aus algerischen Zeiten, Pascal Pia, eine ausführliche und sehr berührende Würdigung. Die Biographin weist auch darauf hin, dass Camus nach dem Krieg einer der ersten entschiedenen Europäer war und zugleich Angst vor einem "deutschen Europa" hatte: Da sind wir mitten in der Jetztzeit angekommen. Dasselbe gilt für Camus' frühe Kritik der Wachstumsideologie.
Radischs Biographie, damit kein falscher Eindruck entsteht, ist nicht nur Lebenserzählung, sondern auch Werkbiographie. Sie ist zwar in ihren Nacherzählungen weniger ausführlich als Meyer, dafür aber in ihrem ästhetischen Urteil oft dezidierter. Sie weist zum Beispiel auf die Fallhöhe hin zwischen der stilistischen Kargheit von Camus' erstem Roman und dem Pathos, das viele der Artikel im "Combat" nach der Befreiung kennzeichnet, spricht an einer Stelle sogar von "dem drückenden Pomp, der sein Schreiben so oft beschwerte und seine Stimme verstellte". Als eigentliches Meisterwerk gilt ihr das postum veröffentlichte Romanfragment "Der erste Mensch", denn dies sei "ein einfaches Zeugnis, ein Lebensbericht ohne Überhöhung, ohne jeden Manierismus, nicht einmal den der Reduktion". In diesem Fragment sieht sie den Autor dem Ziel seines Ideals der Einfachheit nah. "Er stirbt buchstäblich in dem Augenblick, in dem alles beginnen könnte." Das Buch endet mit dem Bericht von einem Besuch in Lourmarin bei Camus' Tochter Catherine und in der Pariser Rue Madame bei seinem Sohn Jean. Wer wissen will, warum er sich auch heute noch oder zum ersten Mal mit Camus beschäftigen soll und worin dessen Aktualität besteht, der sollte diese Biographie lesen. Und natürlich Camus selbst.
JOCHEN SCHIMMANG.
Michel Onfray: "Im Namen der Freiheit". Leben und Philosophie des Albert Camus.
Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Knaus Verlag, München 2013. 224 S., geb., 29,99 [Euro].
Martin Meyer: "Albert Camus". Die Freiheit leben.
Carl Hanser Verlag, München 2013. 367 S., geb., 24,90 [Euro].
Iris Radisch: "Albert Camus - Das Ideal der Einfachheit". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 349 S., geb., 19,95 [Euro].
Albert Camus: "Hochzeit des Lichts".
Aus dem Französischen von Peter Gan und Monique Lang. Mit einem Nachwort von Mirko Bonné. Arche Literaturverlag, Hamburg 2013. 192 S., geb., 18,- [Euro].
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Verführerisch, gelehrt oder lieber kämpferisch? Iris Radisch, Martin Meyer und Michel Onfray werfen in ihren Büchern sehr unterschiedliche Blicke auf Albert Camus. Rares von ihm selbst gibt es auch.
Die wesentlichen Fakten sind hinlänglich bekannt. Da ist dieser Junge aus einer sehr armen französischen Kolonistenfamilie in Algier, die Mutter Analphabetin, der Vater an der Marne im Großen Krieg getötet. Der Junge, der nicht einmal ein eigenes Bett zum Schlafen hat, erweist sich als begabt, wird deshalb früh gefördert und entkommt so den ärmlichen Verhältnissen, denen er entstammt. Als sein erstes Buch erscheint, ist er erst 23 Jahre alt.
Den Einschränkungen durch die frühe Lungenkrankheit zum Trotz und ungeachtet eines Hangs zu Grübelei und Schwermut behauptet er, die Lebenskunst sei ihm in die Wiege gelegt worden. Bei Frauen hat er von früh an außerordentlichen Erfolg. Aufgewachsen unter der Sonne Nordafrikas und nach eigenen Worten mit einer angeborenen Gleichgültigkeit gesegnet, muss er nach seiner Übersiedlung nach Paris, wo er sich nie wohl fühlen wird, feststellen, dass es nicht nur die Sonne, sondern auch die Geschichte gibt und dass Gewalt und Terror in ihr eine herausragende Rolle spielen. Sein erster Roman, mit dem er nun auch über Algier hinaus bekannt wird, lässt sich als eine Huldigung an die Orte seiner Jugend ebenso wie als Abschied von ihnen lesen.
Der junge Mann wird zur Zeit der deutschen Besatzung ein spätes Mitglied der Résistance, und seine Worte haben nach der Befreiung großes moralisches Gewicht. Zudem schreibt er den großen allegorischen Roman über die deutsche Besatzung, der ein Bestseller wird. Aus seinen bisherigen Erfahrungen mit der Geschichte versucht er ein Fazit zu ziehen und kommt zu dem Schluss, dass zwischen den großen Ideen der Moderne und der Zunahme von Terror und Barbarei ein Zusammenhang besteht. Diese unter dem Titel "Der Mensch in der Revolte" veröffentlichte Erkenntnis ist zum damaligen Zeitpunkt geeignet, den nun nicht mehr ganz jungen Mann in den intellektuellen Zirkeln von Paris weitgehend zu isolieren.
Nach einer Phase der absoluten Arbeitsunfähigkeit gelingt ihm 1956 mit der Erzählung "Der Fall" noch einmal ein großes Werk, und im Jahr darauf erhält er den Nobelpreis für Literatur. Er kauft ein Haus in Lourmarin in der Provence, und auf der Rückfahrt von diesem Haus nach Paris Anfang Januar 1960 prallt das Auto, gesteuert vom Neffen seines Verlegers, bei Villeblevin im Burgund gegen eine Platane. Albert Camus, 46 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, ist sofort tot und wird zwei Tage später auf dem kleinen Friedhof von Lourmarin beigesetzt.
Drei Versuche, diese Geschichte mit der einen oder anderen Gewichtung und auf dem Hintergrund des letzten halben Jahrhunderts zu erzählen, liegen jetzt zum hundertsten Geburtstag von Camus vor. Einer davon gestikuliert heftig, ein zweiter ist gelehrt und gründlich, und der dritte Versuch verführt uns dazu, Albert Camus selbst zu lesen, als einen Heutigen.
Michel Onfrays Buch ist im Original schon im letzten Jahr erschienen. Der bekannte Kämpfer gegen Gott, Freud und die akademische Philosophie kämpft hier unverdrossen weiter. Philosophie muss man leben, nicht lehren, weiß er gleich am Anfang, und als Kronzeuge gilt zunächst Kierkegaard (gegen Hegel). Das Buch ist material- und umfangreich; es erzählt zum Beispiel gar nicht so schöne Geschichten über Camus' ersten und bis ans Lebensende verehrten "Lehrer", Jean Grenier. Es kämpft mit Verve gegen eine Menge Feinde, tote und noch lebende, von Sartre bis Bernard-Henri Lévy, die Camus' Ruhm verdunkeln, und mäandert in alle Richtungen. Vor allem aber gilt, was Onfray selbst in der Einleitung über das Buch eines anderen Autors sagt: "Das Buch verrät mehr über den Autor als über dessen Thema." Und das auf 560 Seiten.
Martin Meyer dagegen hat eine reine Werkbiographie geschrieben, für die die knappe Erzählung von Camus' Leben jeweils zu Beginn eines Kapitels nur den Rahmen schafft. Als "Lesekompass" bezeichnet er sein Buch im Vorwort. Das geschieht mit der Gründlichkeit, die man bei diesem Autor erwarten darf und die man etwa von seinem großen Buch über Ernst Jünger kennt. Für den, der Camus selbst nicht gelesen hat, finden sich hier die ausführlichsten und präzisesten Inhaltsangaben seiner Werke. Allein der "Pest" sind gut dreißig Seiten gewidmet, die in ihrer Genauigkeit nichts zu wünschen übriglassen. Das Kapitel über "Der Mensch in der Revolte" umfasst, der Bedeutung für die damalige Debatte entsprechend, fünfzig Seiten.
Meyer widmet sich akribisch den großen Themenkomplexen dieses Werks, also dem Absurden und der Revolte, dem als dritter Themenkomplex die Liebe folgen sollte. Man befindet sich hier also in einem geistesgeschichtlichen Diskurs, der zuweilen weit ausholt und Umwege nicht scheut, leider auch nicht ermüdende Wiederholungen. Zuweilen erregen apodiktische Formulierungen beim Leser einen gewissen Unwillen, wenn es etwa über Nietzsche heißt: "Sein Werk zerfällt bekanntlich in Diagnose und Therapie." Ist das so? Oder über Marx: "Unbestreitbar ist, dass Marx der Geschichte einen nach Herkunft und Zukunft durchschaubaren Plan unterstellt und Erwartungen weckt, wie der Kampf der Klassen zum Endsieg des Proletariats fortschreitet." Das ist keineswegs "unbestreitbar" und wird in der niemals endenden Marx-Exegese auch vielfach bestritten.
Meyers Werkbiographie enthält gewissermaßen keine groben Fehler. Wie alle, die heute über Camus schreiben, weist er darauf hin, dass dieser à la longue gegenüber seinen Gegnern aus der Redaktion der "Temps Modernes" recht behalten hat, obwohl der "Mensch in der Revolte" ein philosophisch nicht stringentes Buch ist (es ist, obwohl es von der Dialektik der Aufklärung spricht, überhaupt kein philosophisches Buch). Er weist darauf hin, dass Camus von seiner Herkunft nicht nach Saint-Germain-des-Prés gepasst hat, dass er kein "Existenzialist" war (wer war das schon?), dass andererseits sein Konzept des "mittelmeerischen Denkens" verschwommen blieb und vieles mehr. Es ist vielleicht auch kaum möglich, noch etwas wirklich Neues über Camus zu erzählen. Aber warum Meyer überhaupt über Camus schreibt und warum man sich für Camus interessieren soll, das erschließt sich nicht. Diese Biographie ist ein langer, ruhiger Fluss, und als Leser ist man irgendwann froh, wenn er sich schließlich der Mündung nähert.
Iris Radisch dagegen hat eine Biographie voller Empathie geschrieben, ohne je der Versuchung zu erliegen, an einer Heiligenlegende zu stricken. Ihr Blick auf den Autor konzentriert sich zunächst auf den "algerischen" Camus. Beim Untertitel "Das Ideal der Einfachheit" befürchtet man zwar zunächst das Schlimmste, stellt aber bald erleichtert fest, dass Radisch bei Camus zwischen Wunschbild und Realität sehr wohl zu unterscheiden weiß. Auch die Fähigkeit zum Lebensgenuss, die ihm angeblich in die Wiege gelegt worden sei, war eher eine Wunschvorstellung dieses grüblerischen, ja zerquälten Autors, worüber auch die Dandy-Pose auf Dauer nicht hinwegtäuschen konnte. Während Meyer glaubt, Camus habe eine Synthese von Faust und Don Juan angestrebt, von erkenntnistheoretischem wie erotischem Eroberer sozusagen, steht Radisch Camus' Misogynie und seinem zwanghaften Don-Juanismus äußerst kritisch gegenüber, und das ist nachvollziehbar.
Das Gerüst für ihre Biographie liefern jene zehn Lieblingswörter, die Camus 1951 in seinem Tagebuch notiert hatte: die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer. In veränderter Reihenfolge dient ihr jedes dieser Wörter als Überschrift eines Kapitels. Das ist nicht ohne Risiko, weil es zu schematischen Zuordnungen führen kann, aber Iris Radisch meistert dieses Risiko mit Bravour.
Und sie hat manches Neue zu berichten. Dazu gehört, dass das berühmte "mittelmeerische Denken" keineswegs eine Erfindung von Albert Camus war, auch wenn es bei ihm in den frühen Essays "Hochzeit des Lichts", die Rowohlt jetzt, mit einem schönen Nachwort von Mirko Bonné versehen, noch einmal aufgelegt hat, einen literarisch beeindruckenden Niederschlag gefunden hat. Die "mediterrane Ideologie", wie Radisch sie nennt, kursierte in Algier vielmehr schon in den zwanziger Jahren in verschiedenen Zeitschriften, die "Sud", "Rivages" oder "Jeune Méditerranée" hießen. Im Jahr 1932 wurde diese Ideologie zum kulturpolitischen Instrument, als die französische Regierung in Nizza ein "Mittelmeerzentrum" gründete und seine Leitung einem sehr prominenten Namen anvertraute: Paul Valéry. Ziel solcher Kulturpolitik war "die Neutralisierung Deutschlands durch ein mediterranes Bündnis zwischen dem faschistischen Italien und Frankreich". Nicht ohne leisen Spott erzählt Radisch von Valérys Besuch bei Mussolini 1933, wo er sich nach dem Befinden des inhaftierten Antonio Gramsci erkundigt und dann zusammen mit dem italienischen Diktator eine pompöse Ausstellung zum Ruhm des italienischen Faschismus besucht.
Die Biographie beleuchtet Camus' Leben in Paris während der deutschen Besatzung und zeigt auf, dass er erst spät wirklich zur Résistance stößt. In diesem Zusammenhang erfährt die Rolle des Freundes schon aus algerischen Zeiten, Pascal Pia, eine ausführliche und sehr berührende Würdigung. Die Biographin weist auch darauf hin, dass Camus nach dem Krieg einer der ersten entschiedenen Europäer war und zugleich Angst vor einem "deutschen Europa" hatte: Da sind wir mitten in der Jetztzeit angekommen. Dasselbe gilt für Camus' frühe Kritik der Wachstumsideologie.
Radischs Biographie, damit kein falscher Eindruck entsteht, ist nicht nur Lebenserzählung, sondern auch Werkbiographie. Sie ist zwar in ihren Nacherzählungen weniger ausführlich als Meyer, dafür aber in ihrem ästhetischen Urteil oft dezidierter. Sie weist zum Beispiel auf die Fallhöhe hin zwischen der stilistischen Kargheit von Camus' erstem Roman und dem Pathos, das viele der Artikel im "Combat" nach der Befreiung kennzeichnet, spricht an einer Stelle sogar von "dem drückenden Pomp, der sein Schreiben so oft beschwerte und seine Stimme verstellte". Als eigentliches Meisterwerk gilt ihr das postum veröffentlichte Romanfragment "Der erste Mensch", denn dies sei "ein einfaches Zeugnis, ein Lebensbericht ohne Überhöhung, ohne jeden Manierismus, nicht einmal den der Reduktion". In diesem Fragment sieht sie den Autor dem Ziel seines Ideals der Einfachheit nah. "Er stirbt buchstäblich in dem Augenblick, in dem alles beginnen könnte." Das Buch endet mit dem Bericht von einem Besuch in Lourmarin bei Camus' Tochter Catherine und in der Pariser Rue Madame bei seinem Sohn Jean. Wer wissen will, warum er sich auch heute noch oder zum ersten Mal mit Camus beschäftigen soll und worin dessen Aktualität besteht, der sollte diese Biographie lesen. Und natürlich Camus selbst.
JOCHEN SCHIMMANG.
Michel Onfray: "Im Namen der Freiheit". Leben und Philosophie des Albert Camus.
Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Knaus Verlag, München 2013. 224 S., geb., 29,99 [Euro].
Martin Meyer: "Albert Camus". Die Freiheit leben.
Carl Hanser Verlag, München 2013. 367 S., geb., 24,90 [Euro].
Iris Radisch: "Albert Camus - Das Ideal der Einfachheit". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 349 S., geb., 19,95 [Euro].
Albert Camus: "Hochzeit des Lichts".
Aus dem Französischen von Peter Gan und Monique Lang. Mit einem Nachwort von Mirko Bonné. Arche Literaturverlag, Hamburg 2013. 192 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main